Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs – Band 8 – 12. Kapitel
Aus den Geheimakten des Weltdetektivs
Band 8
Die Geliebte des Staatsanwalts
12. Kapitel
Entlarvt
Die BUSSNESS war nur ein kleiner Dampfer, aber ein stark gebautes, flink gehendes Fahrzeug. Mit Ruth Likeness, Walker und etwa einem Dutzend ihr ergebener Leute an Bord stach das Schiff noch während der Nacht, die die Lady zur Flucht ausersehen hatte, in See.
Dunkle Wolken verhüllten Mond und Sterne, und da der Dampfer kein Licht an Bord angezündet hatte, glitt er ungesehen die Themse hinunter und gewann das weite, brausende Meer. Langsam dampfte er gen Südwesten – seine Ausfahrt stieß auf kein Hindernis.
Die Lady befand sich in der besten Laune, als der Dampfer auf den Ozean gelangte. Eine frische Brise wehte vom Achterdeck und hinderte Ruth nicht, sobald der Morgen heraufzog, neben Walker auf Deck sich aufzuhalten und hier zu promenieren.
»Nun sind wir in Sicherheit«, plauderte Lady Likeness zu ihrem Gefährten mit heiterer Miene. »Diesen Sherlock Holmes haben wir für immer unschädlich gemacht – es soll unsere letzte Untat gewesen sein, Walker. Was hinter uns liegt, wollen wir zu vergessen suchen – ein neues Leben winkt uns.«
»Wohin fahren wir, Lady?«, fragte Walker.
»Nach Südamerika oder …«, fiel es ihr plötzlich ein, »wollen wir nach einer der einsamen Südseeinseln und dort eine Robinsonade durchleben?«
»Ich glaube, wir werden uns da am wohlsten fühlen, wo wir so wenig als möglich, am besten gar keine Menschen finden«, lautete Walkers Antwort. »Ich meinerseits entscheide mich für eine der Südseeinseln. Dort sind wir sicher vor Entdeckung.«
»Du hast recht. Der Kapitän soll den Kurs dorthin nehmen«, entschied die Lady.
Gleich darauf teilte sie dem Führer des Dampfers ihren Einschluss mit, und die BUSSNESS richtete ihren Bug nach Südsüdwest.
Während der Fahrt empfand Lady Likeness nur wenig Bedürfnis zur Ruhe – sie war meist auf Deck und verweilte, wenn nicht mit Walker, so an der Seite des Kapitäns oder mit einem der anderen ihr treu ergebenen Passagiere in angeregter Plauderei.
Der Dampfer verfolgte nicht übermäßig schnell sein Ziel. Ruhig verliefen die Tage. Das Wetter war meistens still. Die Passagiere vergnügten sich, so gut sie es konnten, vertrieben sich die Zeit mit Lesen, Musik und Spazierengehen auf dem Promenadendeck, und nur selten trieb ein feiner, leichter Sprühregen die Frauen und Männer in die Kajüten.
Eines Sonntags wurde das Kap Horn umschifft, und dann ging es nach Nordwesten zu den Paumotu-Inseln. Hier lag ein kleines Eiland, das Elizabeth hieß. An diesem beschloss Lady Likeness zu landen.
Der Kapitän, der hier genau Bescheid zu wissen schien, vermied die kleinen und größeren Riffe, die vor der Insel lagerten, und hatte das Glück, gut zu landen. Außer der Lady und Walker stiegen noch zwei Männer und zwei Frauen aus, die beschlossen hatten, bei der Lady zu bleiben – die Übrigen brachte der Kapitän nach Australien hinüber, wo sie das Ende ihres Lebensweges zurückzulegen gedachten.
Das Gepäck, das die Lady an Land hatte schaffen lassen, war ein sehr umfangreiches, zu ihm gehörte auch ein Koffer mit Geld und Kleinodien.
Es war ein heißer Tag, an dem sich Ruth mit ihren fünf Landsleuten auf der Elizabeth-Insel einquartierte, um hier die nächsten Jahre zuzubringen. Das Eiland war fruchtbar und ernährte eine ganze Schar von Eingeborenen. Mit deren Hilfe ließ sich die Lady eine geräumige Hütte aufbauen, in der sie mit Walker zu leben beschloss.
Es dauerte nicht lange, so konnte das Gebäude bezogen werden. Der Tag, an dem dies geschah, wurde für alle Bewohner der Insel zu einem Fest. Galt es ja zugleich die Hochzeit Ruths mit Walker zu feiern.
