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Buffalo Bill Der letzte große Kundschafter – 2. Kapitel

Buffalo Bill
Der letzte große Kundschafter
Ein Lebensbild des Obersten William F. Cody, erzählt von seiner Schwester Helen Cody Wetmore
Meidingers Jugendschriften Verlag, Berlin 1902

Zweites Kapitel
Wills erster Indianer

Mein Onkel lebte in der im Kreis Platte in Missouri gelegenen Stadt Weston, die zu jener Zeit eine der größten des westlichen Nordamerikas war. Da mein Vater so bald als möglich wieder einen eigenen Wohnsitz aufzuschlagen wünschte, so ließ er uns in Weston zurück und machte sich jenseits des Missouri, von Will und einem Führer begleitet, auf die Suche nach einer für uns passenden Ansiedlung. Mehrere Tage waren bereits erfolglos verstrichen, da ließ der Vater eines Morgens den von den anstrengenden Ritten ermüdeten und noch schlafenden Will in dem für die Nacht aufgeschlagenen Lager zurück, während er mit dem Führer einen neuen Rekognoszierungsritt unternahm.

Als Will die Augen aufschlug, fiel sein Blick auf die interessanteste Erscheinung, die die Welt ihm in diesem Augenblick gerade bieten konnte – auf einen Indianer.

Der edle Indianer, wie die Rothäute von Leuten, die sie nur von Weitem kannten, poetisch genannt wurden, war im Begriff, Wills Pferd zu besteigen, während seine eigene dürre Schindmähre danebenstand.

Wills knabenhaftes Sehnen war nun erfüllt – er befand sich seinem ersten Indianer gegenüber. Auch jetzt wäre es wohl nicht zu verwundern gewesen, wenn er bei der unerwarteten Begegnung vor Schrecken erstarrt wäre, zumal diese nicht wie damals ein stolzer, flüchtiger Hirsch, sondern eine schmutzige Rothaut war, die allem Anschein nach versuchte, sich so rasch wie möglich aus dem Staub zu machen. Ohne die geringste Scheu sprang Will auf und fragte, die Flinte in der Hand: »Halt, was machst du da mit meinem Pferd?«

Verächtlich sah der Indianer den Knaben an.

»Tausche Pferd mit Bleichgesichtknaben.«

Der Indianer war stark bewaffnet, und Will wusste nicht, ob sich sein Vater und dessen Führer in Rufweite befanden oder nicht. Allein der Rothaut erlauben, mit Onkel Elias’ schönem Pferd davonzureiten, hieß so viel, als seines Vaters Vertrauen einbüßen und seiner Mutter und Schwestern Glauben an den Familienhelden erschüttern. So nahm er denn eine beherzte Miene an und sagte in gleichgültigem Tone, als handle es sich um ein ernstgemeintes Tauschgeschäft: »Nein, ich will nicht tauschen.«

»Bleichgesichtknabe ist ein Narr«, antwortete der Indianer gelassen.

Ohne sich auf diese schmeichelhafte Bezeichnung einzulassen, sagte Will ruhig, aber fest: »Ich will nicht, dass du mein Pferd nimmst.«

»Pferd von Bleichgesicht nichts wert«, geruhte der Indianer einzuwenden.

»Gut genug für mich«, erwiderte Will lächelnd, trotz des Ernstes der Lage. Der Indianer schien ein erbärmlicher Pferdekenner zu sein. »Gut genug für mich«, wiederholte Will. »Du kannst also dein altes Knochengerüst beruhigt mitnehmen und dich zum Kuckuck scheren.«

Zu Wills höchster Überraschung ließ der Indianer die Zügel los, schwang sich auf sein eigenes Pferd und ritt davon. Das ganze stolze Bild, das sich Wills Fantasie von dem Indianer gemacht hatte, stürzte damit in sich zusammen, denn wenn es für einen Helden schon eine recht schlimme Eigenschaft ist, Pferde zu stehlen, so ist es vollends unverzeihlich, vor einem noch nicht zehnjährigen Knaben zu fliehen. Allein schon wenige Augenblicke später erstanden die Trümmer des zerstörten Bildes wieder, denn Will hörte die Stimme unseres Führers in nächster Nähe und musste daraus schließen, dass der Indianer den Feind entdeckt und nicht vor dem Knaben, sondern vor dem Mann die Flucht ergriffen hatte.

