Das Gespensterbuch – Sechste Geschichte
Das Gespensterbuch
Herausgegeben von Felix Schloemp
Mit einem Vorwort von Gustav Meyrink
München 1913
Ein Gesicht Karls XI.
Von Prosper Mérimée
Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, Horatio,
von denen sich eure Schulweisheit nichts träumen lässt.
Aus: Shahespeare, Hamlet
Über Gesichte und Erscheinungen macht man sich lustig: Aber einige von ihnen sind so gut bezeugt, dass man, wenn man ihnen den Glauben verweigerte, um gerecht zu sein, sich entschließen müsste, alle historischen Beweise in Bausch und Bogen zu verwerfen.
Ein förmliches, von vier glaubwürdigen Zeugen namentlich aufgenommenes Protokoll bürgt für die Wahrheit der Begebenheit, von der ich berichten will. Ich füge hinzu, dass die in diesem Protokoll enthaltene Vorhersage bekannt war und oft zitiert wurde, lange bevor die Ereignisse unserer Tage sie zu erfüllen schienen. Karl XI., der Vater des berühmten Karl XII., war ein Despot wie nur wenige der schwedischen Herrscher, aber auch einer der weisesten unter ihnen. Er beschnitt die ungeheuerlichen Vorrechte des Adels, zerschlug die Macht des Senats und erließ Gesetze aus eigener Machtvollkommenheit; kurz, er schuf die Verfassung des Landes, die vor ihm oligarchische Züge getragen hatte, von Grund auf neu und zwang die Stände, ihm die uneingeschränkte Macht zu übertragen. Im Übrigen war er ein aufgeklärter, tapferer Mann, der fest an der lutherischen Konfession festhielt, ein unbeugsamer, kühler, nüchterner Charakter, dem jede Spur von Fantasie fehlte.
Erst vor kurzem hatte er seine Gattin Ulrike Eleonore verloren. Obwohl, wie es hieß, seine Härte gegen die Fürstin ihr Ende beschleunigt hatte, rührte ihn ihr Tod tiefer, als man es einem so trockenen Herzen zugetraut hätte. Er hatte sie geliebt. Seit diesem Ereignis war er noch düsterer und verschlossener geworden, als er es vorher gewesen war, und widmete sich seinen Geschäften mit einem Eifer, der von dem dringenden Bedürfnis zeugte, peinliche Gedanken zu vermeiden.
Eines Abends im Herbst saß er spät in seinem Arbeitszimmer im Stockholmer Schloss in Hauskleidern und Pantoffeln vor einem großen Feuer. Bei sich hatte er seinen Kämmerer, den Grafen Brahé, den er durch seine Gnade auszeichnete, und den Arzt Baumgarten, der, nebenbei bemerkt, den Freigeist spielte und Zweifel an allem forderte, außer an der Medizin. Karl hatte ihn an diesem Abend kommen lassen, um ihn wegen irgendeiner Unpässlichkeit zu konsultieren.
Es war tief in der Nacht, und entgegen seiner Gewohnheit gab der König den beiden diesmal nicht durch den Gutenachtgruß zu verstehen, dass es Zeit sei, sich zurückzuziehen. Mit gesenktem Kopf starrte er unverwandt in die Flammen und verharrte in tiefem Schweigen. Die Gesellschaft langweilte ihn, aber er fürchtete sich vor dem Alleinsein, ohne recht zu wissen, warum. Der Graf Brahé, der wohl ahnte, dass seine Anwesenheit nicht allzu willkommen war, hatte schon mehrmals seine Besorgnis darüber geäußert, ob Seine Majestät nicht das Bedürfnis habe, sich auszuruhen: Eine Handbewegung des Königs hatte ihn jedes Mal auf seinem Platz gehalten. Der Arzt seinerseits begann nun von den Schäden zu sprechen, die die Nachtwachen der Gesundheit zufügten; aber Karl stieß durch die Zähne: »Bleiben Sie, ich bin noch nicht in der Stimmung zu schlafen.«
So versuchte man, über verschiedene Gegenstände ins Gespräch zu kommen. Aber jedes erschöpfte sich nach der zweiten oder dritten Wendung; es war ganz offensichtlich, dass Seine Majestät sich einer der düsteren Stimmungen hingab, die bei ihm nicht ungewöhnlich sind, und unter solchen Umständen befindet sich ein Höfling in einer ziemlich heiklen Lage.
