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Der Welt-Detektiv Band 6

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Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs – Band 5 – 3. Kapitel

Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs
Band 5
Die Menschenfalle im alten Haus
3. Kapitel

Der unbekannte Tote

Als Sherlock Holmes und Donelson die Villa verließen, begaben sie sich zur Hochbahnstation und fuhren von da aus bis in die City hinein bis zu der Station, von welcher Sherlock Holmes ungefähr eine halbe Stunde zu gehen hatte, um zu seiner Wohnung zu gelangen.

»Ich bin durstig geworden«, sprach Sherlock Holmes, auf ein großes Café deutend, »wir wollen dort hineingehen und eine Erfrischung zu uns nehmen. Gleichzeitig will ich einen Blick in die Zeitung werfen.«

Die beiden Herren traten in das Innere des Restaurants, welches zu dieser Tagesstunde nur mäßig besucht war. Der Detektiv suchte ein paar Sitzplätze, die ihm den Rücken deckten. Er fand auch bald solche auf einem der Sofas, die an den Wänden angebracht waren. Dort warf er sich in die Kissen, aber ohne den Hut abzulegen. Dies war durchaus nicht auffallend, da die Engländer in Restaurants und Cafés meistenteils ihre Kopfbedeckung aufbehalten.

Sherlock Holmes behielt auch den Havelock an, den er nur einfach aufknöpfte. Auch legte er zum Erstaunen Donelsons die dicken Wildlederhandschuhe nicht ab, die seine Hände schützten.

Der Kellner brachte einige Erfrischungen und die Zeitungen herbei. Sherlock Holmes nahm die Times« und gab seinem Begleiter eine andere von dem Riesenformat der englischen Zeitung.

»So, nun lesen Sie«, sprach Sherlock Holmes, »oder tun Sie wenigstens so, als ob Sie lesen. Wahrhaftig, er hat es eilig. Da ist er schon.«

Donelson sah Sherlock Holmes ganz verwundert an, der ruhig in der Zeitung zu studieren schien.

Es war in der Tat jemand eingetreten, und Donelson erkannte mit einigem Erstaunen den elegant gekleideten Mann mit dem spanischen Rohr, welcher einen Augenblick suchend im Café umherblickte und sich dann in einiger Entfernung von den beiden Männern niederließ.

»Sehen Sie nicht so direkt zu ihm hin, Mr. Donelson«, flüsterte Sherlock Holmes seinem Begleiter zu, »es hat gar keinen Zweck, dass wir ihm sein Vorhaben erschweren. Im Gegenteil, ich will es gerade, dass er die Maske abwirft und zeigt, was er beabsichtigt.«

»Aber ist dies Zusammentreffen nicht Zufall?«, flüsterte Donelson. »Glauben Sie denn, dass dieser Mann, den ich allerdings wiedererkenne, uns bis zu meiner Wohnung folgte und uns auch wieder bis hierher begleitete?«

»Selbstverständlich«, erwiderte Sherlock Hohnes. »Er ist uns in einer Droschke nachgefahren, hat Ihre Wohnung beobachtet und war auch in der Hochbahn, als wir zurückfuhren. Ich habe ihn immer gesehen, obwohl ich zugeben muss, dass er sich vortrefflich versteckte. Lesen Sie nur Ihre Zeitung und schauen Sie möglichst wenig oder gar nicht zu dem Mann hinüber. Ich behalte ihn schon im Auge.«

Sherlock Holmes schien mit Eifer die Zeitung zu studieren, als ob ihn diese ungemein interessierte. Der verdächtige Fremde hatte sich gleichfalls in eine Zeitschrift vertieft und eine der riesigen Blätter entfaltet. Dabei schien er aber mit dem Stock mit dem silbernen Knopf, den er in seinen Arm gelehnt hielt, ab und zu zu spielen, wie es zerstreute Menschen tun. Wie in Gedanken hob er ihn auch zuweilen empor und führte ihn an das Kinn, wie es manchmal Gelehrte zu tun pflegen, wenn sie über etwas nachsinnen.

Sherlock Holmes legte ruhig die Zeitung beiseite und griff nach der Schokoladentasse, die vor ihm stand, um sie an den Mund zu führen. Er trank und schien ganz in seine Beschäftigung versunken zu sein. In Wahrheit aber sah er auf das Allerschärfste zu dem verdächtigen Mann hinüber.