Der Führer war zurückgekommen, um Will an den Ort zu bringen, den der Vater endlich zu unserer Niederlassung ausgesucht hatte. Das Stück Land lag im Salzflusstal, einem fruchtbaren, von terrassenförmig ansteigenden Hügeln begrenzten Wiesengrund. Der alte sogenannte Salzseepfad führte durch dieses Tal. Zu jener Zeit gab es nämlich zwei Hauptverkehrswege durch den Westen: den Santa Fé- und den Salzseepfad; später wurde dann auch noch der Oregonpfad von Bedeutung. Der älteste und historisch berühmteste Pfad aber war der von Santa Fé, auf dem schon vor dreihundert Jahren die Forscher ins Land gedrungen waren. Zu Anfang des vorigen Jahrhunderts hatte man ihn hauptsächlich zum Handelsverkehr benutzt. Seiner Richtung folgend, machte Zebulon Pike seinen berühmten und erfolgreichen Zug durch den Westen. Der Pfad lief südlich von Leawenworth in westlicher Richtung zum Arkansasfluss, dessen Lauf er bis zum Fort Bent folgte, wo er dann den Fluss durchkreuzte, sich zuerst scharf nach Süden und dann bei Las Vegas wieder westlich nach Santa Fé wandte. Auch die Erforschungen längs des Salzseepfades wurden zu Anfang des vorigen Jahrhunderts ausgenommen. Zur Zeit der Auswanderung der Mormonen von Nauvoo nach ihrem gegenwärtigen Wohnort ist er ein vielbenützter Verkehrsweg geworden. Er führte über den Missouri nach Leawenworth, lief dann in nördlicher Richtung bis zu dem am Platte River gelegenen Fort Kearny, folgte dem Lauf jenes Flusses, bis er sich bei Fort Bridger wieder westwärts wandte und endlich zur Salzseestadt führte. Tausende von stolzen Hoffnungen erfüllte Goldsucher wandelten auf diesem Pfad nach Kalifornien, um, zum größten Teil enttäuscht und niedergeschlagen, auf demselben Wege zurückzukehren. Lastwagen, Viehtreiber, Auswanderer – fast der ganze Verkehr nach dem Westen durch das neue Land spielte sich auf diesem Pfad ab. Ein Mann namens Rively hatte den klugen Einfall gehabt, um die Erlaubnis nachzusuchen, auf diesem Wege eine Post- und Handelsstation, verbunden mit einem Proviantmagazin, drei Meilen südlich vom Missouri zu errichten. Da die Nähe dieser Station unfehlbar große Annehmlichkeiten bringen musste, so erschien die Wahl des von meinem Vater einstwellen in Besitz genommenen Stückes Staatsland, das nur zwei Meilen von der Poststation entfernt lag, recht praktisch.

Die Kansas-Nebraska-Gesetzesbill, worin diese beiden Gebiete der freien Ansiedlung überlassen werden sollten, wurde im Mai 1884 genehmigt. Dieses Gesetz stand nun aber dem Missourivertrag, der auf allen südlich vom 36° 30′ nördlicher Breite gelegenen Gebieten die Sklaverei verbot, direkt entgegen. In einer Klausel der Kansas-Nebraskabill wurde nämlich gesagt, dass die Ansiedler selbst entscheiden sollten, ob sie in den neuen Gebieten die Sklaverei einführen wollten oder nicht. Schon vor Genehmigung der Bill hatten Hunderte von Ansiedlern bereits ihr Lager an den Ufern des Missouri aufgeschlagen und erwarteten dort die Entscheidung, ehe sie vom Land Besitz ergriffen. Meilenweit schimmerten, gleich einem breiten Band, die flackernden Lagerfeuer längs des Flüsschens durch die Schleier der Nacht.

Kaum hatte der Vater das von ihm gewünschte Gebiet mit Beschlag belegt, als das Gesetz, das den Ansiedlern die Besitzergreifung des Landes gestattete, in Kraft trat. Bald aber entbrannte ein heftiger, blutiger Streit zwischen den Ansiedlern, von denen die einen für, die anderen gegen die Einführung der Sklaverei waren.

Da mein Vater bei Genehmigung der Bill sein Stück Land bereits ausgewählt und abgemessen hatte, so war er einer der Ersten, die sich die nötigen Papiere verschafft und ein provisorisches Absteigequartier für uns fertiggestellt hatte. Was auch unsere gute Mutter über die nur aus einem einzigen Zimmer bestehende Behausung gedacht haben mag, durch deren Spalten die Sonne bei Tag und Mond und Sterne bei Nacht hereinschauten, und deren Boden vom grünen Samtteppich der Natur bedeckt war – für uns Kinder reihte sich dort ein Festtag an den anderen. Mittlerweile arbeitete der Vater mit einigen Knechten emsig an unserem Heim, und ehe der Sommer dahinschwand, waren wir in einem großen, von außen zwar grob und einfach aussehenden, aber soliden und im Inneren höchst behaglich ausgestatteten Blockhaus untergebracht.