Graf Brahé, der vermutete, die Traurigkeit des Königs habe ihren Grund in schmerzlichen Gefühlen über den Verlust seiner Gemahlin, betrachtete eine Weile das Bild der Königin, das in ihrem Gemach hing, seufzte dann tief und sagte: »Wie ähnlich ist doch das Bildnis! Ja, es ist dieser so majestätische und zugleich so sanfte Ausdruck …!«
Der König, der bei jeder Erwähnung des Namens der Prinzessin einen Vorwurf zu hören glaubte, erwiderte kurz: »Pah! Das Bild ist zu schmeichelhaft. Die Königin war hässlich.« Dann erhob er sich, ärgerlich über sein hartes Wort, und ging, eine Erregung verbergend, die ihm die Schamröte ins Gesicht trieb, im Zimmer umher. Er blieb am Fenster stehen, das auf den Hof hinausging. Die Nacht war dunkel, der Mond stand im ersten Viertel.
Die heutige Residenz der schwedischen Könige war noch nicht vollendet, und Karl XI., der mit dem Bau begonnen hatte, wohnte noch in der alten Burg, die auf der Spitze des Ritterholms über dem Mälaren lag. Es war ein großes, hufeisenförmiges Gebäude. An einem Ende befand sich das Arbeitszimmer des Königs und fast gegenüber der große Saal, in dem sich die Stände versammelten, wenn sie eine Botschaft von der Krone erhielten.
Die Fenster dieses Saales schienen in diesem Augenblick hell erleuchtet zu sein. Dem König kam das seltsam vor. Zuerst dachte er, die Fackel eines Lakaien sei die Ursache des starken Lichts. Aber was sollte zu dieser Stunde in einem Saal brennen, der schon lange nicht mehr geöffnet worden war? Auch war das Licht viel zu hell, als dass es von einer einzigen Fackel herrühren könnte. Man hätte es einem Feuer zuschreiben können; aber es war kein Rauch zu sehen, die Fensterscheiben waren nicht zersprungen, kein Geräusch zu hören; alles deutete auf eine Beleuchtung hin.
Karl betrachtete die Fenster eine Weile, ohne ein Wort zu sprechen. Unterdessen wollte Graf Brahé, die Hand nach einem Glöckchen ausstreckend, einem Pagen läuten, den er aussenden wollte, um die Ursache dieser seltsamen Heiligkeit zu erforschen.
Aber der König hinderte ihn daran. »Ich will selbst in den Saal gehen«, sagte er. Bei diesen Worten erbleichte er sichtlich, und sein Gesicht zeigte eine Art frommen Entsetzens. Dennoch verließ er mit festen Schritten das Zimmer. Der Kammerherr und der Leibarzt folgten ihm, jeder mit einer brennenden Kerze in der Hand.
Der Portier, der die Hut der Schlüssel innehatte, war schon zu Bett gegangen. Baumgarten weckte ihn und befahl ihm im Namen des Königs, sofort die Türen des Ständesaals zu öffnen. Die Überraschung des Mannes über diesen unerwarteten Befehl war groß. Eilig warf er sich in seine Kleider und erschien mit seinem Schlüsselbund vor dem König. Zuerst öffnete er die Tür zu einem Korridor, der als Vorzimmer oder Nebenraum zum Ständesaal diente. Der König trat ein, staunte aber nicht schlecht, als er alle Wände schwarz getüncht sah.
»Wer hat den Auftrag gegeben«, fragte er zornig, »diesen Saal so zu verhängen?«
»Sire«, antwortete der Pförtner bestürzt, »niemand, soweit ich weiß. Und als ich das letzte Mal die Halle fegen ließ, war sie wie immer mit Eichenholz getäfelt. Diese Wandverkleidung stammt sicher nicht von Eurer Majestät Gerätewart«. Und schon war der König mit großen Schritten im letzten Drittel des Ganges angelangt. Der Graf und der Portier blieben dicht hinter ihm. Der Leibarzt Baumgarten war etwas zurückgewichen; er schwankte zwischen der Furcht, allein gelassen zu werden, und der Scheu, sich den Folgen eines Abenteuers auszusetzen, das sich auf seltsame Weise ankündigte.