Mit stolzer Pracht war die Sonne aus dem Meer herausgestiegen; sie beschien das festlich geschmückte, neu erbaute Häuschen, das nun seine Bewohner aufnehmen sollte.
Frohen Herzens schritt Ruth an der Seite Walkers den Weg hinauf, der zu dem Gebäude führte. Ein zufriedener Zug lag auch im Gesicht des neben der Lady schreitenden Mannes.
»Mir gefällt es hier ausnehmend gut«, sagte die junge, noch immer schöne Frau, »wenn es nach mir gehen soll, bleiben wir für immer hier.«
»Es soll nach dir gehen«, antwortete Walker. »Hier sind wir sicher für alle Zeiten.«
Sie hatten das Häuschen erreicht und überschritten die Schwelle. »Ein Heim des Glücks!«, bemerkte Ruth mit zufriedenem Lächeln.
Doch im nächsten Augenblick taumelte sie zurück und blieb wie gebannt stehen. Ihr Auge wurde starr. Auch Walker hemmte den Schritt und blickte entgeistert, während ein Laut des Entsetzens seinen Lippen entfloh.
Vor ihnen stand mit erhobenem Revolver – Sherlock Holmes.
»Treten Sie ein, meine Herrschaften«, sagte er mit Laune. »Sie, Ruth Likeness, auf diese Seite – Sie, Walker, auf jene Seite. Bitte, ohne Umstände«, fügte er eindringlicher hinzu, mit der erhobenen Waffe seinen Worten Nachdruck gebend.
Das Paar gehorchte mechanisch, kaum seiner Sinne mächtig. Der Sturz aus dem Himmel des Glücks war zu jäh, zu unvermittelt.
Rasch legte der Detektiv, Ruth fest im Blick behaltend, Walker Handfesseln an und machte ihn vollständig wehrlos. Dann fesselte er Ruth auf dieselbe Weise.
»So«, sagte er befriedigt, als er damit fertig war. »Und nun folgen Sie mir ohne Säumen in mein Boot, das mich diese Nacht hierher trug. Es wird uns schnell an den in verborgener Bucht liegenden Dampfer bringen. Bitte, ohne Zögern und ohne Laut. Sie vermeiden es besser, Aufsehen zu erregen.«
»Zu Hilfe, Leute!«, rief Ruth als Antwort über die Insel hin, aus der Tür tretend. »Rettet uns vor dem Überfall!«
Blitzschnell packte Holmes mit der Linken die um Hilfe Schreiende an den gefesselten Händen, Walker mit der Rechten und riss sie vorwärts zum nahen Strand hin. Es geschah dieses so schnell, dass Holmes später selbst nicht zu sagen wusste, wie er mit dem Paar in sein Boot gekommen war, das mit zwei Matrosen bemannt war. Sie halfen dem Detektiv, die Verbrecher in das Fahrzeug zu bringen, Holmes sprang zu ihnen hinein und die Matrosen stießen von der Insel in dem Augenblick ab, als die ersten Bewohner auf den Hilferuf der Lady erschienen.
»Zum Dampfer zurück!«, befahl Holmes, ohne die sich am Ufer Sammelnden und deren Ausrufe zu beachten. »Ihr habt es mir nicht leicht gemacht, eure Spur zu finden«, wandte er sich an die Gefesselten. »Aber das Glück war mir hold. Der Kapitän der BUSSNESS fiel mir in Australien in die Hände, und es gelang mir, ihn zu einem Geständnis zu veranlassen, das mir den Weg zu euch wies.«
Lady Likeness war vollständig gebrochen; mit asch
grauem Gesicht starrte sie vor sich nieder. Auch Walker war willenlos in den Händen des Detektivs.
Schnell wurde der Dampfer erreicht, und sofort ging es in großer Eile nach England zurück. Die Verbrecher wurden in London in das Gefängnis eingeliefert, denn dort musste ihre Verurteilung erfolgen.
Aber wer beschreibt das Erstaunen Sherlock Holmes’, als er einen Tag vor der öffentlichen Verhandlung die Runde vernahm, dass Lady Likeness auf geheimnisvolle Weise entflohen sei.
