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Der Welt-Detektiv Band 6

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Die Gespenster – Vierter Teil – 9. Erzählung

Die Gespenster
Kurze Erzählungen aus dem Reich der Wahrheit von Samuel Christoph Wagener
Allen guten Schwärmern, welchen es mit dem Bekämpfen und Ablegen beunruhigender Vorurteile in Absicht des Geisterwesens ernst ist, liebevoll gewidmet von dem Erzähler Friedrich Maurer aus dem Jahr 1798
Vierter Teil

Neunte Erzählung

Freund Hain, der Knochenmann an der Kirchtür zu Soest

Der im Jahr 1782 verstorbene Grenadier-Haupt­mann vom Wolfersdorfer Infanterieregiments Herr von Kettler teilte mir einst folgendes, ihm aufgestoßene spukhafte Abenteuer mit:

Es war kurz vor dem Ausbruch des Siebenjährigen Schlesischen Krieges, so erzählte er mir, als Dienstgeschäfte zu Soest in Westphalen einst frühmorgens um drei Uhr mich, den damaligen visitierenden Unteroffizier, über den dortigen Wiesenkirchhof führten. Ich war der Kirchtür noch nicht ganz nahe, als ich in derselben eine weiße Menschengestalt zu bemerken glaubte. Ich stutzte, fasste aber doch ein Herz und näherte mich ihr, in der Hoffnung, dass entweder Sinne oder Einbildungskraft mich hintergangen haben möchten. Allein je näher ich hinzutrat, umso mehr überzeugte ich mich mithilfe des nächtlichen Schummerlichtes, dass ich es mit etwas Wirklichem zu tun habe, und dass hier keine offenbare Täuschung obwalte, denn ich konnte bereits die Teile des Kopfes, den Hals, den Rumpf, die Arme und die Beine einzeln deutlich unterscheiden. Selbst die schwarzen hohlen Augen, die vom Fleisch entblößte Nase, die knöchernen Wangen, kurz alles, was einem wirklichen Totenkopf ähnelt, erschien mir bereits als unverkennbar.

Von nun an lief es mir eiskalt über den Rücken, ein unbe­zwingliches Grausen der Haut, ein haarsträubendes Entsetzen ergriff mich und hemmte nicht nur meine Schritte vorwärts, sondern gab ihnen auch – wie es mir vorkam – unwillkürlich eine entgegen­gesetzte Richtung, denn, aufrichtig gesagt, es war ein ungeheurer Umweg, auf welchem ich das unbegreifliche Schreckbild der Kirchtür umging.

Während dass ich so meinem anfänglichen Vorsatz untreu wurde und die rühmlich angefangene Untersuchung der Natur dieser entsetzlichen Erscheinung, gleichsam gezwungen, aufgab, zählte ich mir selbst in Gedanken all Dasjenige auf, wo­mit ich mich überreden wollte, noch jetzt zur Untersuchung zurückzukehren. Du bist ja in deinem Beruf, dachte ich, du hast ja Waffen bei dir, um dich vor jeder Gewalttätigkeit sicher zu stellen; du bist dir selbst es schuldig, dich von der höchstwahrscheinlichen Nichtigkeit dieses Gespenstes zu überzeugen; du solltest den etwaigen Gaukler züchtigen, der deinen Mut hier, so wenig ehrenvoll für dich, berechnet hat; du würdest untersuchend, gewiss um eine wohltätige Erfahrung reicher, mithin fester in deiner Überzeugung von der Grundlosigkeit aller übernatürlichen Erscheinungen.

Dies und noch mancherlei dachte ich und sagte ich mir selbst; und dennoch blieb ich, was ich war, unentschlossen und feigherzig. Ich ließ Kirchtür und Gespenst unberührt und ging meine Straße, un­willig über mich selbst, der ich einer anerkannten Pflicht zu genügen, mich zu schwach fühlte und mich bisher für mutiger und entschlossener gehalten hatte, als ich war.

So tyrannisiert uns selbst noch der Rest jenes entehrenden, schädlichen Vorurteils, das mit der Ammenmilch und mit dem albernen Geschwätz furchtsamer oder einfältiger Kinderwärterinnen in uns überging!

Sobald der Tag graute und das herzeinflößende Licht des Morgenrots die Gegenstände erhellte und alle nächtlichen Truggestalten verscheuchte, brachte ich es endlich über mich, den Weg zur rätselhaften Kirchtür hin noch einmal zu machen. Ich hoffte nämlich, entweder den vermeintlichen Geist selbst oder doch dessen hinterlassene Spuren noch vorzufinden. Wirklich betrog ich mich auch nicht in dieser Voraussetzung, denn ich fand noch die ganze Erscheinung. Sie war eine mit Kreide an die Kirchtür gemalte weiße, menschenähnliche Gestalt, vermutlich das Geschöpf eines Schulknaben. Was ich für die Totenkopfnase und die schwarzen hohlen Augen gehalten hatte, war das Schwarz des Türgrundes, um welches her die Kreide das Übrige an der Gestalt weiß gefärbt hatte.

Wie nun, wenn ich auch diese nur ein paar Stunden verschobene Untersuchung nicht angestellt, wie, wenn ein absichtlicher Betrüger oder der Zufall das Trugbild vor der Untersuchung gänzlich verwischt hätte? Wie oft mag man uns so mitspielen!