Der schien nur darauf gewartet zu haben, dass Sherlock Holmes trank. Der Stock lag nun waagerecht auf seinen Knien, und während der Mann noch immer mit der Linken die Zeitung hielt, hob er den Stock immer weiter empor, wobei er ihn wie zerstreut hin und her wendete.

Donelson, der sich nicht enthalten konnte, einmal zu dem verdächtigen Nachbarn hinüberzublicken, gewahrte plötzlich, wie der anscheinend so zerstreute Fremde den Stock wieder an den Mund hob, ihn zu gleicher Zeit aber mit blitzschneller Bewegung in eine waagerechte Lage brachte.

Im gleichen Augenblick sprang Sherlock Holmes empor; klirrend fiel die Tasse auf den Tisch und zerbrach. Mit wenigen Sätzen war der Detektiv zum Staunen der Gäste an dem Tisch angelangt, an welchem der Fremde mit dem spanischen Rohr gesessen hatte.

Der Mann war mit der blitzschneller Bewegung eines Panthers ebenfalls aufgesprungen. Er hatte einen Satz zur Tür gemacht, nur einen einzigen. Sherlock Holmes griff gerade nach ihm, als Donelson gewahrte, dass der Fremde wie vom Blitz getroffen zu Boden stürzte.

Im Café war nun alles in Aufregung geraten, die Kellner stürzten herbei, in höchster Verwunderung bald auf Sherlock Holmes, bald auf den Mann blickend, der am Boden lag.

Der Detektiv beugte sich über den Regungslosen, fasste ihn bei der Schulter und drehte ihn auf den Rücken. Donelson, der ebenfalls hinzueilte, meinte, er hätte in

seinem Leben noch kein so grässlich verzerrtes Gesicht gesehen, wie das des am Boden Liegenden. Der Mund war geöffnet, sodass die weißen Zähne sichtbar wurden.

Der Anblick war so grausig, dass Donelson, der dicht neben Sherlock Holmes stand, einen leisen Ruf des Entsetzens ausstieß.

»Das ist der Tod«, rief der junge Mann unwillkürlich, als er in das zähnefletschende, verzerrte Gesicht des Mannes blickte.

»Ja, das ist der Tod«, erwiderte Sherlock Holmes mit eisiger Kälte, »es trifft sich oft im Leben sonderbar, dass derjenige, der einem anderen den Tod geben will, selbst davon ereilt wird durch eigene Hand, ohne es zu wollen. Aber da kommen ja schon die Polizisten. Bitte, Platz gemacht, meine Herren!«

Der letzte Zuruf Sherlock Holmes’ galt den Gästen des Cafés sowie den Kellnern, welche nicht wussten, was geschehen war und meinten, den fremden Mann, der da am Boden lag, hätte der Schlag gerührt. Sie wichen instinktiv zurück, als einige stattliche Männer rasch in das Café traten und sich Sherlock Holmes näherten, der das spanische Rohr des Toten ergriffen hatte.

»Was gibt es mit ihm?«, fragte einer der Eintretenden, offenbar ein Kriminalbeamter, »wir haben nach Verabredung hier gewartet.«

Nun entsann sich Donelson, dass Sherlock Holmes auf der Hochbahn eine Depesche aufgegeben hatte, durch die er sicherlich polizeiliche Hilfe zu dem Café beorderte. Er hatte also von vornherein beschlossen, hierherzukommen, in der Gewissheit, dass ihn der unheimliche Verfolger dort aufsuchen würde.

»Hier ist jede menschliche Hilfe vergebens«, murmelte Sherlock Holmes. »Wie das alles gekommen ist, werde ich Ihnen nachher erklären, wenn ich zur Polizeistation komme. Am besten ist es, wenn dieser Mann hier, der von einem so plötzlichen Tod ereilt worden ist, gleich fortgebracht wird. Ich komme bald nach. Er war der Erste!«

Donelson blickte den Detektiv bei den letzten Worten verständnislos an, denn die ganze Sache war ihm völlig rätselhaft. Sherlock Holmes legte ihm beruhigend die Rechte auf die Schulter.

