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Der Welt-Detektiv Band 6

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Der Wildschütz – Kapitel 20

Th. Neumeister
Der Wildschütz
oder: Die Verbrechen im Böhmerwald
Raub- und Wilddiebgeschichten
Dresden, ca. 1875

Zwanzigstes Kapitel

Ein barmherziger Samariter

Als Curt am nächsten Morgen sein Frühstück eingenommen hatte, trat Herr John (dies war der Name seines neuen Gebieters) in sein kleines Zimmer, das man ihm auch für die Folgezeit zur Benutzung angewiesen hatte.

»Nun, Bursche, wie hast du geschlafen?«, begann der Eintretende in munterem Ton. »Ich hoffe, dass du deinen Schritt nicht bereust, nachdem du ihn beschlafen hast.« »Nein, das nicht, Herr John«, entgegnete Curt mit einem leichten Achselzucken, »obwohl ich es nicht unterlassen konnte, mich wieder dorthin zurückzuwünschen, wo ich bisher frei gelebt habe in den grünen Wäldern und unter dem Schatten der herrlichen Bäume.

»Geduld, mein Junge«, rief Herr John, »du sollst mir nur zu bald behilflich sein, einen recht schlanken Stamm in die Erde hineinzurammen, um einen Schelm daran zu hängen, dessen Sehnsucht mit der deinen sehr übereinstimmte. Er liebte gleich wie du das freie Leben, und nun ist es aus mit ihm. Morgen muss er den Hals in die Schlinge stecken, und das geschieht alles aus purer Liebe zur Freiheit.«

Curt fühlte einen Schauer durch seine Glieder rieseln; schon so bald sollte er sein fürchterliches Handwerk beginnen. Diese Wahr­nehmung machte ihn auf einige Minuten stumm. Endlich fasste er sich jedoch wieder und mit entschiedener Stimme sagte er dann: »Herr John, ich bin überzeugt, dass Sie mich mit einem Auf­trag verschonen werden, dessen Vollziehung mein Mut nicht ge­wachsen ist. Ich bin ein ehrlicher Bursche, und mein Herz würde mir erstarren, wenn ich einem Menschen das Leben nehmen sollte, dessen Schuld vielleicht nicht viel größer ist als meine eigene.«

Herr John zeigte bei diesen Worten eine Miene des Unwillens; er war es nicht gewohnt, Widerspruch gegen seinen Willen zu hören, und begann unruhig zu werden. Als Curt fortfahren wollte, sich zu entschuldigen, da stampfte der finstere Mann voll Unwillens mit dem Fuß auf den Boden, dass das Zimmer zu beben begann.

»Schweig«, rief er dann, »ich will nichts weiter hören. Du bist entweder mein Untergebener oder du gehst hin, wo du herge­kommen bist. Ich mache nicht viel Umstände und will meine Wohl­taten nicht geradezu den Leuten anbieten. Mach was du willst, aber gehorchen musst du, wenn es gilt, mir zu dienen!«

Der Wildschütz schwieg ein Weilchen, er wollte den hitzigen John nicht noch mehr aufbringen, und um ihn zu besänftigen, ver­sicherte er ihm, alles zu tun, was man von nun an von ihm ver­langen würde.

Beide Männer wurden auf diesem Weg wieder einig und nach­dem man sich über alles geeinigt hatte, entfernte sich Herr John, um seine Anstalten zu der auf den folgenden Morgen stattfindenden Exekution zu treffen, welche unweit der Residenz vollzogen werden sollte.

Um sich zu zerstreuen, verließ Curt sein Asyl und begab sich ins Freie hinaus. Es war ein schöner Morgen und die Sonne, welche freundlich aus dem klaren Himmel leuchtete, erheiterte auch die düstere Stimmung in dem Herzen des verlassenen und verfolgten Flüchtlings.

