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Mörder und Gespenster – Band 1 – 2. Teil

August Lewald
Mörder und Gespenster
Band 1

Der Werwolf

Kapitel 2

Ein harter Winter war über die Erde hereingebrochen. Nur die Alten und Kranken mussten zu Hause bleiben, um ihren Leib zu pflegen; nur die Wohlhabenden konnten es ihnen gleichtun. Aber wo waren die in unserem kleinen Dorf? Da niemand im Sommer Vorräte anlegen konnte, um sich in den harten Wintertagen davon zu ernähren, hieß es nun, tatkräftig Hand anzulegen, um sich einen Erwerb zu schaffen und nicht verhungern und erfrieren zu müssen.

Der Selbsterhaltungstrieb ist mächtig in uns. Auch in dem unglücklichen Simon – so war der Arme getauft worden – erwachte er. Er erhob sich aus seiner Erstarrung, sah, wie seine Kleider zu Lumpen zerfielen, und fühlte, wie er hungerte.

Ich will hinaus ins Dorf, dachte er bei sich, ich will den Mitleidigsten bitten, mir in meine Hütte zu folgen und mein Elend zu sehen. Ich will ihm zeigen, da nun alle tot sind, die unschuldig Verleumdeten, die Gefürchteten. Er soll sehen, was für ein trauriges Leben wir geführt haben; trotz aller Zauberkräfte, die wir angeblich besitzen, haben wir so sehr an allem gelitten. Ich will ihm zeigen, wie hilflos ich bin, und will ihn um ein wenig Arbeit bitten, ja, um große Arbeit, wie er sie nur auf meine starken Schultern laden will, um meine elenden Tage zu fristen.

So verließ er die Hütte. Er zog die Tür nicht hinter sich zu, denn hier gab es nichts zu stehlen. Mit scheuen Schritten näherte er sich dem Dorf. Kinder, die einen Schneemann bauten, liefen weinend vor ihm davon. Aus dem ersten Haus trat ein Mann, durch das Kindergeschrei aufmerksam geworden, mit finsterer Miene, als er Simon sah. Dieser näherte sich ihm mit flehender Gebärde und trug in kurzen, ergreifenden Worten sein Anliegen vor. Barsch war die Antwort des Bauern, aber es war eine Antwort. Dass er mit ihm sprach, ermutigte ihn.

»Seht«, sagte Simon zu dem Mann, »Ihr habt einen so schönen Holzvorrat, der noch nicht geordnet ist; Ihr habt sicher noch mehr im Wald. Ich will Euch das Holz auf meinem Rücken bringen, wo es auch liegen mag, durch den tiefen Schnee den steilsten Abhang hinunter. Ihr sollt Euer Pferd schonen und mit ihm zum Markt reiten. Dann will ich Euch alles auflesen, so sorgfältig, dass kein überflüssiger Spahn zu Boden fällt, und so klein, wie Ihr wollt. Und Ihr sollt mir nichts dafür bezahlen. Gebt mir nur täglich etwas Warmes und ein Stück Brot.«

Da verzog der Bauer noch mehr sein Gesicht, in dem deutlich zu lesen war: »Wessen erfrecht Ihr Euch?« Dann schritt er schnell zur Tür seiner Hütte, stellte sich davor, als wolle er sich den Rücken decken, hob einen Stein vom Boden auf und warf ihn nach dem Unglücklichen, der nur durch die schnellste Drehung dem Wurf entging und zerknirscht von dannen eilte.

Sein Mut war plötzlich sehr gesunken. Er ging an vielen Häusern vorüber und brachte es nicht übers Herz, einzutreten. Endlich stand er vor dem Hause des wohlhabendsten Einwohners, des Schulzen. Alles war hier so glatt und blank, so sicher und wohlbehütet, die doppelten Fensterchen waren fest verschlossen, der Schornstein rauchte, auf dem Herde flackerte ein freundliches Feuer, ein Duft wie von frisch gebackenem Brot drang aus dem Innern in die frische Morgenluft und machte einen wunderbaren Eindruck auf den Magen des armen Simon, der schon lange kein wohltuendes Frühstück mehr genossen hatte. Unwiderstehlich drängte es ihn zur Tür. Mit zitternder Hand hob er den Klöppel und erschrak fast, als er ihn fallen ließ. Schnell überlegte er sich, wie er sein Anliegen in wenigen, aber wirksamen Worten vorbringen sollte, denn er wusste wohl, dass man sich auch hier nicht auf ein langes Gespräch einlassen würde. Also musste er seine Bitte so vortragen, dass der wohlhabende Schulze sich einen Vorteil davon versprechen konnte. Weniger durfte er daran denken, sein hartes Herz zu rühren.

Als es an der Tür klapperte, schob ein Mann mit einer weiß-rot gestreiften Schlafmütze ein Stück des kleinen Fensters beiseite; es war der Schulze selbst. Kaum aber hatte er Simon erblickt, als er auch schon wieder den Kopf zurückzog und das Fenster schloss.