»Ich glaube, für heute ist genug geschehen«, flüsterte er dem jungen Mann zu. »Jetzt bedarf ich Ihrer nicht mehr, denn dem Anschlag, welchen ich voraussah, bin ich glücklich entgangen. Ich war auf alles vorbereitet. Es könnte höchstens der Fall gewesen sein, dass mein Gesicht getroffen wurde, denn ich konnte dasselbe mit den behandschuhten Händen nur zum Teil decken. Aber genug davon; fahren Sie also ruhig heim, Herr Donelson, und warten Sie ab, bis ich Sie wieder aufsuche. Jedenfalls wird das schon morgen geschehen.«

 

Die Kriminalbeamten hatten inzwischen den Toten aufgehoben und in eine rasch herbeigeholte Droschke getragen. Sie fuhren eilig mit ihm davon, während sich Gäste und Kellner zusammendrängten und förmlich scheu auf Sherlock Holmes blickten, der kaltblütig, als sei nichts geschehen, das genossene Getränk bezahlte.

Wenige Minuten später stand auch der Detektiv auf der Straße und suchte nach einem Mietwagen, der ihn den sich schnell ansammelnden Neugierigen entziehen sollte.

Dieser Schwarm von Neugierigen drängte sich sogar bis dicht an die Spiegelscheiben des Cafés, und Sherlock Holmes musste einige Zudringliche beiseiteschieben, um weitergelangen zu können.

In demselben Augenblick tauchte unter den Passanten ein junger, elegant gekleideter Mann mit hübschem, aber etwas verlebtem und dabei zu gleicher Zeit wild verwegenem Antlitz auf. Sherlock Holmes machte eine jähe Bewegung. Er schien den Mann zu kennen, der urplötzlich neben dem Detektiv stehen blieb und ihn spöttisch ansah.

Gleich darauf trat er näher.

»Ich glaube, wir kennen uns«, flüsterte der Fremde mit zischender Stimme, während er die Rechte in die Tasche seines leichten Sommerüberziehers schob.

»Ja, gewiss, wir kennen uns«, erwiderte Sherlock Holmes. »Also wieder auf freiem Fuß, Hopkins? Schade, nach meinem Dafürhalten hätten Sie länger hinter Schloss und Riegel bleiben können.«

»Ja, an Ihnen hat es wahrlich nicht gelegen, Sherlock Holmes«, knirschte der Mann, »Sie hatten mir mehr zugedacht. Damals war die Partie zu ungleich. Aber jetzt habe ich einmal die Vorhand.«

»Wirklich?«, meinte Sherlock Holmes, während er den unheimlichen Mann nicht einen Augenblick aus den Augen ließ. »Ach, bitte, lassen Sie Ihre Hand nur ruhig in der Tasche. Ich vermute, dass Sie Ihr Schnupftuch suchen. Aber es ist besser, Sie ziehen es nicht hervor, ich könnte diese Bewegung falsch verstehen. Doch sagen Sie, wollten Sie vielleicht einen Bekannten im Café suchen, einen Mann, der ein solches spanisches Rohr mit silbernem Knopf in der Hand trug, wie ich es hier in der Hand halte?«

Ein Wutblitz schoss aus den Augen des elegant gekleideten Verbrechers.

»Ich weiß nicht, was Sie wollen«, erwiderte er. »Ich bin nur zufällig hier, ganz zufällig, aber ich habe Ihnen die Jahre, die ich hinter eisernem Gitter zubringen musste, nicht vergessen.«

»Wirklich, ganz zufällig führt Sie Ihr Weg gerade hierher? Ei, das ist ja höchst merkwürdig, und doch scheinen Sie sich für Männer, welche so eigentümliche Stöcke mit sich führen, gewaltig zu interessieren. Ach, lassen Sie nur die Hand in der Tasche! Wirklich, Hopkins, es ist besser so. Ich glaube, Sie könnten aus Versehen anstatt eines Taschentuches den Griff eines schwedischen Dolches hervorziehen. Und es ist mir bekannt, dass Sie in der Handhabung dieser Waffe eine wahre Meisterschaft besitzen. Lassen Sie die Rechte in der Tasche, Sie sehen, ich halte meine Hand auch in der Tasche des Havelocks, um ganz wie Sie nach dem Schnupftuch zu suchen. Sollten Sie aber aus Versehen das Dolchmesser hervorziehen, so würden Sie bemerken, dass Ihre Zerstreuung auf mich ansteckend wirkt und ich im gleichen Moment den Kolben eines Revolvers zu fassen bekäme. Sehen Sie, Hopkins, mit Leuten, wie Sie sind, muss man sich immer gleich aussprechen, um Irrtümer zu vermeiden.«