»Gehen Sie nicht weiter, Sire«, rief der Türhüter. »Bei meiner armen Seele, hier ist ein Hexenspuk im Gange! Um diese Stunde … seit die Königin, Eure allergnädigste Gemahlin, tot ist … heißt es, sie wandle in dieser Galerie … Gott schütze uns!«
»Halt, Sire«, rief der Graf seinerseits. »Hört Ihr nicht den Lärm, der aus der Ständehalle dringt? Wer weiß, in welcher Gefahr Euer Majestät sich befinden!«
»Majestät«, sagte Baumgarten, dem ein Windstoß die Kerze ausgeblasen hatte, »gestatten Sie mir wenigstens, einige zwanzig Mann von der Leibgarde zu holen.«
»Treten wir ein«, sagte der König mit fester Stimme. Er blieb vor der Tür des großen Saales stehen. »Und du, Schließer, öffne schnell diese Tür.«
Er stieß mit dem Fuß dagegen, und wie ein Kanonenschuss hallte das Geräusch durch die Gewölbe. Der Türhüter zitterte so sehr, dass der Schlüssel gegen das Schloss schlug, ohne dass er ihn in die Öffnung stecken konnte.
»Ein alter Soldat, der zittert«, stellte Karl achselzuckend fest. »Nun gut, Graf, öffnet uns dieses Tor!«
»Sire«, der Graf trat einen Schritt zurück, »Euer Majestät mögen mir befehlen, mich vor die Mündung einer dänischen oder deutschen Kanone zu stellen, ich würde ohne Zögern gehorchen, aber Ihr nennt mich die Hölle selbst herausfordern.«
Der König riss dem Türhüter den Schlüssel aus der Hand. »Ich sehe«, sagte er verächtlich, »das geht nur mich etwas an.« Und ehe ihn seine Begleiter daran hindern konnten, hatte er die schwere Eichentür geöffnet und war mit den Worten »Mit Gottes Hilfe« in den großen Saal eingetreten.
Seine drei Begleiter, getrieben von Neugier, die stärker war als ihre Angst, vielleicht auch aus Scham, ihren König im Stich zu lassen, traten mit ihm ein.
Der große Saal war von unzähligen Flammen erleuchtet. Ein schwarzes Tuch bedeckte die Wände anstelle der alten Figurentapete. Deutsche, dänische und russische Fahnen, die Siegestrophäen der Armee Gustav Adolfs, reihten sich in gewohnter Ordnung an ihnen auf. Schwedische Fahnen, die Trauerflore bedeckten, waren in der Mitte zu sehen.
Eine unübersehbare Menschenmenge füllte die Bänke. Dort saßen, jeder nach seinem Rang, die vier Stände1. Alle waren schwarz gekleidet, und die vielen Menschengesichter, die sich von dem schwarzen Grund hell abzuheben schienen, blendeten die Augen so sehr, dass keiner der vier Zeugen dieser außerordentlichen Erscheinung in der Menge ein bekanntes Gesicht ausfindig machen konnte. So sieht auch ein Schauspieler, der vor einem großen Publikum steht, nur eine unübersichtliche Masse, in der sein Blick kein einzelnes Wesen ausmachen kann.
Auf dem erhöhten Thron, von dem aus der König zur Versammlung zu sprechen pflegte, sahen sie einen blutüberströmten Leichnam, der mit den äußeren Zeichen der königlichen Würde bekleidet war. Zu seiner Rechten stand ein Kind, mit der Krone auf dem Haupt und dem Zepter in der Hand; zu seiner Linken lehnte ein Greis, oder vielmehr ein anderes Gespenst, auf dem Thron. Er war mit dem feierlichen Mantel bekleidet, den einst die Verweser Schwedens trugen, bevor Wasa es zum Königreich machte.
Dem Thron gegenüber saßen vor einem Tisch, auf dem große Folianten und einige Pergamentrollen lagen, mehrere Personen von strenger und majestätischer Haltung. Sie waren in lange schwarze Gewänder gehüllt und schienen Richter zu sein. Zwischen dem Thron und den Versammlungsbänken stand ein schwarz verhängter Richtblock. Daneben lag ein Beil. Niemand in dieser übermenschlichen Versammlung schien die Anwesenheit Karls und seiner drei Begleiter zu bemerken. Als sie eintraten, vernahmen sie zunächst nur ein verwirrtes Stimmengewirr, aus dem das Ohr keine verkündenden Worte heraushören konnte.
