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Stephen King – Holly

Stephen King
Holly

Thriller, Hardcover, Heyne Verlag, München, September 2023, 640 Seiten, 28 EUR, ISBN: 9783453274334. Ebenfalls als E-Book (19,99 Euro) sowie als ungekürztes Hörbuch als Download (29,95 EUR) oder auf 3 CDs (mp3, 28,00 EUR) erhältlich. Übersetzt aus dem Amerikanischen von Bernhard Kleinschmidt

Im Sommer 2021 gibt es nur ein Thema, das die Welt beschäftigt: Die Corona-Pandemie hat sich über den Globus ausgebreitet, Schutzmaßnahmen und Diskussionen über die Impfungen dominieren den Alltag. Es ist keine einfache Zeit für Holly Gibney, die Privatermittlerin des Detektivbüros Finders Keepers. Vor einer Weile hat sie ihren väterlichen Freund und Mentor Bill Hodges verloren, der das Geschäft zusammen mit ihr aufgebaut hat. Der Fall um den Mercedes-Killer hatte sie einst zusammengebracht und das Leben der schüchternen Frau, die unter der Fuchtel ihrer manipulativen Mutter stand, völlig umgekrempelt.

Doch jetzt – Corona. Und dazu ein Land, das tiefer als vielleicht jemals gespalten ist in diejenigen, die dem Populisten und Ex-Präsidenten Donald Trump anhängen, das Virus als harmlose Grippe herunterspielen und hinter der Impfung eine große Verschwörung sehen, und jenen, die der Wissenschaft und der Rücksichtnahme glauben. Hollys betagte Mutter gehört der ersten Gruppe an, erkrankt schwer – und stirbt, das Virus trotzdem weiter leugnend, an den Folgen der Corona-Infektion. Die Trauerfeier findet online per Video-Konferenz statt, die Detektei liegt brach, und Holly hat vor lauter emotionalem Stress sogar wieder mit dem Rauchen angefangen.

In dieser Situation meldet sich Penny Dahl bei Finders Keepers: Ihre Tochter Bonnie ist unter mysteriösen Umständen auf dem Weg von der Arbeit nach Hause verschwunden, die Polizei sieht sich nicht in der Lage, den Fall aufzuklären. Nur das Fahrrad der Verschwundenen wurde gefunden, unbeschädigt am Rande eines ungenutzten Grundstücks. Holly nimmt die Ermittlungen auf, spricht mit Freunden der jungen Frau, folgt den Hinweisen – nicht wissend, dass sie längst auf der Spur von Serienkillern ist, die seit mehr als einem Jahrzehnt Menschen entführen. Dabei gehen sie so geschickt vor, dass die Vermissten häufig sozial etwas isoliert sind – man also nicht aufwändig nach ihnen suchen wird.

Nach und nach setzt Holly die winzigen und weit gestreuten Puzzleteile zusammen. Dabei kann sie sich ab und an auch wieder auf ihr Team verlassen, das ihr schon bei früheren Fällen unter die Arme gegriffen hat. Aber nicht in dem Maße wie sonst: Corona spielt auch hier eine Rolle, die Geschwister Jerome und Barbara Robinson feilen beide – der eine offen, die andere im Geheimen – an ihren Schriftstellerkarrieren. Und weil die Killer – bereits im ersten Kapitel wird klar, dass es sich bei ihnen um ein Senioren-Pärchen aus dem akademischen Milieu handelt – stets umsichtig vorgegangen sind, werden sie bald auch Holly gefährlich.

Was ist bloß mit Amerika los?

Stephen King hat einen Narren an seiner Figur Holly Gibney gefressen: Die Frau, die in ihrem Verhalten mitunter Anleihen von Autismus-Spektrums-Störungen, insbesondere des Asperger-Syndroms zeigt, ist bereits zum sechsten Mal Teil einer Geschichte des US-Star-Autors, war prominent bereits in den Romanen der Bill Hodges-Trilogie (MR. MERCEDES, FINDERLOHN, MIND CONTROL) und DER OUTSIDER sowie in der Novelle BLUTIGE NACHRICHTEN mit dabei. Mit HOLLY bekommt sie nun ihren eigenen Roman spendiert, in dem sie sich endgültig emanzipiert: Mentor tot, Mutter tot (mit einem unerwarteten Erbe), die Freunde krank oder mit ihren eigenen Leben beschäftigt. Holly muss sich selbst beweisen, dass sie nicht die Enttäuschung ist, die ihre Mutter ihr, und später auch sie selbst sich, immer eingeredet hat.

