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Die Geheimnisse Londons – Band 1- Prolog

George W.M. Reynolds
Die Geheimnisse Londons
Band 1

Prolog

Zwischen dem 10. und 13. Jahrhundert zog sich die Zivilisation aus Ägypten und Syrien zurück, ruhte sich eine Weile in Konstantinopel aus und übertrug dann ihre Herrschaft auf die westlichen Gebiete Europas.

Seit dieser Zeit sind diese Gegenden das große Laboratorium, in dem die Zivilisation jede Kunst und jede Wissenschaft verfeinert und ihren Segen über die ganze Erde verbreitet hat. Sie lehrte den Handel und ermöglichte es einer Handvoll disziplinierter Krieger, die mächtigen Heere orientalischer Fürsten zu unterwerfen. Ihre wagemutigen Söhne stellten ihre Fahnen inmitten des ewigen Eises der Pole auf. Sie hat die Urwälder Amerikas abgeholzt, den Handel ins Innere Afrikas getragen und mithilfe der Dampfkraft Zeit und Entfernung vernichtet. Nun überlegt sie, wie sie sich einen Weg durch Suez und Panama bahnen kann.

Die Segnungen der Zivilisation werden heute fast überall anerkannt.

Dennoch hat die Zivilisation seit Jahrhunderten ihren Hauptsitz in den großen Städten Westeuropas und wird ihn auch weiterhin behalten – und mit der Zivilisation geht das Laster Hand in Hand.

Unter diesen Städten gibt es eine, in der seltsame Gegensätze bestehen.

Der grenzenloseste Reichtum ist Nachbar der abscheulichsten Armut, der prächtigste Prunk wird durch erbärmlichste Verwahrlosung stark hervorgehoben und der verführerischste Luxus ist nur durch eine schmale Mauer von entsetzlichem Elend getrennt.

Die Krümel, die vom Tisch der Reichen fallen, wären für Millionen Hungernde eine köstliche Speise, doch sie bekommen sie nicht!

In dieser Stadt gibt es in allen Stadtteilen fünf markante Gebäude: Die Kirche, in der die Frommen beten, die Gin-Paläste, in denen die Elenden ihre Sorgen ertränken, die Pfandhäuser, in denen armselige Geschöpfe ihre Kleidung und die ihrer Kinder bis auf den letzten Fetzen verpfänden, um sich Lebensmittel – und leider allzu oft auch berauschende Getränke – kaufen zu können, und das Gefängnis, in dem die Opfer einer verdorbenen Gesellschaft für Verbrechen büßen, zu denen sie Hunger und Verzweiflung getrieben haben. Das Gefängnis, in dem die Opfer einer verdorbenen Gesellschaft für Verbrechen büßen, zu denen sie Hunger und Verzweiflung getrieben haben. Und das Arbeitshaus, in das die Mittellosen, die Alten und die Freundlosen eilen, um ihr schmerzendes Haupt niederzulegen – und zu sterben.

In einem Stadtteil dieser Stadt befindet sich eine Ansammlung von Palästen, aus denen nachts köstliche Musik erklingt. In diesen Palästen wandeln die Füße auf kostbaren Teppichen, die Vitrinen sind mit Silberbesteck bedeckt, die Keller enthalten den erlesensten Wein aus gemäßigten und heißen Zonen und die Bewohner ruhen unter prächtigen Baldachinen aus Samt. Sie laben sich bei jeder Mahlzeit an den Erzeugnissen aus vier Welten und müssen kaum einen Wunsch äußern, bevor er ihnen erfüllt wird.

Ach, wie erschreckend sind diese Gegensätze! Als wolle sie ihre Schande vor dem Angesicht des Himmels verbergen, trägt diese Stadt eine ewige Wolke auf ihrer Stirn, die nicht einmal der frische Morgenwind für eine einzige Stunde am Tag vertreiben kann.

