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Nach Amerika! – Zweiter Band – 03 – Teil 4

Friedrich Gerstäcker
Nach Amerika!
Zweiter Band
Leipzig, Berlin, 1855

Das Schiff
Teil 4

Von den Zwischendeckspassagieren schien sich aber beson­ders Herr Schulze, der ein kleines Taschenteleskop in der Hand trug, mit ganzem Eifer einem anderen Studium, und zwar dem der Seemöwen hinzugeben, die hier teils auf dem Wasser schwammen, teils das Schiff umkreisten, und dann und wann blitzschnell nach einem Fisch hinunterstießen. Er folgte dabei ihrem Flug mit dem Glas, so gut er konnte, und achtete weder auf seine Umgebung noch das nahe liegende Ufer. »Merkwürdige Vögel«, murmelte er dabei, »ich gäbe et­was darum, wenn ich einen von ihnen lebendig an Deck haben könnte – äußerst merkwürdige Vögel – aber eine Ähnlichkeit bin ich noch nicht imstande herauszustellen – sie fliegen zu schnell.«

»Ist das ein gutes Glas, was Sie da haben?«, redete ihn nun Herr Steinert an, der vor Langerweile schon gar nicht mehr wusste, was er angeben sollte.

»Ein vorzügliches Glas«, sagte Herr Schulze, ihm artig dasselbe überreichend, »ein Plöffel; es vergrößert ungemein und mit außerordentlicher Schärfe.«

Steinert nahm das Glas und richtete es nach Bremerhaven zu, wo er in diesem Augenblick ein abkommendes Boot zu erkennen glaubte, das am Ufer herauf hielt. »Wahrhaftig«, rief er dabei, »das ist exzellent – wo war denn das Boot gleich – ah da – ein Boot mit Soldaten, die am Land hinaufrudern.«

»Womit?«, sagte der Steuermann, der gerade an ihm vorüberging und die Hand wie unwillkürlich nach dem kleinen Fernglas ausstreckte.

»Mit Soldaten«, sagte Herr Steinert, ihm das Glas überreichend, durch das der Seemann einen Augenblick zum Ufer hinübersah und es dann, ein paar unverständliche Worte dabei in den Bart murmelnd, wieder zurückgab. Ohne das Boot aber dann weiter eines Blickes zu würdigen, ging er nach vorn zu, den Leuten einige nötige Befehle zu geben.

»Was sagten Sie, was da am Ufer heraufgerudert käme?«, wandte sich nun der junge Bursche, für dessen Passage die Zwischendeckspassagiere noch an der Landung gesammelt hatten, und der bei dem polnischen Juden einquartiert worden war, an Herrn Steinert. »Ein Boot mit Soldaten?«

»Ja, da drüben, mein Bursche …«

»Das hierherzu kommt?«, fragte der junge Mann mit ängstlicher Stimme.

»Nun, sie tun uns nichts«, meinte Steinert freundlich, »die Zeit der Piraten ist vorüber und ihr Schiff streicht bloß so durch die Wellen, Fridolin.«

Der Bursche schien aber keineswegs aufgelegt, auf einen Scherz einzugehen. Er suchte nur mit den Blicken das Boot, das er auch bald mit bloßen Augen erkennen konnte, und stand eine Weile ratlos wie vor einer noch unbestimmten, aber doch gefürchteten Gefahr. Das Boot ruderte indessen noch eine kleine Strecke am Ufer hinauf und hielt nun, mit bloßen Augen ließ sich das schon erkennen, in die Mitte des Stromes hinaus und mehr nach ihnen herüber.

Der Obersteuermann kam wieder von vorn zurück, an ihm vorbei und blieb stehen, noch einmal zu dem Boot hin­überzusehend.

»Kommen sie hierher?«, fragte da der junge Bursche mit kaum hörbarer angsterstickter Stimme den Seemann.

»Wer?«, sagte dieser, sich nach ihm umdrehend.

»Die Soldaten«, stöhnte der junge Mann.

»Hallo, mein Bursche«, sagte aber der Steuermann, ihn nun von oben bis unten aufmerksam betrachtend. »Du bist ja so weiß wie ein altes Segel. Was hast du denn ausge­fressen, dass du dich vor den Soldaten zu fürchten brauchst?«

»Das ist allerdings Polizei, die wahrscheinlich hier an Bord zu uns kommt.«

»Dann bin ich verloren«, hauchte der arme Teufel und barg sein Gesicht in den Händen.

»Nu, nu, was gibt es denn?«, sagte der Steuermann, während sich die Nächststehenden, die wissen wollten, was da verhandelt wurde, noch mehr herandrängten. »Hast du was verbrochen, so wirst du auch jetzt dafür büßen müssen. Ge­steh es aufrichtig, vielleicht kann es dir nützen.«

Es lag in dem Ton mehr Gutmütigkeit als Drohung, und der junge Bursche, vielleicht ebenso in der Angst, seinem Herzen Luft zu machen, als auch einen falschen Verdacht von sich abzuwälzen, sagte rasch: »Nein, nein, nichts verbrochen – nichts Schlechtes habe ich getan, aber ich bin … ich bin …«

»Nun? Was bist du?«, fragte der Seemann nun selbst neugierig.