Kein Zweifel, dieser junge, elegante Mann war der Todfeind des berühmten Detektivs, und hätten seine Blicke töten können, so wäre es sicherlich um Sherlock Holmes geschehen gewesen.

»Ich verstehe nicht, was Sie wollen«, meinte Hopkins, indem er weiter ging und sich zur Ruhe zwang. »Sie wissen, dass ich ebenfalls das Gesetz kenne. Sie können mir nicht das Geringste anhaben, denn gegen mich liegt keine Anklage vor. Sie dürften nur dann Ihre Schusswaffe gebrauchen, wenn Sie sich in der Notwehr befinden, und dazu gebe ich Ihnen keine Veranlassung.«

»Sehr richtig, Hopkins«, erwiderte Sherlock Holmes. »Ich sehe, Sie haben die Einsamkeit in Ihrer Zelle dazu benutzt, um über die einzelnen Gesetzesparagrafen nachzudenken. Wenn Sie jetzt Ihre Rechte aus der Tasche hervorziehen – aber ganz langsam, wenn ich bitten darf – so werde ich das Gleiche tun. Sehen Sie, dann ist keine Verwechselung möglich. Aber weshalb schielen Sie denn immer nach dem Stock? Der kommt Ihnen wohl bekannt vor? Sehen Sie, Hopkins, das ist kein Stock, auf den man sich stützt, sondern ein Stock zum Durchpusten. Sehr interessant, nicht wahr? Sie kommen oft mit Indern zusammen, vielleicht haben Sie bei denen mal ähnliche Stöcke gesehen?«

Die beiden Männer schritten nun einsam nebeneinander her. Es war niemand in der Nähe, der ihre Worte vernehmen konnte, selbst wenn sie lauter gesprochen hätten.

»Ich weiß nichts von diesem oder einem ähnlichen Stock und weiß auch nichts von Indern«, entgegnete Hopkins, in dessen verlebtem Gesicht es förmlich wetterleuchtete. »Aber da wir beide ganz allein sind und keinen Zeugen haben, so sage ich Ihnen nur das eine, und das betrifft mich persönlich: Sie haben damals dafür gesorgt, dass unsere Vereinigung …«

 

»Sagen wir lieber Bande«, unterbrach Sherlock Holmes, »das klingt richtiger …«

»Nennen Sie es, wie Sie wollen«, knirschte der Verbrecher. »Kurz und gut, meine Freunde …«

»Und Diebesgenossen, vergessen Sie das ja nicht«, ergänzte Holmes mit eisiger Ruhe. »Es war eine sehr ehrenwerte Verewigung, die Bande war wirklich international. Es hat mir einige Mühe verursacht – schade, dass in England für Räuberei nur Gefängnisstrafe im Gesetzbuch steht.«

»Nicht wahr, Sie meinen, Sie hätten mich lieber hängen gesehen?«, unterbrach ihn Hopkins.

»Vielleicht kommt das noch später«, meinte Holmes ganz gelassen. »Es war mir leider nicht möglich, nachzuweisen, dass Sie bei den Diebstählen – Sie persönlich, Hopkins, meine ich – Menschenleben vernichteten. Einigen Ihrer sauberen Genossen habe ich das nachgewiesen, und Sie wissen ja, dass dieselben eines Morgens plötzlich die Halsbinde zu eng fanden und dieselben trotz aller Mühe nicht loser zu knüpfen vermochten. Damit waren die gefährlichsten Burschen dieser Bande unschädlich gemacht. Sie hingen, während Sie, Hopkins, mit ein paar Jahren Kerker davonkamen. Ich sehe, dass Sie rachsüchtig sind, und anstatt andere Wege einzuschlagen, mir jetzt mit Drohungen kommen. Gewiss, ich habe die Bande damals aufgehoben, und es war auch die höchste Zeit dazu, denn sie war zum Schrecken der Londoner Vorstädte geworden.«

Hopkins warf einen wilden prüfenden Blick in die Runde. Er wusste, dass Sherlock Holmes auf seiner Hut war, er wusste, dass eine verdächtige Bewegung seinerseits den Detektiv berechtigte, gleichfalls nach der Waffe zu greifen.