Allein das beengende Gefühl, welches ihn bei dem Gedanken an seine Lage erfasste, verbitterte ihm die wenigen Augenblicke seiner gegenwärtigen Freiheit. Er dachte an sein geliebtes Käthchen, an seine alte Pflegemutter. »Was werden sie sagen, wenn sie vernehmen, dass ich Henkersknecht geworden; o Gott, diese Umstände lassen mich den Tod herbeiwünschen!«

Nach einer Wanderung von einer Viertelstunde kehrte er zum Gehöft zurück. Hier fand er seinen Herrn fast reisefertig, denn noch am gleichen Tag wollte und musste Herr John in der Hauptstadt eintreffen, da die Hinrichtung des Verbrechers am folgenden Morgen sehr zeitig stattfinden sollte.

Die Reise ging ungehindert vonstatten und man langte am späten Nachmittag in der Residenz an, wo sich bereits die Zahl der herbeikommenden Zuschauer des traurigen Aktes zu mehren begann. Aus Nah und Fern eilte das Volk herbei und in den meisten Gast­höfen war kein Platz mehr vorhanden.

Herr John quartierte sich mit seinem Gefährten in einer geringen Schänke ein. Er wusste es nur zu gut, dass man seine Nähe ver­mied, ein Umstand, der ihn jedoch wenig bekümmerte. Die Stimmung Curts war hingegen eine verschiedene; er bemerkte es auf das Schmerzlichste, wie man ihm sowie seinem Begleiter mit den Zeichen von Furcht und Abscheu überall auszuweichen suchte. In der Herberge angelangt, welche in einer nahen Vorstadt lag, wies man ihnen ein besonderes Zimmer an. Hier fanden sie alles zum Empfang bereit; der Tisch war gedeckt und mit verschiedenen Gerichten bestückt, auch fehlte es nicht an Wein und anderen Gegen­ständen, die ein Mahl erquickend zu machen vermögen.

Herr John ließ bei dem Anblick der vollen Tafel ein unwilliges Brummen vernehmen. Die Zurüstung schien keineswegs seine Zu­friedenheit gewonnen zu haben.

»Das elende Volk!«, rief er aufgebracht, sich auf einen Stuhl werfend. »All das haben sie zuvor getan, um jede Berührung mit uns vermeiden zu können. Sie glauben, es schade ihrem guten Ruf (wenn sie anders einen solchen besitzen). Ja, ja, mein Junge«, fuhr er nach einer Pause in bitterem Ton fort, »du hast allerdings ein Handwerk gewählt, das dir keinen Anspruch auf Ehre gewährt. Wer achtet den Henker? Niemand. Sein Leben gleicht einer steten Verbannung, und zwischen ihm und der übrigen Welt ist eine Schranke errichtet, die von Vorurteilen aufgebaut wurde; doch«, fuhr er fort, »eine spätere Zeit wird vielleicht andere Meinungen mit sich bringen, und der Geächtete wird frei werden von der Schmach, die er jetzt noch zu erdulden hat.«

Mit diesen Worten stand Herr John auf und setzte sich zu Tisch. Curt leistete ihm Gesellschaft und beide genossen fast schweigend das Mahl, ohne dass sich ihnen jemand genähert hätte. Die Um­gebung des Zimmers blieb öde und kein Fußtritt störte die Ruhe umher.

Nach Tisch entfernte sich Herr John, um sich zum Ge­fängnis zu begeben. Er wollte sein Opfer vor der Hinrichtung noch sehen und sprechen, um demselben einige Bemerkungen über das Verhalten am folgenden Tag zu machen.

Nachdem er das Gefängnis erreicht und die Erlaubnis zum Besuch des Delinquenten erhalten hatte, führte ihn der Schließer einen langen Gang hinab. Am Ende desselben befand sich die Zelle des Gefangenen. Der Wärter öffnete dieselbe und beide traten in einen kleinen, sehr reinlichen Raum. Im Hintergrund saß auf einem Schemmel ein junger Mann, das Gesicht in die Hände stützend. Er schien die Eingetretenen nicht zu bemerken und verweilte in der bis­herigen Stellung.

