Stephen King – Kein Zurück
Roman, Hardcover, Heyne Verlag, München, Juni 2025, 640 Seiten, 28 Euro, ISBN: 9783453274341. Ebenfalls als E-Book (21,99 Euro) sowie als ungekürztes Hörbuch als Download (27,95 Euro) oder auf 3 CDs (mp3, 28 Euro) erhältlich. Übersetzt aus dem Amerikanischen von Dr. Bernhard Kleinschmidt
Es sind Aufgaben, die sie nicht so richtig reizen, aber die ein wenig Geld einbringen: Die Privatermittlerin Holly Gibney hat sich mit ihrem Detektivbüro namens Finders Keepers vor einer Weile selbstständig gemacht, jagt hier und da einmal Kautionsflüchtigen nach und findet Verlorenes wieder auf. Dabei hilft ihr als Mensch mit einer Autismus-Spektrums-Störung ein scharfer und logischer Verstand, der oft Verbindungen herstellt, wo andere sie nicht erkennen können. Deshalb – und weil sie in der Vergangenheit diese Fähigkeiten bereits mehrmals unter Beweis gestellt hat – greift man auch bei der Polizei von Buckeye City ab und zu auf sie zurück: inoffiziell beratend, sozusagen.
Als ein anonymes Schreiben bei der Polizei eingeht, in dem ein Unbekannter androht, »13 Unschuldige und einen Schuldigen« zu ermorden, tritt die mit ihr befreundete Polizistin Izzy Jaynes an Holly heran, nachdem eine erste Leiche gefunden wird – in der Hand den Namen einer Geschworenen. Die hatte in einem Prozess dafür gesorgt, dass ein Unschuldiger in den Knast kam, nachdem ihm ein Kollege aus Karriereneid Hinweise für Pädophilie untergeschoben hatte. Der Unschuldige wurde im Knast ermordet und der mittlerweile todkranke Kollege, der ihn anschwärzte, ist inzwischen geständig, die Beweise gefälscht zu haben. Somit haben die Geschworenen seinerzeit aufgrund falscher Beweise einen Unschuldigen verurteilt. Die Mörderin oder der Mörder nimmt nun – unter dem Tarnnamen eines Gründers der Anonymen Alkoholiker – seinerseits offenbar Rache für den getöteten Unschuldigen, indem sie oder er Stellvertreter-Morde vornimmt: Unschuldige sollen statt der schuldigen Geschworenen sterben.
Die Hinweise sind dürftig, aber Holly stürzt sich dankbar auf die Aufgabe und denkt in jeder freien Minute über den Fall nach. Viel Zeit hat sie allerdings nicht, während das Morden weitergeht: Man hat sie als Personenschützerin für die Feministin Kate McKay engagiert, die sich bei Vorträgen im ganzen Land für das Recht auf Abtreibung einsetzt – stets verfolgt von fundamentalistischen Christen und Abtreibungsgegnern. Als diese mehrere Anschlagsversuche auf McKay unternehmen, bei der, unter anderem, auch ihre Assistentin Corrie verletzt wird, sieht die sehr von sich überzeugte Aktivistin ein, dass jemand auf das Team aufpassen muss – am besten eine Frau wie Holly Gibney. Die Lage spitzt sich zu, als der Auftritt in Buckeye City ansteht: Fast zeitgleich gibt die Soul-Legende Sista Bessie ihr Comeback-Konzert in der Stadt (bei dem auch Hollys junge Freundin Barbara Robinson auf der Bühne steht: eines ihrer Gedichte wird von der Diva als neuer Song präsentiert) und außerdem messen sich Polizei und Feuerwehr bei einem Softball-Match.
Eskalation auf allen Ebenen – auch politisch
Das ist – tatsächlich nur einigermaßen grob umrissen – die Ausgangslage, in die Stephen King seine innig geliebte Figur Holly Gibney in seinem neuen Roman Kein Zurück hineinmanövriert. Dabei setzt er dieses Mal einfach voraus, dass seine Leser die Frau inzwischen aus der Bill Hodges-Trilogie, den Romanen Der Outsider und Holly sowie einer Novelle aus der Sammlung Blutige Nachrichten, kennen sollten. Gleiches gilt für wiederkehrende Nebenfiguren wie Jerome und Barbara Robinson. Dass der Roman eigentlich auch funktioniert, wenn man diese Romane nicht gelesen hat, spricht jetzt nicht unbedingt dafür, dass sie so einzigartig und kaum austauschbar wären, wie King sich das vielleicht vorstellt. Sei´s drum – die King-Kenner sind ohnehin im Bilde, für Gelegenheitsleser sind die wenigen Sätze mit Querverweisen so lapidar platziert, dass sie nicht im Gedächtnis haften bleiben.
Kein Zurück hält sich also nicht mit übermäßiger Figurenarbeit der Protagonisten auf – ungewöhnlich für King, der abseits von Serienromanen, wie der vorliegende einer ist, gerade dafür eigentlich berühmt ist. Diese Handlungszeit widmet King den neuen Nebenfiguren: der Soul-Diva, der Feministin – und zwei weiteren Figuren, die für das Böse und das Chaos in dem Roman verantwortlich sind. Aber, auch das muss man feststellen: Selbst bei den Antagonisten gelingt es dem Autor in Kein Zurück nicht so richtig, deren Seelenleben über das Ausreichende hinaus auszubauen. Sicher, es wird klar, aus welchen Motiven sie handeln. Aber diese werden eher schlaglichtartig hervorgehoben, als ausgeleuchtet zu werden – ein wenig auffällig wirkt das schon, fast nachlässig.