»Ja, ein paar meiner besten Freunde sind gehängt worden«, keuchte Hopkins, »und ich habe es geschworen, dass das nicht so hingehen soll. Ich und mehrere andere – ich kann es Ihnen jetzt ungescheut sagen – denn Sie haben keine Zeugen für meine Worte, und ohne Zeugen finden Sie keinen Richter, der mich auf Ihre etwaige Anklage verurteilt. Also hören Sie zu, Sherlock Holmes. Wir haben heute Mittwoch – den heutigen Tag rechne ich aber nicht, der ist ja fast zu Ende – dann kommen noch drei Tage, und dann folgt der Sonntag. Sherlock Holmes, sind Sie fromm und möchten Sie noch einmal eine Predigt hören, so rate ich Ihnen, noch vorher eine Betstunde zu nehmen, denn den Sonntag erleben Sie nicht mehr. Am Sonntag sind Sie tot, Sherlock Holmes, merken Sie sich das. Selbst wenn Sie sich in Ihre Wohnung einschließen und wenn Sie Ihre schlaueste Verkleidung heraussuchen, am Samstagabend sind Sie ein toter Mann, Sherlock Holmes. Das sage ich Ihnen, ich, Hopkins!«

 

»Sehr erfreuliche Aussichten«, erwiderte Holmes, ohne eine Miene zu verziehen. »Es scheint Ihnen unendlich viel daran zu liegen, dass ich mich nicht mehr auf der Welt befinde. O, das glaube ich Ihnen, Hopkins, das nimmt mich nicht wunder. Leute wie Sie, welche sich allem Anschein nach für unbekannte Männer mit solchen seltsamen Blaserohrstöcken interessieren und eilig nach dem Café laufen, nur um Sherlock Holmes tot daliegen zu sehen, die ärgern sich natürlich, wenn sie mal wieder einen guten Freund verlieren. Diesmal allerdings nicht durch den Strang, sondern durch eigene Unvorsichtigkeit. Sehen Sie, Hopkins, betrachten Sie einmal diesen Stock. Niedlich, was? Ein schöner silberner Knopf, kostet mindestens zwanzig Schilling. Aber warum ist denn der Stock hohl und mit einem glühenden Eisen so sorgfältig ausgebohrt und geglättet worden? Wozu ist denn da oben das Loch in dem silbernen Griff? Und warum lässt sich denn unten die Zwinge abschrauben? Sehen Sie, Hopkins, das ist kein Stock mehr, das ist ein Blasrohr. Aber das brauche ich Ihnen eigentlich gar nicht erst zu erklären. Sie sind noch nicht gewandt genug in der Verstellungskunst, um mich über Ihre Mitwisserschaft von dem beabsichtigten Meuchelmord zu täuschen. Sie beißen sich fast die Lippen blutig vor Ärger, dass der Mann im Café seine Sache so schlecht gemacht hat. Das heißt, an ihm hat es nicht gelegen, ich wäre jetzt schon ein toter Mann, aber wenn ich es mit anderen zu tun habe oder mit Leuten, die lange drüben in der Kolonie gelebt haben, dann denke ich immer an solche Sachen hier. Sehen Sie mal, Hopkins, da hat es gesessen.«

»Ich weiß nicht, was Sie da reden«, knirschte der Verbrecher, indem er wieder in die Runde blickte. »Mir scheint es fast, als ob Sie im Fieber redeten.«

»Ach nicht doch«, entgegnete Sherlock Holmes. »Betrachten Sie doch einmal auf meinem Havelock diesen kleinen braunen Punkt. Wenn Sie mit den Fingern darüberfahren, würden Sie glauben, dass dort ein bisschen feuchter Schmirgel säße. Sehen Sie, Hopkins, da habe ich es auf dem Fingernagel. Das ist Gift, tödliches Gift, und das hier, das steckte auf meiner linken Brust, als ich vorhin im Café saß. Gott, verstellen Sie sich doch nicht so, Sie werden doch schon in Ihrem Leben so etwas gesehen haben?«

Sherlock Holmes zog bei diesen Worten ein winzig dünnes Hölzchen hervor, an dessen Ende ein Stückchen Baumharz steckte.