Herr John näherte sich dem Unglücklichen und die Hand auf seine Schulter legend, sagte er in sanftem Ton: »Freund, wache auf, es ist noch nicht Zeit zum Schlafen.« Der Angeredete richtete seinen halb erstorbenen Blick auf den Sprecher. Sein Blick haftete mit einem Ausdruck auf Herrn John, dass denselben ein Gefühl tiefer Wehmut beschlich.

»Bald wird die Zeit des ewigen Schlafes für mich kommen, lassen Sie mich bis dahin in Ruhe.« Mit diesen Worten senkte er den Kopf wieder herab und nahm die vorige Stellung wieder ein.

»Verlasst mich!«, sagte Herr John, sich gegen den Schließer wendend, »ich will mit dem armen Burschen unter vier Augen spre­chen, ein Verlangen, dessen Erfüllung ich zu fordern berechtigt bin.«

Der Schließer ging hierauf schweigend hinaus, und nachdem beide allein waren, wandte sich der Nachrichter wieder gegen den Gefangenen.

,,Dein Schicksal dauert mich, armer Mensch«, begann er, »du bist noch so jung, dein Leben wäre zu einem besseren Los befähigt gewesen, als dasjenige geworden ist, dem du entgegengehst.«

»Ich habe ein solches Los auch nicht verdient«, entgegnete der Gefangene, ,,ich bin unschuldig und mein Blut wird einst gewiss über meine ungerechten Richter kommen. Doch«, fuhr er in düsterem Ton fort, ,,wer find Sie, ich sah Sie hier noch nie. Und da ich keine Hoffnung mehr für dieses Leben habe, so möchte ich auch jede Verbindung mit der Welt auflösen. Mich vermag kein Sterblicher zu retten, darum will ich meine Gedanken ungestört der ewigen Er­barmung zuwenden, die mich allein in meinem Unglück zu trösten vermag. Man beschuldigt mich eines Verbrechens, das ich nicht begangen habe. Ich soll den Pächter Andreas beraubt und um dessen Ver­schwinden Wissenschaft haben, ich habe jenen Mann nicht gekannt und Gott weiß, dass ich meine Hand nicht gegen denselben erhoben habe. Ich kann weder sagen, was mit ihm geschehen ist, noch wer das Verbrechen des Raubes oder des Mordes begangen hat.«

Der Angeklagte war in der Tat unschuldig an dem ihm zur Last gelegten Verbrechen. Er hatte, wie auch zu verschiedenen Malen von ihm angegeben wurde, einige Sachen von einem ihm fremden Men­schen gekauft. Diese Behauptung wurde für unwahr gehalten und man sprach das Schuldig über ihn aus. Sein früheres Leben gab allerdings einige Veranlassung, die Behauptung, er sei der wirkliche Täter, zu unterstützen. Da überdies mehrfache Umstände seine Schuld noch mehr feststellten, so sah er keine Rettung vor dem fürchter­lichen Urteilsspruch.

Der Unglückliche hatte sich indessen in sein unvermeidliches Schicksal zu fügen gesucht, er brachte die letzte Zeit in stummem Hinbrüten zu und wollte niemanden sehen außer den Geistlichen, der ihn täglich einige Male besuchte. Die Annäherung seines Sterbetages begann ihn nun mehr und mehr aufzuregen und zuweilen riss ihn die Verzweiflung hin. Er ergoss sich dann in lauten Klagen und versicherte und beschwor seine Unschuld mit den heiligsten Beteuerungen.