»Eure Tenne ist voll, Herr Schulze«, rief Simon verzweifelt, »laßt mich dreschen, ich will Euch mehr arbeiten als zwei von Euren Knechten, laßt mich nicht verhungern, Ihr grausamer Mann!«

Da hörte er von drinnen eine heisere Stimme die Hunde rufen, und seitlich aus dem offenen Stall sprangen zwei wütende Tiere auf ihn zu, denen er nicht mehr entkommen konnte. Sie fielen ihn wütend an und verbissen sich glücklicherweise in seiner Jacke. Ein kräftiges Ruckeln befreite ihn aus ihrem Rachen. Er entkam und ließ ein Stück seines verfaulten Gewandes zurück. Es schien, als hätte der Himmel beschlossen, ihn verhungern zu lassen oder ihm den Gedanken an verzweifelte Taten in die Wiege zu legen. Mit einem finsteren Blick zum Himmel biss er die Zähne zusammen und beschloss, seine Wanderung durch das Dorf zu beenden.

Hätten Elend und Entbehrung ihn nicht so ausgezehrt, wäre er der Schönste im Dorf gewesen. In seiner Jugend war er hochgewachsen und sehr kräftig, seine Züge waren edel und sanft, aus seinen Augen strahlte ein reines Feuer, seine Stimme war sanft und seine Aussprache rein. Woher kamen diese Vorzüge? Wie konnte der Himmel den so ausstatten, dem er schon vor der Geburt ein solches unverschuldetes Schicksal zugedacht hatte? Waren diese Vorzüge vielleicht der Grund dafür, dass die Jüngeren im Dorf, denen die Sage von den Werwölfen wie ein albernes Märchen vorkam, ihn hassten und verfolgten? Waren es vielleicht Neid und Missgunst, die sie dazu trieben, den Hass der Älteren gegen ihn immer wieder neu zu schüren? Denn in der Tat teilten die Frauen die Gefühle des Hasses nicht mit den Männern. Trotz aller Furcht und Scheu, die er ihnen einflößte, hatten sie im Stillen Mitleid mit dem jungen Werwolf. Aber sie wagten nicht, es laut auszusprechen.

Simon, so unglücklich er auch war, hatte es schon gemerkt. Wenn er, als seine Eltern noch lebten, abends durch das Dorf ging, waren es die Frauen, die ihm verstohlen ein Almosen oder etwas zu essen in die Hand drückten. Die Unverschämten hörten ihm auch zu, wenn er sein Leid klagte. Sie schauten ihn gerührt an, er konnte das Mitleid in ihren Augen lesen. Bei seinem jetzigen trostlosen Gang durch das Dorf war er nicht so glücklich, eine seiner früheren Freundinnen zu halten. Die strenge Jahreszeit gab ihnen andere Beschäftigungen in den Häusern; vor den Türen hatten sie nichts zu tun. Überall schickte er seine Blicke hin, nirgends ein freundliches Gesicht; er war der einzige Wanderer auf der Straße. Kein Knecht, kein Kind ließ sich sehen; es schien, als hätte sich alles bei seiner Annäherung aus dem Staub gemacht.

Dort wohnte der Metzger. Unter dem breiten Vordach des sauberen Ladens, hinter dem Tisch, das Kohlenbecken unter den Füßen, saß die hübsche junge Frau des Metzgers, im wärmenden Pelz, den sie eng um sich geschlungen hatte, die bauschige Samthaube um das zierliche rote Gesicht. Er hatte sich ihr schon oft genähert, und sie war nicht vor ihm geflohen. Die Frau fürchtete den Werwolf nicht, wie es schien. Ob sie durch den Umgang ihres Mannes, durch das blutige Fleisch, durch die großen Hunde, von denen sie stets umgeben war, abgehärtet war, oder ob ein sanftes Gemüt sie über alle Schrecken hinwegsehen ließ, um in dem schönen Werwolf nur den unglücklichen Jüngling zu sehen? Wer weiß? Wieder sah sie ihm mitleidig nach, als er in einiger Entfernung von ihrem Laden stand und nicht näher zu kommen wagte. Ein Wink von ihr beendete plötzlich seine Dummheit. Rasch wickelte sie ein gutes Stück Fleisch in sauberes Papier und reichte es ihm. Als er es nahm, fühlte er, wie sie seine Hand drückte.

Wer wollte beschreiben, wie dieser Druck eines schönen, empfindsamen Wesens auf den armen Simon wirkte! Er stammelte ein paar Worte, ohne zu wissen, was er sagte; wie gebannt stand er an der Ladentheke und blickte starr in die schönen schwarzen Augen der Frau, bis sie ihm ein Zeichen gab, sich zu entfernen, denn sie fürchtete den Überfall ihres Mannes.

Schneller als er gekommen war, machte er sich mit seiner glücklichen Beute auf den Heimweg. Es war ihm, als sei plötzlich Licht in seine Nacht gekommen. Womit hatte er das Mitleid dieser Frau erregt? Was hatte sie bewogen, sich über das Gerücht hinwegzusetzen und so freundlich zu ihm zu sein? Diese Gedanken beschäftigten ihn mehr als das Stillen des nagenden Hungers, das ihm zuvor als das dringendste Bedürfnis erschienen war. Und so saß er, in seine Hütte zurückgekehrt, noch lange nachdenklich da, ohne daran zu denken, sich aus dem Mitgebrachten eine stärkende Mahlzeit zu bereiten.