»Die Spitze habe ich abgebrochen«, fuhr Sherlock Holmes fort, »die trage ich schon im Portefeuille, denn die Wirkung dieser kleinen Pfeile ist fürchterlich. Ein Tiger muss nach wenigen Sekunden erliegen, den Menschen tötet es blitzartig, notabene, wenn das Gift frisch ist. Um es frisch zu halten, wird es in einer kleinen

Büchse mitgenommen, und das Pfeilchen, ehe man es aus diesem merkwürdigen Stock auf sein Opfer pustet, darin eingetaucht. Nun hat dieser Herr im Café, Ihr Freund, oder wir wollen ruhig sagen, der Unbekannte, wenn es Ihnen so lieber ist, die sonderbare Marotte gehabt, mit dem kleinen Pfeilchen auf mich zu schießen. Und wirklich, Sie hätten Ihren Willen schon jetzt, wenn ich nicht die Vorsicht besessen hätte, drei Westen und zwei Röcke übereinander anzuziehen. Es ist doch hübsch, wenn man so ein bisschen Garderobe besitzt, nicht?

Ich konnte mir schon ungefähr denken, was geschehen würde. Sie haben geglaubt, der Sherlock Holmes hätte sich in der Zeit, wo Sie hinter den Gittern gesessen haben, so gut genährt. Das ist jedoch nicht der Fall; nur der Kleiderpanzer gab mir das behäbige Aussehen. Das Pfeilchen, welches so spitz ist wie eine Nadel, und das durch das Pusten Kraft erhielt, in einen Körper einzudringen, ist im ersten Rock stecken geblieben und hat meinen Körper nicht berührt.«

»Für mich ist das alles, was Sie mir erzählen, vollkommen unverständlich«, erwiderte der andere, dessen Augen seine Worte Lügen straften. »Wenigstens begreife ich absolut nicht den Zweck, zu welchem Sie mir diese Vorträge halten.«

»Nun, dann seien Sie mir doch dankbar, dass ich Ihnen alles so hübsch erkläre«, antwortete Holmes. »Sehen Sie, der Mann im Café, den ich im Verdacht hatte, Ihr Freund zu sein, war sehr vorsorglich. Er hat gleich daran gedacht, dass er möglicherweise würde zweimal pusten müssen, und da hatte er sich auch zwei der gefährlichsten Dinger zurechtgemacht. Als ich aber aufsprang und auf ihn zustürzte, wollte er schnell fort. Er war durch mein plötzliches Eindringen auf ihn verwirrt, und da hat er sich, was ich allerdings nicht wollte, mit dem kleinen gefährlichen Instrument höchstwahrscheinlich in den Finger gestochen.

Er fiel zu Boden, wie vom Blitz getroffen, ganz, wie er es von mir erwartet hatte, nicht wahr, Hopkins? Gott, machen Sie doch aus Ihrem Herzen keine Mördergrube. Die Londoner Verbrecherwelt würde mein seliges Ende mit einem solennen Abendtisch und darauffolgenden Tanz gefeiert haben. Ja, ja, aber diesmal ist die Sache eben anders gekommen. Also heute war es nichts mit uns beiden, aber ich habe so das Gefühl, dass wir uns in den nächsten Tagen nochmals begegnen. Pusten werden Sie wohl nicht, Hopkins. Den Stock hier behalte ich, und was meinen Sie wohl, wie ich jetzt auf dergleichen Dinger aufpassen werde?«

Der Detektiv war stehen geblieben und sah seinen Begleiter mit durchbohrenden Blicken an.

»Von der anderen Sache verstehe ich nichts«, erwiderte Hopkins noch einmal. »Ich habe es nur wegen meiner gehängten Kameraden mit Ihnen auszumachen. Und nun sage ich es Ihnen noch einmal, Sie erleben den Sonntag nicht mehr; in spätestens drei Tagen sind Sie tot, Holmes, denken Sie an meine Worte.«