John stand gerührt dem Unglücklichen gegenüber. Er hätte so gern etwas für ihn getan, allein die Zeit war so kurz geworden. Der Abend des letzten Tages war hereingebrochen, und mit dem nächsten Morgen war ja auch der letzte Augenblick angelangt, wo das Werk vollzogen werden sollte. Es war hiernach keine Hoffnung auf Rettung und die entsetzliche Gewissheit des nahenden Todes schmetterte den armen Menschen zu Boden.

»Vertrau auf Gott, vielleicht sendet er Hilfe in deiner großen Not, ihm ist ja kein Ding unmöglich. Ich hoffe umso bestimmter auf deine Rettung, wenn du diesen schmachvollen Tod nicht ver­dient hast.«

Der Gefangene sah den Sprechenden mit starrer Verwunderung an. »Wer sind Sie«, sagte er dann, »und was kann Ihnen eine so zweifelhafte Hoffnung bieten, mich gerettet zu sehen? Sind Sie mein Freund, dann werden Sie gewiss auch offen und aufrichtig gegen mich sein: Haben Sie einen Ausweg für mich geöffnet? O, sprechen Sie, sprechen Sie! Ich«, fuhr er fort, die Hände faltend, »meine Brust wagt es, von Neuem zu atmen, von Neuem zu hoffen, dass der Himmel diese Prüfung von mir nehmen wird.«

»Ich darf mich nicht unterstehen, dich zu täuschen, mein Sohn«, entgegnete Herr John, »es wäre ein Benehmen, dessen ich mich schämen müsste. Ich muss dir die Wahrheit sagen, obwohl mir dies sehr schwerfällt, was Gott weiß; fasse dich zuvor, dann will ich dir sagen, wer ich bin.«

»Ich bin auf das Schlimmste bereit, und glaube, dass ich wohl auch das zu ertragen imstande sein werde, was Sie mir zu sagen haben. Sprechen Sie, ich bin vorbereitet genug, um Sie anzuhören. Wer sind Sie, mein Herr?«

»Ich bin der Nachrichter!«, versetzte der Gefragte in ruhigem Ton.

Ein lauter Ruf des Schreckens und der Überraschung folgte diesen Worten aus dem Mund des Gefangenen. Seine Hände, die sich ineinander schlossen, begannen zu zittern, und in seinem auf­gestörten Wesen sprach sich die größte Verzweiflung aus. »Allmächtiger Gott!«, stammelte er endlich, »das hätte ich nicht erwartet; es war ja nur ein Schritt von der Hoffnung zur Ver­zweiflung, eine kurze Spanne zwischen Hoffnung und Vernichtung! Du bist es also, der mein Leben enden wird? Ha! Es ist grässlich, wenn ich daran denke.« Mit diesen Worten sank er in die Knie und betete leise.

Meister John war tief ergriffen von dem Schmerz und der Ver­zweiflung des unglücklichen Jünglings, der höchstens dreiundzwanzig Jahre zählen konnte. Das junge Blut dauerte ihn und eben stand er im Begriff, ihm einige Worte des Trostes zu sagen, als der Ge­fängniswärter in Begleitung des Geistlichen eintrat. Herr John sah sich demnach veranlasst, die Gefängniszelle zu verlassen. Während er hinaufstieg, was sehr langsam geschah, hörte er deutlich, wie die Zurückgebliebenen miteinander zu beten begannen.

»Nun denn, in Gottes Namen«, murmelte John, »lasst sie ihre frommen Handlungen ungestört verrichten; mag der Geistliche das seine tun, um die arme Seele zu retten, ich will auch etwas tun, um …« Und stieg vollends hinauf.

Nachdem er sich noch einige Instruktionen in Betreff seines Amtes bei seinen Oberen eingeholt hatte, kehrte er zu der Schänke zurück und begab sich in sein Zimmer hinauf; es war leer. Curt hatte sich ebenfalls entfernt, und während sich sein Herr im Ge­fängnis befunden hatte, bestand Curt, der Wildschütz, ein Abenteuer, welches wir in dem nächsten Kapitel erzählen wollen.