Dann erhob sich der Älteste der schwarz gekleideten Richter, der das Amt des Vorsitzenden auszuüben schien, und schlug dreimal mit der Hand auf einen Folianten, der aufgeschlagen vor ihm lag. Einen Augenblick lang herrschte tiefe Stille. Durch eine Tür, die der von Karl geöffneten gegenüberlag, traten einige junge, gutaussehende, reich gekleidete Männer, die Hände auf dem Rücken gefesselt, in den Saal. Sie schritten erhobenen Hauptes vorwärts, ihr Blick drückte Entschlossenheit aus. Hinter ihnen ging ein kräftig gebauter Mann in einem braunen Lederwams. Er hielt die Enden der Seile, die ihre Hände umschlossen. Der Anführer der anderen, offenbar der Bedeutendste unter den Gefangenen, blieb in der Mitte des Saales vor dem Richtblock stehen, auf den er mit dem Ausdruck der größten Verachtung blickte. In diesem Augenblick schien der Leichnam in krampfartigen Zuckungen zu beben, und frisches purpurrotes Blut rann aus der Wunde. Der junge Mann kniete nieder, hielt den Kopf hin, das Beil blitzte in der Luft auf und fiel sofort mit einem dumpfen Schlag herab. Ein Blutstrahl spritzte auf den Thron und vermischte sich mit dem Blut des Leichnams. Der Kopf aber rollte, mehrmals von dem sich rötenden Pflaster abprallend, vor Karls Füße, die er mit Blut besudelte.
Bis zu diesem Augenblick hatte das Staunen den König stumm gemacht, aber bei diesem entsetzlichen Anblick löste sich seine Zunge. Er machte einige Schritte auf die Bühne zu und sprach, sich an die Gestalt im Mantel des Verwesers wendend, kühn den bekannten Spruch: »Bist du Gott, so sprich; bist du aber ein anderer, so lass uns in Ruhe«.
Langsam und in feierlichem Ton antwortete ihm das Gespenst: »König Karl, dieses Blut wird unter deiner Herrschaft nicht fließen … (hier wurde die Stimme weniger klar) …, sondern fünf Regierungsperioden später. Unheil, Unheil, Unheil dem Blute Wasas!«
In diesem Augenblick begannen die Umrisse der zahlreichen Gestalten dieser erstaunlichen Versammlung undeutlicher zu werden. Schon schienen sie nur noch bunte Schatten zu sein, bald verschwanden sie ganz; die sagenhaften Flammen erloschen, und die Lichter Karls und seines Gefolges erhellten nur noch die alten Wandteppiche, die ein leiser Hauch bewegte. Noch eine Weile hörte man ein wundersames Geräusch, das einer der Zeugen mit dem Rauschen des Windes in den Blättern verglich, ein anderer mit dem Geräusch der Harfensaiten, wenn sie beim Stimmen des Instruments springen. Über die Dauer der Erscheinung waren sich alle einig. Sie wurde auf etwa zehn Minuten geschätzt.
Die schwarzen Vorhänge, der abgeschlagene Kopf, die Blutströme, die den Boden färbten, alles war mit den Gespenstern verschwunden. Nur auf Karls Pantoffel war ein roter Fleck zurückgeblieben, der allein ausgereicht hätte, ihm die Szenen jener Nacht ins Gedächtnis zu rufen, wenn sie sich ihm nicht zu sehr eingeprägt hätten.
In sein Arbeitszimmer zurückgekehrt, ließ der König den Bericht über das Gesehene niederschreiben, von seinen Begleitern unterschreiben und unterzeichnete ihn dann selbst. Welche Vorkehrungen auch immer getroffen wurden, um den Inhalt dieses Dokuments vor der Öffentlichkeit zu verbergen, es konnte nicht verhindert werden, dass es bald, sogar noch zu Lebzeiten Karls Xl. bekannt wurde. Bis heute existiert sie, und niemand hat es gewagt, ihre Richtigkeit in Zweifel zu ziehen.
Bemerkenswert ist der Schluss der Schrift. Dort sagt der König: »Und wenn das, was ich hier niedergeschrieben habe, nicht die reine Wahrheit ist, so gebe ich alle Hoffnung auf ein besseres Leben auf, das ich mir vielleicht durch einige gute Werke, vor allem aber durch meinen Eifer, das Glück meiner Untertanen zu schaffen und die Gerechtigkeit des Glaubens meiner Vorfahren zu bewahren, verdienen möchte.«
Erinnert man sich an den Tod Gustavs III. und an das Urteil über seinen Mörder Ankarström, so bestätigt sich mehr als ein Merkmal des Zusammenhangs zwischen diesem Ereignis und den Umständen dieser einzigartigen Vorhersage.
Der junge Mann, der vor den Ständen enthauptet wurde, soll Ankarström gewesen sein.
Der gekrönte Leichnam sei Gustav III. gewesen.
Das Kind sein Sohn und Nachfolger Gustav Adolf IV.
Der Greis schließlich wäre der Herzog von Södermanland, Gustavs IV. Oheim, gewesen, der zunächst Regent des Königreichs und später, nach der Abdankung seines Neffen, König wurde.