Offenbar hatte sie durch ihre Schönheit ihren Wärter betört, der ihre Flucht ermöglicht hatte; denn der Mann wurde ebenfalls vermisst. Sofort machte sich Holmes von Neuem auf die Suche nach dem verbrecherischen Weib. Diesmal aber gelang es ihm nicht, ihrer habhaft zu werden. Erst nach langen Jahren meldeten die Zeitungen, dass eine Frau Hartwich, verwitwete Lady Ruth Likeness, im fernen Ostsibirien gestorben sei. Hartwich war der Name ihres Wärters gewesen. Sie musste wohl diesen geheiratet haben.
Wie das Paar nach Russland und nach Ostsibirien gekommen war, ist nicht aufgeklärt worden. Möglich ist es, dass die schöne Ruth Likeness sich in Russland in Intrigen verwickelte, die sie nach Sibirien brachten. Das willenlose Werkzeug des verbrecherischen Weibes – der unglückliche Walker – wurde zum Tode verurteilt.
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Die Geheimnisse des modernen London
Verschwundene Menschen
In London sind nach dem letzterschienenen Bericht der Polizeibehörde im Rechnungsjahr l9O5/19O6 nichtweniger als 36 873 Menschen als verschwunden gemeldet worden. Als Wiedergefunden werden l6 371 angegeben; wo also die übrigen 20 502 Menschen geblieben sind – das Rätsel der Sphinx von heute! Und dann ist zu bedenken: Wie sind die 16 371 wiedergefunden worden? Wie viele von ihnen verkommen, tot, ermordet, als Leichen in der Themse treibend! Und wie viele mögen aus dem Vorjahr dabei sein! Das kann natürlich auch nur in solch einer Achtmillionenstadt wie London vorkommen, wo niemand gezwungen ist, sich, wie in Deutschland etwa, bei der Polizei zu melden. Jedenfalls sprechen die genannten, trockenen Ziffern eine schreckliche Sprache.
*
Nachstehende Skizze wird unsere geschätzten Leser umso mehr interessieren, als unser Held, Detektiv Sherlock Holmes, in vielen der schwierigsten Fälle seine Hand im Spiel hat und oft unglaubliche Erfolge bei der Aufdeckung von Verbrechen erzielt.
Die Wege des Verbrechens
Die Verbrechen der Achtmillionenstadt London sind ebenso zahlreich wie vielseitig. Es gibt hier Liebhaberverbrecher und Berufsverbrecher. Der Erstere fällt gewöhnlich einem plötzlichen Impuls oder einer günstigen Gelegenheit zum Opfer. Der Berufsverbrecher hingegen ist ein Mensch, der aus dem Verbrechen einen Erwerb macht und es zum Zweck des Verdienstes begeht.
Bildung und moderne Erfindungen haben unseren heutigen Verbrechermethoden zu einer Art künstlerischer Vollendung verholfen, und es gibt in London eine Reihe Verbrechergesellschaften mit schlauer Organisation, großem Kapital und selbst genauester Buchführung, die jährlich ungeheure Summen unter ihre Mitglieder zu verteilen imstande sind.
Das Geheimnis mancher großer Juwelendiebstähle zum Beispiel, welche das Publikum in Staunen setzen und die Polizei verblüffen, würde gelöst, wenn es nur gelänge, zu beweisen, was längst bekannt ist – nämlich das Vorhandensein eines ganzen Systems sogenannter planting-Verbündeter – männlicher wie weiblicher – in den Häusern der Londoner Reichen als Dienstboten.
Der auf solche Weise engagierte Johann benimmt sich stets vorzüglich und flößt seiner Herrschaft das größte Vertrauen ein. Er oder sie kommt mit einem Zeugnis, das unantastbar ist.
Wollen wir einmal ein Beispiel der Methoden nehmen, wie ein Verbündeter platziert wird. Es erscheint ein Inserat in den Zeitungen:
Eine Dame, welche ins Ausland reist, sucht Stellung für ihren Pagen, den sie durchaus empfehlen kann. Offerten bitte brieflich an usw.
Der Wunsch, einen durchaus empfohlenen Diener zu bekommen, veranlasst jedes Mal eine Anzahl Damen, die Offerte zu beantworten.
Von den eingegangenen Briefen werden die versprechendsten Adressen ausgesucht und beantwortet, nachdem man schleunigst genaue Erkundigungen eingezogen hat.
