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Der Welt-Detektiv Band 6

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Der Wildschütz – Kapitel 22

Th. Neumeister
Der Wildschütz
oder: Die Verbrechen im Böhmerwald
Raub- und Wilddiebgeschichten
Dresden, ca. 1875

Zweiundzwanzigstes Kapitel

Eine Hinrichtung

Der Morgen, an welchem der traurige Akt stattfinden sollte, war angebrochen. Die zahlreiche schaulustige Menge strömte zum Richtplatz hinaus, auf dessen Mitte der Galgen aufgerichtet stand und schauerlich in die Lüfte emporragte.

Das Gebäude, worin der Delinquent gefangen saß, wurde förmlich von der Volksmasse belagert, sodass kaum der Wagen, in welchem der Verurteilte zur Richtstätte gebracht werden sollte, hindurchgelangen konnte.

Nach einiger Zeit wurde der Eingang des Gefängnisses geöffnet und begleitet von einigen Gerichtspersonen und dem Geistlichen trat der Unglückliche heraus. Ihm folgte der Henker John, in einen weiten, dunklen Mantel gehüllt; sein Gesicht wurde von der Krempe des Hutes tief verdunkelt und zur Hälfte unsichtbar gemacht. Ohne den Blick auf die wogende Menge zu richten, bestieg er das Fuhrwerk und nahm seinem Opfer gegenüber Platz.

Der Verurteilte schien nichts von dem wahrzunehmen, was um ihn her vorging. Sein Kopf ruhte auf der Brust und in den erstorbenen Augen schimmerte eine Träne. Der Geistliche versuchte ihn mit sanften Trostworten aufzurichten und zu ermutigen. Endlich erhob er den Blick, fasste krampfhaft die Hand des Predigers, drückte sie mit den Zeichen der Dankbarkeit an seine Brust und sank hierauf in seine vorige Stellung zurück.

Der unabsehbare Zug bewegte sich langsam durch die Straßen der Vorstadt, und als endlich die letzten Häuser erreicht waren, begann der Kutscher etwas schneller zu fahren. Es dauerte nicht lange, so waren sie an dem Ort der Hinrichtung angelangt. Der Geistliche stieg aus, ihm folgte der Henker. In demselben Augenblick erschien eine Gestalt am Wagen; Herr John winkte derselben, worauf der arme Sünder, unterstützt von den Gehilfen des Nachrichters, aus dem Wagen stieg.

Curt, denn er war der Hinzugekommene, zitterte fast ebenso heftig wie der zum Tode Verurteilte, den er auf dem letzten Gang seines Lebens führte. Er fühlte seine Kräfte gelähmt und Entsetzen erfasste ihn, als seine Hand den Arm des Unglücklichen berührte.

Unter der Leiter angelangt, wurde ihm das Urteil vorgelesen; der Geistliche sprach nochmals und dann zog er sich zurück; die Henkersknechte fassten den Zitternden und Herr John legte ihm die Schlinge um den Hals. All das war fast das Werk von kaum fünf Minuten. Die fürchterlichen Gehilfen zogen an und der Delinquent betrat die ent­setzliche Leiter – ein Ruck und der arme Bursche schwebte zwischen Himmel und Erde, er machte einige Bewegungen in der Luft und schwankte heftig nach allen vier Himmelsrichtungen.

Bald darauf begann sich die Menge zu zerstreuen, der Leichnam hing ruhig und die Neugierde war gestillt. Nur hin und wieder standen noch einzelne Gruppen, die den Galgen anstarrten. Endlich entfernten sich dieselben ebenfalls und ein heftiges Regenwetter, das sich schnell verbreitete, beschleunigte den Lauf der Heimkehrenden um das Doppelte.

Das Wetter begann nach kurzer Zeit sich ungemein zu ver­schlimmern; der Sturmwind fing an zu toben und ein drohendes Gewitter stieg am Himmel auf, die Wolken flogen pfeilschnell vorüber, die Blitze leuchteten und durchzuckten den verfinsterten Horizont.

Meister John nebst seinen Leuten waren nun noch die einzigen Personen, welche trotz des tobenden Ungewitters bei dem Galgen verweilten; sie schienen mit ihrem Geschäft noch nicht fertig zu sein und der finstere John schlang (wahrscheinlich aus Vorsorge) noch einen Strick um den Leib des Verurteilten, um der Gewalt des Windes weniger Spielraum zu lassen.

Hierauf entfernte man sich, um zur Stadt zurückzukehren. Curt schaute sich oftmals nach dem Hochgericht um und jedes Mal fühlte er einen Schauer durch seine Glieder rieseln bei dem Anblick des schwebenden Leichnams, der, wie es seinen Augen vorkam, mit gewaltigen Sprüngen in den Lüften zu tanzen schien.