Im Laufe des Herbstes trug sich ein Ereignis zu, das sich so tief in mein Gedächtnis eingeprägt hat, dass die Zeit auch nicht den kleinsten Umstand zu verwischen vermochte. Jane, unser treues Mädchen für alles, das uns nach unserer neuen westlichen Heimat begleitet hatte, fand nur wenig Zeit, das Kindermädchen zu spielen. Häusliche Pflichten nahmen sie den ganzen Tag in Anspruch, umso mehr, als unsere Mutter ziemlich schwächlich und die Familie groß war. So versah Türk bei uns Kindern zugleich die Stelle eines Wächters und Spielgefährten.

An einem herrlichen Septembertag begaben sich Eliza und ich in Begleitung Türks auf die Suche nach Feldblumen. Wohl hatte die Mutter uns anempfohlen, uns nicht zu weit fortzuwagen, da in den nahegelegenen Wäldern wilde Tiere hausen sollten, allein die schönsten Blumen standen immer wieder noch ein Stückchen weiter ab. So kamen wir endlich an den Saum eines etwa eine englische Meile vom Haus entfernten Waldes und ließen uns im Schatten der Bäume nieder. Die Mutter aber, die inzwischen ängstlich geworden war, hatte Will den davongelaufenen kleinen Dingern nachgeschickt.

Türk, der, wie wir uns später erinnerten, unser Weitergehen schon immer hatte verhindern wollen, wurde vollends unruhig, als wir den Wald betraten. Plötzlich begann er erregt das dürre Laub aufzuscharren, und wenige Augenblicke später tönte der gellende Schrei eines Panthers durch die Luft.

Eliza war kaum sechs und ich noch nicht vier Jahre alt. In sprachlosem Entsetzen klammerten wir uns aneinander an. Da vernahmen wir, allerdings von weit her, ein bekanntes Pfeifen – es war Wills Ruf nach seinem Hund. Das beruhigte uns unerfahrene Kinder – nun unser Bruder in der Nähe war, was hatten wir da zu befürchten? Türk aber fuhr fort, die Blätter aufzuwühlen, nachdem er seinem Herrn mit einem kurzen, lauten Kläffen geantwortet hatte. Hierauf zerrte er heftig an unseren Kleidern, uns auf diese Weise das Versteck bezeichnend, das er für uns gegraben hatte. Wir legten uns auch sofort nieder, worauf uns der Hund mit dem Laub bedeckte. Und nun stellte er sich mit dem Mut eines Löwen als Wächter vor uns auf.

Von unserem Blätterversteck aus konnten wir des Panthers schwarzbraune Gestalt auf uns zu schleichen sehen. Da plötzlich bemerkte er Türk, machte sich zum Sprung bereit und schoss wie ein Pfeil auf ihn los. Türk wich ihm aus, stürzte dann aber mit einem Schrei, wie ich ihn weder vorher noch nachher je wieder von einem Hund gehört habe, auf den Feind los.

Türk war zwar sehr stark und sein Mut bewunderungswürdig, aber mit der Kraft eines Panthers konnte er sich doch nicht messen. Nach wenigen Augenblicken schon lag der treue Hund durch einen einzigen Schlag der eisernen Tatze des wilden Tieres betäubt und blutend am Boden. Die grausame Bestie aber musste wohl andere Beute wittern, denn sie ließ Türk liegen und lief, nach uns suchend, hin und her. Wir wagten kaum zu atmen, und jeder Schlag unserer erschrockenen kleinen Herzen war ein Gebet, Will möchte noch rechtzeitig zu uns kommen. Schließlich richteten sich des Panthers rollende Augen doch auf unser Versteck, und als er zum tödlichen Sprung ansetzte, versteckten wir, von Grausen geschüttelt, unser Gesicht.

Türk aber war wieder aufgesprungen. Trotz seiner Wunde machte er einen letzten, verzweifelten Versuch, uns zu retten, indem er des Panthers Aufmerksamkeit von neuem auf sich selbst lenkte.

Da plötzlich wurde der hoffnungslose, entsetzliche Kampf durch einen wohlgezielten Flintenschuss unterbrochen. Ins Herz getroffen, brach der Panther zusammen, und aus dem schützenden Laubwerk heraus stürzten sich zwei zitternde kleine Mädchen mit todesblassen, tränenüberströmten Gesichtern in die Arme ihres Bruders.

Will, selbst noch ein Kind, streichelte und beruhigte uns in recht väterlicher Weise. Kaum war indessen die erste Erregung vorüber, so wandten wir uns voller Besorgnis nach Türk um. Zum Glück war seine Verletzung nicht gefährlich, er winselte nur leise, als sein Herr auf ihn zukam.

»Bravo, guter Kerl!«, rief Will. »Du hast sie gerettet, ohne dich wäre ich zu spät gekommen.« Dabei kniete er neben unserem treuen Freund nieder und schlang die Arme um den zottigen Nacken.

»Lieber, alter Türk! Wenn es jenseits der Sterne ein besseres Land für deinesgleichen gibt, so möge das wärmste, behaglichste Eckchen und die besten Knochen dein Lohn sein!«