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Mörder und Gespenster – Band 1 – 4. Teil

August Lewald
Mörder und Gespenster
Band 1

Der Werwolf

Kapitel 4

Nach langer Zeit – es mochten einige Stunden vergangen sein – sank Simon, der Werwolf, erschöpft auf einen Steinhaufen. Die fieberhafte Aufregung, die ihn so plötzlich ergriffen hatte, war verflogen und hatte eine Erschöpfung zur Folge. Da lag nun das entsetzliche Gespenst am Weg, doch niemand war da, der sich vor ihm fürchten wollte. Selbst war es so hilfsbedürftig, von Hunger und inneren Schmerzen gefoltert. Er wollte sich an der Menschheit rächen, die ihn verstoßen und mit dem Bannfluch belegt hatte. In diesem Augenblick hätte ihm sein ärgster Feind entgegenkommen können, ohne dass er ihm etwas zugefügt hätte. Anstelle von Hass gegenüber anderen fühlte er Mitleid und Bedauern mit sich selbst. Stille Wehmut war in sein Herz getreten und stumme Tränen in seine Augen.

Er gedachte wieder seiner Liebe. Ein seliges Gefühl glimmte unter der fürchterlichen Hülle, die ihn umkleidete, auf. Das Bild der schönen, mitleidigen Frau schwebte vor ihm. Er dachte, wie glücklich er sein könnte, wenn die Menschen ihn in ihre Gemeinschaft aufgenommen hätten und er eine solche Frau sein Eigen nennen könnte. Dann trat ihm die freche, übermütige Figur des Metzgers vor Augen, der ihn oft schon gekränkt hatte und es so wenig verdiente, ein schönes und gutes Weib zu besitzen. Seltsame Gedanken, wie er sie noch nie gedacht hatte, kamen ihm in den Sinn, während er auf dem Steinhaufen am Wegesrand stand.

»Und was wäre es weiter, wenn ich mir ein Glück erränge, mit Gewalt nähme, was sie mir rauben wollen? Wer berechtigt sie dazu? Was habe ich an ihnen verbrochen, dass sie mich wie ein unreines, böses Tier aus ihrer Gemeinschaft ausstoßen? Kümmern mich ihre Gesetze? Genieße ich nicht ihre Wohltaten, warum soll ich mich ihnen beugen? Was kümmern mich die Gebote des Himmels? Wenn mir von ihm ein besonderes Los geworfen wurde, warum sollte ich mich dann danach richten, was den anderen auferlegt ist? Nur ich selbst kann meine Lage verbessern. War ich bis jetzt beklagenswert, so lag es an meiner Ängstlichkeit, die durch die Geschichten und Lehren, die ich von meiner Mutter gehört habe, erzeugt wurde. Warum erzählte sie mir all das? Warum vererbte sie mir nicht vielmehr jene Zauberkräfte, die unseren Vorfahren Genugtuung, Rache und Furcht einflößenden Ruf verschafften?«

Dies waren ungefähr seine Gedanken. Bis hierher war er gekommen, als ein fernes Geräusch seine Aufmerksamkeit in eine andere Richtung lenkte.

Fliehende Wolken warfen bald Schatten, bald blaue Streiflichter über das Feld. Der Steinhaufen mit dem Werwolf bildete eine einzige dunkle Masse, aus der die großen Pferdezähne wie ein glänzender Streifen hervortraten. Die Erscheinung hatte etwas Furcht erregend Bewältigendes, während sie regungslos dasaß und mit gespanntester Aufmerksamkeit den näher kommenden Geräuschen entgegenhorchte. Nun war deutlich Wagengerassel zu hören.

Simons Herz schlug hörbar. Ein entscheidender Augenblick nahte. Er wusste nicht, ob er ihm standhalten oder ihm entfliehen sollte. Scheu blickte er sich um, um die Gegend zu erkennen, in der er sich befand. Er war die vielen Stunden im Kreis herumgelaufen und befand sich auf wohlbekanntem Boden. Es war nicht so dunkel, dass er den Kirchturm seines Dörfchens in einiger Entfernung nicht erkennen konnte. Keine große Straße führte hier vorbei, das wusste er. Der Wagen musste daher einem Einwohner seines Dorfes gehören. Wer konnte es sein? Er stand so fern aller Berührung mit seinen Nachbarn, dass er von ihren Geschäften und Handlungen nichts erfuhr und somit auch nicht wusste, wen sein Weg bei so später Nachtzeit hier vorbeiführte.