Der Page, welcher sich mit einer Bande professioneller Juwelendiebe verbündet hat, ist ein trainierter Diener. Er muss alles aufs Beste verstehen, damit er lange genug auf seinen Posten verbleiben kann, bis der Plan der Bande ausgeführt worden ist.
Er findet nun alsbald die Lebensweise seiner Herrschaft und den Ort heraus, wo der gewünschte Stoff liegt. Das Übrige ist dann leicht. Er teilt seinen Kollegen alles Nötige mit, lässt sie wissen, wann sich die günstige Gelegenheit bietet, hält alles arrangiert, um ein möglichst leichtes Eindringen ins Haus zu gestatten, und hat mit dem Job nichts weiter zu tun. Diese großen Juwelendiebstähle finden in der Regel abends statt, während die Herrschaft bei Tisch oder im Theater ist. Niemand hat Verdacht auf den Lakaien. Dieser richtet sich immer so ein, dass er zu der Zeit, wenn der Diebstahl geschickt ausgeführt wird, möglichst viel bei den anderen Dienstboten sich aufhält.
Auch das Zimmermädchen und die Zofe sind beliebte Verbündete und der Bande oftmals noch nützlicher als der Diener. Die Zofe befindet sich vielfach im Besitz der Schlüssel ihrer Herrin und kann deshalb von jedem Schlüssel einen Abdruck nehmen, wie ihn die Einbrecher benötigen, die geräuschlos und schnell an die Arbeit gehen wollen.
Dieser Abdruck oder squeeze wird genommen, indem man den Schlüssel in ein Stück speziell präparierten Wachses presst. Im Besitz dieser Gussform kann der Dieb sofort einen ähnlichen Schlüssel angefertigt bekommen. Oft hat er nicht allein die Schlüssel zur Juwelenkassette, sondern auch noch die zur Haustür.
Mithilfe eines solchen Abdrucks wurde ein Geldschrank geöffnet; während er sich auf dem Transport bei der South-Eastern-Eisenbahn befand. Er enthielt Wertpapiere für viele Tausende, und die Beute wurde vollständig geborgen.
Der gelernte Bankräuber von heute eröffnet auf der Bank, die er zu berauben gedenkt, ein Konto. Oftmals ist er monatelang Kunde gewesen, ehe er den Trick wagt, durch welchen andere Geschäfte dann freilich gleich um Hunderttausende geschädigt werden. Der Sachverständige führt den Diebstahl nicht selbstständig aus; er verwickelt bloß den Buchhalter hinter dem Tresor in ein Gespräch und deckt damit die Operation eines Helfers. Dieser ist oftmals mit der tadellosen Uniform eines Bankboten bekleidet.
Die Profession des Verbrechens von heute zählt in ihren Reihen Leute, deren Auftreten das eines Diplomaten ist, welche in Gesellschaft sich untadelhaft benehmen, und deren Geldmittel ihnen gestatten würden, ein gutes, oft sogar ein bequemes Leben zu führen. Aber sie sind Anführer im Verbrechen geworden, und gerade das Gefährliche des Sports reizt sie.
Manche führen ihre Operation mit den striktesten Geschäftsregeln durch. Sie haben ihre Agenten in allen großen Städten des Kontinents, sprechen verschiedene Sprachen und reisen in der Welt umher. Sie gehören der einen oder anderen internationalen Bande an, welche häufig einen großen Raub in London, gleichzeitig einen zweiten in Paris, einen dritten in New York und einen vierten in Wien an der Hand hat. Sie reisen nur erster Klasse und nehmen in den feinsten Hotels Zimmer.
Dass schöne Frauen zu verbrecherischen Zwecken Männer hypnotisieren, ist bekannt. Man kennt Frauen in London, die Männer in hohen Staatsstellungen so erfolgreich hypnotisiert haben, dass sie ein halbes Dutzend davon kurz hintereinander heiraten konnten und damit ein kolossales Vermögen an sich brachten, nicht allein große Geldsummen und kostbare Familienerbstücke an Brillantenschmuck, sondern auch Familienpapiere und Geheimnisse, mittels deren sie den betrogenen Mann dann zum Schweigen brachten und zwangen.
Eine gar nicht besonders hübsche Frau heiratete nacheinander vier reiche Männer in sechs Monaten, verließ jeden Bräutigam an der Kirchentür und bezog trotzdem von jedem große Geldsummen. Zwei Männer – den ersten und letzten – heiratete sie in London, einen in Frankreich und einen in Amerika.
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