An einem herrlichen Ort dieser mächtigen Stadt, deren tausend Türme sich wie ein Zeichen ihrer grenzenlosen Größe von Horizont zu Horizont in die Höhe erheben, steht die Wohnstätte eines Mannes, vor dem sich alle Knie beugen, und dessen königlichem Fußschemel sich niemand nähert, ohne den Blick zu senken und mit gedämpfter Stimme zu sprechen. Die ganze Welt überschüttet diesen begünstigten Sterblichen mit ihren Gaben und ein Volk von Millionen huldigt dem Thron, auf dem er thront. Die Herrschaft dieser überaus gesegneten Person erstreckt sich über ein Reich, über dem die Sonne niemals untergeht – ein Reich, das größer ist als das Reich Dschingis Khans oder das Reich Mohammeds.

Er ist der Vater einer mächtigen Nation, und doch hungern seine Kinder nach Brot!

In ihrer Verzweiflung drücken Frauen ihre Kleinen an ihre ausgetrockneten Brüste. Junge, zarte Geschöpfe verschwenden ihre Kräfte in mühsamer Arbeit von Tagesanbruch bis weit nach Mitternacht. Sie setzen ihre vergebliche Arbeit fort, von der Stunde, da die Sonne am Himmel steht, bis zu der, da die trübe Kerze ihr Licht an die kahlen Wände der Dachkammer wirft. Selbst der Pflasterstein ächzt unter der Last des Leids, das die Armen über die rauen Plätze dieser Stadt der traurigen Gegensätze schleppen müssen.

Denn während die Tochter des Adligen in Luxus aufwächst und ein ununterbrochenes Leben in Glückseligkeit von der Wiege bis zur Bahre durchlebt, kommt die Tochter der Armut bei ihrer Geburt in allem Elend in die Welt und verkauft schließlich ihre Tugend für einen Laib Brot.

Im moralischen Alphabet dieser großen Stadt gibt es nur zwei Wörter, denn alle Tugenden lassen sich in dem einen zusammenfassen, alle Laster in dem anderen. Diese Wörter lauten: REICHTUM. ARMUT.

Verbrechen sind in dieser Stadt reichlich vorhanden: Das Lazarett, das Gefängnis, das Bordell und die dunklen Gassen sind voller Gräueltaten aller Art, ebenso wie der Palast, die Villa, der Club, das Parlament und das Pfarrhaus. Sie alle zeichnen sich durch unterschiedliche Grade und Schattierungen des Lasters aus. Aber warum sollten wir Verbrechen und Laster bei ihrem Namen nennen, da sie in dieser Stadt in den vieldeutigen Begriffen Reichtum und Armut aufgehen?

Verbrechen leihen sich ihre vergleichbare Schattierung der Ungeheuerlichkeit von den Menschen, die sie begehen. So kommt es, dass die Reichen alle sozialen Vergehen ungestraft begehen können, während die Armen in Kerker geworfen und mit Ketten gefesselt werden, nur weil sie den Spuren ihrer herrischen Vorfahren in bescheidener Entfernung folgen.

Von dieser Stadt der seltsamen Gegensätze zweigen zwei Straßen ab, die zu zwei völlig unterschiedlichen Orten führen.

Die eine schlängelt sich durch alle übelriechenden Höhlen des Verbrechens, der Betrügerei, der Ausschweifung und der Wollust. Die andere windet sich zwar zwischen schroffen Felsen und ermüdenden Steigungen, doch am Wegesrand liegen die Rastplätze der Rechtschaffenheit und Tugend.

Auf diesen Straßen sind zwei junge Männer unterwegs.

Sie sind am selben Punkt gestartet, aber der eine folgt der einen, der andere der anderen Straße.

Beide kommen aus einer Stadt voller Kontraste und folgen dem Rad des Schicksals in unterschiedliche Richtungen.

Wo liegt diese Stadt voller Kontraste? Wer sind diese beiden jungen Männer, die sich auf so gegensätzliche Wege begeben haben?

Und wohin führen ihre getrennten Wege?

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