In ihrem Quartier angekommen, entledigte sich Herr John mit Hilfe Curts seines durchnässten Mantels, dann setzte er sich an einen Tisch. Den jungen Mann mit scharfer Aufmerksamkeit betrachtend, sagte er: »Nun, Freund, wie ist dir jetzt zumute? Welchen Eindruck hat das Geschäft des heutigen Morgens auf dich gemacht?«

Der Gefragte blickte langsam empor. »Einen schrecklichen, Herr!«, versetzte er hierauf, »meine Angst war nicht minder heftig als die des armen Sünders, dessen Gestalt vor meinen Augen nicht ver­schwinden will.«

Herr John schwieg mehrere Minuten, dann trat er einige Schritte an Curt näher und sagte in leiserem Ton: »Du wirst jenen Toten wiedersehen, und zwar heute noch. Ich gebe dir die Versicherung, dass deine Hand nochmals die starren Glieder berühren wird«, fuhr er fort, »jedoch verlange ich von dir ein unverbrüchliches Schweigen. Du sollst dann mein Vertrauter sein. Es gilt ein gutes Werk zu vollziehen. Willst du mir helfen, so schlag ein.«

Mit diesen Worten reichte Herr John seinem Gehilfen die Hand.

»Ich will es«, versetzte Curt mit fester Stimme, »und man soll mich nicht mit dem Vorwurf beschimpfen können, dass ich bei einer guten Tat den Verräter gespielt habe.«

»Gut, sehr gut gesprochen, mein Junge!«, entgegnete Meister John mit dem Ausdruck vollkommener Zufriedenheit in seinen leb­haften Gesichtszügen, »ich vertraue dir vollkommen, denn dein Herz liegt auf deiner Zunge. Du kannst einen Freund nicht hintergehen, der sich gegen dich aufrichtig und mitleidig benahm.«

»Sie können hierüber außer allem Zweifel sein«, entgegnete Curt, die Hand seines Herrn erfassend. »Ich bin Ihnen treu und nun lassen Sie hören, um was es sich eigentlich handelt.«

Meister John zögerte einige Augenblicke, dann ging er leise zur Tür, und als er sich überzeugt hatte, dass sich kein Lauscher in der Nähe befinde, begann er in unterdrücktem Ton: »Würdest du den Mut haben, dich in der nächstfolgenden Nacht unter dem Gerüst des Galgens einzufinden; dürfte ich mich darauf verlassen, dass ich dich um die zwölfte Stunde dort treffen könnte?«

Curt fühlte sich bei diesem Verlangen seines Herrn in der Tat beklommen. Dieser Antrag schien ihm zu abenteuerlich, als dass er gleichgültig hätte bleiben können. »Du zögerst«, fuhr Herr John fort, »ist es Furcht oder Bedenken, was dich abhält, mir eine Antwort zu geben? Vielleicht hält dich beides davon ab.«

»Nein, nein, Herr!«, versetzte Curt, »ich hege weder Furcht, noch bin ich unentschlossen, Ihrem Wunsch Folge zu leisten. Ich werde kommen und ehe die zwölfte Stunde abgelaufen ist, werde ich unter dem Hochgericht erscheinen, um Ihre Befehle zu vernehmen. Sie werden aber ebenso gewiss erscheinen.«

»Ich werde kommen, so wahr ich lebe«, versetzte der Nachrichter, »und du sollst gewiss nicht auf mich warten.«

Der Sprecher ging nun einige Male im Zimmer auf und ab. Curt folgte ihm mit den Augen; endlich fragte er: »Darf ich jetzt den Zweck jener beabsichtigten Handlung wissen?«

»Noch nicht!«, versetzte John, »Du wirst es aber noch in der­selben Nacht erfahren. Vergiss es jedoch nicht, dich mit einer guten Waffe zu versehen. Man kann nicht wissen, ob du dieselbe nötig hast. Wie verabredet wirst du gegen halb zwölf Uhr auf besagtem Platz erscheinen.«

»Ich komme bestimmt«, entgegnete Curt.

Herr John nahm hierauf etwas Essen zu sich, dann schickte er sich an, einen Gang durch die Stadt zu machen. Bevor er sich jedoch entfernte, bemerkte er gegen Curt, dass derselbe die Zeit bis zum Abend nach Belieben für sich selbst benutzen könne.

Dieses Anerbieten kam Jenem sehr erwünscht, und als sich Herr John entfernt hatte, brachte er seine Kleidung in Ordnung, hing einen Mantel über seine Schulter und verließ das Zimmer mit dem Entschluss, die Wohnung jenes blinden Mädchens aufzusuchen, das er in einem sehr zweifelhaften Zustand verlassen hatte.

Die Wohnung der alten Martha war bald erreicht. Er stieg die Treppe hinauf und zu seiner Verwunderung fand er die Zimmertür verschlossen. Missmutig gestimmt entfernte sich Curt. Um seinen Ärger zu vergessen, trat er durch den Eingang einer niedrigen und unscheinbaren Herberge, deren Besitzer an der Tür stand und den ankommenden Gast mit einem widerlichen Grinsen begrüßte.