Nachdem er den Turm erkannt hatte, blickte er schärfer um sich und sah, dass er in einem alten Steinbruch saß, der im Volksmund Hexentanz genannt wurde. Eine unheimliche Stelle, über die schauerliche Sagen im Umlauf sind. Das alte Kreuz am Weg deutete auf die Stelle, an der man den Bettler mit zerschelltem Hirn gefunden hatte. Die Leute berichteten, dass die Hexen ihn im wilden Wirbel mitgerissen und ihn dann, vom Schwindel ergriffen, auf die spitzen Steine hatten fallen lassen. Alles Plötzliche, Unvorhergesehene konnte den Vorüberziehenden an diesem Ort auf den Tod erschrecken. Ein fallender Stein, ein huschendes Tier, ein Windstoß wuchs leicht zur riesenhaften, gespenstischen Erscheinung an einem solchen Ort an. Wie viel mehr musste diese Umgebung dem Schrecken hinzufügen, den der Werwolf verbreitete?

Die nächste Aussicht säumte ein dunkles Gesträuch, das jetzt, im Winter, blätterlos war und die sich nahenden Gegenstände nur halb den Augen entzog. Simon besaß einen scharfen Blick und sah, wie er mit aller Anspannung seiner Sinne nach jener Gegend hinsah, aus der das Geräusch kam, den kleinen einspännigen Karren des Metzgers und dessen runde Gestalt darauf mit der Pelzmütze auf dem Kopf. Der Metzger trieb sein Pferd unter lautem Fluchen einen kleinen Hügel hinan auf holprigem Weg. Es war tatsächlich der Metzger, der nach dem Fastentag noch in der Nacht frisches Fleisch für die Herren ins Kloster brachte, um bei frühem Morgen wieder zurück zu sein, damit er auf dem Markt des nahen Städtchens nicht fehlte.

Mit Blitzesschnelle flogen zwei Gedanken durch Simons Kopf. Der Metzger ist weg, war der eine, und die Frau ist allein. In weniger als einer Viertelstunde konnte er bei ihr sein und sich die Bedeutung ihres Händedrucks erklären lassen. Der andere war, an Ort und Stelle, seinem früheren Vorsatz getreu, Rache an seinem ärgsten Feind zu nehmen. An körperliche Stärke oder Waffen durfte er nicht denken, denn sein Aussehen, sein Name und die Situation, in der er sich befand, machten jede Gegenwehr zunichte und entwaffneten den Stärksten und Mutigsten. Zugleich war es der wütende Hunger, der ihn peinigte und morgen ebenso peinigen wird, ohne dass er ihm abhelfen könnte. Hier bot sich ihm nun eine gute Gelegenheit, sich mit Fleisch zu versorgen. Wenn es ihm diesmal gelang, durfte er hoffen, dass sich die Gelegenheit wiederholen würde. So darf man wohl sagen, dass der Hunger, der mächtigste Tyrann, den Sieg über die Liebe davontrug. Simon schlich nicht zur Metzgerin, sondern blieb und erwartete den Metzger.

Er hatte sich so schnell entschieden, dass der Entschluss bereits gefasst war, als der vom Abhang herabrollende Wagen seinen Steinsitz erreicht hatte. Da erhob er sich mit klagendem Geheul, streckte seine Klaue aus und fiel dem scheuenden Pferd in die Zügel.

»Ich habe Hunger«, heulte er dumpf, »gebt mir zwei Pfund blutiges Fleisch!«

Der entsetzte Metzger ließ die Zügel fahren und schlug bebend ein Kreuz.

»Bist du Simon, der Werwolf?«, stammelte er. »So lass mich ruhig meines Weges ziehen. Ich will dir alles geben, was du wünschst.«

Simon packte nun mit beiden Händen den Karren und beschnüffelte das blutige Fleisch darin, um seine Rolle besser zu spielen. Der Metzger rief zitternd alle Heiligen an und warf ihm das schönste Stück seines Vorrats auf die Straße. Dabei verloren die Klosterherren ihr bestes Tafelstück. Eine gerechte Strafe, denn es war ihre Aufgabe, die Leute ihres Sprengels zu ermutigen und ihnen den Sinn für das Wunderbare zu nehmen. Es ist nicht für den Haufen da. Nur dem gebildeten Geist stehe es frei, in diesem Bereich ernste Forschungen anzustellen. So werden diese ungelösten Rätsel erheben statt zu ängstigen.

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