Auf der anderen Seite: Das Amerika in der Pandemie. Um bei ihren Ermittlungen weiterzukommen, muss Holly sich mit MAGA-Anhängern, Corona-Leugnern und Impfgegnern herumschlagen. Stets ist die allgegenwärtige Krankheit Teil der Gespräche, der Verhaltensweisen. Und noch ein weiteres Aufreger-Thema integriert King in den Roman: die Frage nach dem uramerikanischen Fleischkonsum. Um letzteren Punkt zu erläutern, wird es nötig sein, auf die Motivation des Antagonistenpärchens einzugehen, warum sie Menschen entführen und töten – und auch, wenn dies bereits früh im Roman angedeutet wird, kommt es explizit erst einige hundert Seiten später zur Sprache. Deswegen ist hier eine SPOILER-WARNUNG angebracht.

Denn während Holly – wie immer toll erzählt, mit schillernden Nebenfiguren, einem gemäßigten, aber nie zu lahmen Tempo und mit klugem Nachdenken – sich mit ihren eigenen Dämonen herumschlägt, dabei den Alltag meistert und dem Geheimnis Stück für Stück näher kommt, verpasst King dem Seniorenpaar, das für die Verbrechen verantwortlich ist, eine sehr drastische Motivation: Für sie sind die Menschen, die sie entführen, nichts anderes als Schlachtvieh, deren Bestandteile sich für das Heilen der verschiedensten Altersgebrechen einsetzen lassen. Kannibalismus als Jungbrunnen, Innereien für die Vitalität, Salbe aus menschlichem Fett zur Linderung von Schmerzen der Nerven, Knochen und Muskeln.

Cosy-Horror oder schleichender Thriller?

Die Szenen, in denen die Senioren Rodney und Emily Harris ihre Opfer aushungern, damit sie sich bereitwillig mit roher Rinderleber vollstopfen, muten beinahe so an, als wenn Hänsel und Gretel im Käfig der Hexe gemästet werden, damit sie einen fetten Braten ergeben – sicher kein Zufall, dass hier ebenfalls ein Käfig im Mittelpunkt steht, ebenso die ständigen Versuche des Paars, die Opfer zum Essen der Innerei zu bringen, damit diese selbst später als Menü eine noch bessere Heilwirkung entfalten. Diese Szenen gehören zu den vielleicht ekeligsten, die King in den letzten Jahrzehnten geschrieben hat, insbesondere für Menschen, die mit rohen Innereien und deren Verzehr so ihre Probleme haben – was nicht wenige sein dürften.

Und auch wenn es den Alten nach dem Menschenmahl eine Zeitlang besser geht, lässt King es offen, ob die krude Ernährungsphilosophie, auf die sich das Paar beruft, wirklich wirksam ist, oder nur ein Resultat des Placebo-Effekts. Bis zum erwartbaren, die rund 100 letzten Seiten umfassenden Finale, begleitet der Leser nicht nur Hollys Nachforschungen und die Entwicklung aus Vorgängerromanen bekannter Nebenfiguren, sondern auch kleine, sehr gelungene Miniaturen zu den zahlreichen Opfern, die sich das Paar bereits vor Bonnie geschnappt hat. Über sie und die wenigen Angehörigen zeichnet King ein lebendiges Bild einer Stadt im Mittleren Westen.

Es könnte also alles wunderbar sein mit HOLLY, diesem lesenswerten Roman, der zwar über weite Strecken keine vordergründige Spannung, jedoch eine solide Grundanspannung entwickelt und in Sachen Figurenführung und -entwicklung wieder mal zu den besten Beispielen zählt, wie man solche Geschichten erzählen kann – typisch King. Was allerdings stört, ist die politische Agenda, die sich in den Text gemogelt hat. Eigentlich wäre das auch in Ordnung, bliebe sie subtil – King war schon immer ein politischer Autor, der nicht um mal mehr und mal weniger verhohlene Anspielungen verlegen war. Aber in HOLLY wird in einer Vehemenz immer wieder darauf verwiesen, dass der Autor Trump und seine Fans doof findet sowie Impf- und Corona-Leugnern kein Verständnis entgegenbringt, dass es in dieser penetranten Art dem Text eher schadet, als ein wichtiges Stück Zeitgeschichte treffend zu dokumentieren. Leider sind diese Auslassungen – Ausnahme: der Tod von Holly Mutter – nämlich oft nicht integraler Teil der Erzählung, sondern werden en passant eingestreut, wo sie gar nicht notwendig wären.

Sieht man von diesem unnötigen Störfaktor einmal ab, ist HOLLY jedoch überaus gelungen. Die Antagonisten präsentieren nach außen den amerikanischen Traum von einer cozy High Class-Beziehung: Gebildetes Paar, seit Jahrzehnten glücklich verheiratet, angesehen und integriert. Doch unter der Oberfläche lauern merkwürdige Glaubenssysteme, Rassismus und Egomanie. Die Guten hingegen sind die Underdogs, die stets an sich zweifeln, ob sie gut genug sind: für sich, für andere, für die Gesellschaft und die Welt. Ihren Kämpfen, den inneren als auch den äußeren, folgt man gerne, wenn sie aus der versierten Feder eines Stephen King stammen. Gerne auch wieder mit Holly Gibney.

(sv)