Stattdessen setzt King auf die Masse der Eskalation: Die Bedrohungslagen für jede handelnde Person werden ständig verschärft. Das gilt nicht nur für die als eigensinnig gezeichnete Feministin McKay, die sich in ihrem gerechten Furor für unverwundbar hält, oder eben die Unschuldigen, die getötet werden, sondern auch für die Antagonisten, denen Holly immer mehr auf die Pelle rückt und die sich – entweder aus inneren Zwängen oder aufgrund äußerer Umstände – zum Handeln gezwungen fühlen. Um näher darauf eingehen zu können, lassen sich in der Folge einige Elemente des Romans, die überraschen könnten, leider in der Besprechung nicht auslassen, deswegen folgt hier eine ausdrückliche SPOILER-WARNUNG!
Tell, don’t show und andere stilistische Schwächen
Kings Agenda, dem amerikanischen Volk in seinem jetzigen Zustand aufs Maul zu schauen, geht auch in Kein Zurück weiter – allerdings geschickter, als es zuletzt bei Holly negativ auffiel, als die dort erwähnte Corona-Pandemie eher als unnötige Kulisse diente. Erneut wendet sich King gegen fundamentalistisches Christentum, hier in Form von militanten Abtreibungsgegnern, deren handelnden Arm er mit einer Marionettenfigur in ihrem seelischen Leiden doppelt bestraft – als Mensch mit unterschiedlichen Persönlichkeiten beiderlei Geschlechter. Auf der anderen Seite der Stellvertreter-Mörder, der als Ex-Alki einem seltsamen Wertegerüst folgt, das in einem fehleranfälligen Rechtssystem mit Geschworenen zu Situationen führen kann, in denen Vorteilnahme über das Leben potenziell Unschuldiger entscheidet. Wohlwollendes Kopfnicken dazu aus den demokratischen und linksliberalen Lagern dieser Welt.
Doppelte Bedrohung = doppelte Spannung? Leider nein, denn King verfällt hier in seltsame Manierismen, die ihm sonst abgehen. Zum einen wird in Kein Zurück unglaublich viel in Nachrichten und Telefongesprächen transportiert, weil die Figuren selten persönlich zusammenkommen. Der Grundsatz Show, dont tell wird hier ins Gegenteil verkehrt und man merkt dem Roman deutlich an, warum es diese Regel überhaupt gibt. Zum anderen betreibt King hier mehrmals am Ende von einigen Kapiteln ein völlig unnötiges Foreshadowing à la »Das wird sich noch als Fehler erweisen« oder Ähnliches. Als ob King-Leser das nicht von sich aus ahnen. Und selbst wenn nicht, dadurch gewinnt die Geschichte keinerlei zusätzliche Spannung, die nicht ohnehin schon vorhanden wäre.
Zugegeben: Die letzten 150 Seiten mit dem großen Finale sind dann wiederum oberflächlich ganz gut gelungen – räumlich konzentriert, Zeitdruck auf allen Seiten, viele Figuren mit ungewissem Ausgang. Große Überraschungen bleiben aus, auch die empfundene Bedrohung, dass es jemandem tatsächlich an den Kragen gehen könnte. Wird King altersmilde – oder war er am Ende nur froh, die ganze, mitunter etwas zerfaserte Geschichte irgendwie abschließen zu können? So richtig befriedigend ist das nach 640 Seiten nicht. Vor allem, weil das in Holly besser funktionierte, nicht nur aufgrund originellerer Gegenspieler.
»Das kannst du besser!«
Was soll man am Ende zu einem Roman sagen, zu dem Stephen King im Nachwort selbst anmerkt, dass er »schwer zu schreiben« war und er gerade einmal »zufrieden genug« damit ist – und bei dem selbst seine Frau Tabitha nach der Lektüre des ersten Entwurfs kritisch anmerkte: »Das kannst du besser.« Was soll man sagen, außer: Es stimmt. Kein Zurück ist bestenfalls ein mittelmäßiger King-Roman, nicht ganz so dramatisch schwierig wie Duddits – Dreamcatcher oder Tommyknockers, aber auch nicht allzu weit davon entfernt. Dazu wäre es auch kein sonderlich gelungener Thriller (übrigens komplett ohne übersinnliche oder auch nur Mystery-Elemente), wenn er nicht von King stammte. Der Plot wirkt mitunter unkonzentriert, die stilistische Ausarbeitung gehemmt ohne Lust zur Provokation oder Innovation. Ein Pluspunkt ist die sinnvolle Integration des gesellschaftspolitischen Kommentars zu Themen wie dem amerikanischen Rechtssystem, Ultra-Christen-Wahn und der Debatte über Frauenrechte als integraler Handlungsbestandteil und nicht als übergestülpte Äußerung, die zur Geschichte wenig beiträgt.
Fazit:
Von allen bisherigen Holly Gibney-Geschichten ist Stephen Kings neuer Roman Kein Zurück leider die bislang schwächste Episode. Trotz der Verbindung zu gesellschaftlich relevanten Grundthemen funktionieren die Antagonisten nicht so richtig, die Entwicklung der Serien-Figuren selbst stagniert und es mangelt, bis auf das Finale, eklatant an spannenden Momenten – und an solchen, in denen man sowohl auf der guten wie auf der bösen Seite mit den Charakteren mitfiebern kann. Kings aufrichtige Selbsteinschätzung zu dem Roman gibt ihm im Nachwort eigentlich nur noch den Rest. Das ist zwar ehrlich – aber am Ende des Tages trotzdem mehr oder weniger enttäuschend.
(sv)

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