»Ein Deserteur«, stöhnte der Unglückliche und sank bleich und zitternd in die Knie. »Hm«, sagte der Steuermann mit dem Kopf schüttelnd, während das Wort von Mund zu Mund lief und mitleidige Stimmen überall laut wurden. »Das ist eine böse Geschichte, und dann bekommen wir die Rotkragen da drüben auch je­denfalls an Bord. Ja, mein Junge, da kann ich nichts für dich tun.«

»Retten Sie mich, um Gottes und des Heilands Willen, retten Sie mich«, bat der Unglückliche und versuchte in der Angst des Steuermanns Hand zu fassen. Dieser aber, der einen flüch­tigen Blick zu dem nun immer näherkommenden Boot geworfen hatte, machte sich von ihm los und ging rasch zurück in die Kajüte. Mehrere der Passagiere folgten ihnen dahin und baten ihn dringend, den Unglücklichen nicht auszuliefern, aber er wies sie kopfschüttelnd ab und zog rasch die Tür hinter sich ins Schloss.

Wie ein Lauffeuer flog aber indessen das Gerücht, ein De­serteur sei an Bord und der Capitain wolle ihn den Soldaten ausliefern, von Mund zu Mund. Nicht allein die Passa­giere nahmen Partei für den armen Teufel, sondern auch die Matrosen, die sich bisher noch ziemlich fern von ihnen ge­halten hatten, mischten sich zwischen sie und traten zu dem zitternd Dasitzenden, ihm Mut einzusprechen und ihn nach dem und jenem zu fragen. Von den Zwischendeckspassagieren hatten sich aber indessen schon einige rasch entschlossen, den Kapitän selbst aufzusuchen und ihm die Sache ans Herz zu legen, als der Untersteuermann aus der Kajüte kam, sich durch die an Deck gescharten Leute drängte und zu dem jungen Bur­schen hintrat.

»Ach, das arme junge Blut!«, riefen die Frauen, »schon an Bord und nun noch all den Jammer, all das Elend. Und dann seine Eltern zu Hause; die Schande und das Herzeleid.«

Der Untersteuermann hielt sich aber nicht mit langen Redensarten auf.

»Wie heißt du?«, fragte er den jungen Burschen, indem er ihn eben nicht sanft an der Schulter fasste und schüttelte.

»Carl Berger«, lautete die Antwort des Erschreckten.

»Carl Berger? Hm«, murmelte der Untersteuermann vor sich hin, ein Papier, das er in der Hand hielt, mit den Augen dabei mehrmals durchlaufend. »Carl Berger – du stehst ja aber gar nicht mit in der Passagierliste! Woher kommt das?«

»Ich hatte das Passagegeld noch nicht bei der Abfahrt«, stammelte der junge Bursche. »Gute Leute an Bord schossen es für mich zusammen, und als ich zum Reeder zurückkam und es bezahlte, hatte er die Liste nicht mehr und gab mir nur einen Zettel mit für den Kapitän, dass ich hier an Bord nach­getragen würde.«

»Hm, so?«, sagte der Untersteuermann und sah über Bord. Das Boot mit den Soldaten, das nun gerade auf das vor Anker liegende Schiff zuhielt, war noch kaum zwei­hundert Schritt von diesem entfernt, und es ließen sich schon die einzelnen Gesichter der im Boot stehenden Bewaffneten unterscheiden. Von dem, was an Deck vorging, konnten diese aber nicht das Geringste erkennen, da das über fünf Fuß hohe Schanzkleid, welches das Deck als Schutz umgab, alle darauf Befindlichen den Blicken der unten Heranfahrenden vollständig entzog. Der Untersteuermann wusste das auch, und wieder zu dem Deserteur hintretend fragte er, seinen Kautabak aus einem Mundwinkel in den anderen schiebend, die Umstehenden so phlegmatisch, als ob er eben nach der Zeit oder etwas an­derem höchst Gleichgültigen frage.

»Könnt ihr die Mäuler halten?«

Berger, der mit todbleichen Wangen und ängstlich klo­pfendem Herzen den näher, immer näherkommenden Ruder­schlägen gelauscht hatte, ohne dass er gewagt hätte, einen Blick hin­auszuwerfen auf den Feind, sah rasch und kaum seinen Ohren trauend zu dem Mann auf. Lag in der Frage Hoffnung, Trost für ihn?

»Ach, Herr Steuermann, schaffen Sie ihn fort – schaffen Sie ihn fort«, flüsterten aber die ihm Nächststehenden rasch und ängstlich. So nahe war das Boot schon, dass sie fürchteten, die Soldaten könnten unten verstehen, was hier oben gesprochen und verhandelt würde. »Wir beißen uns eher die Zunge ab, ehe wir den Geiern da unten ein Wort verrieten.«

»Hm«, sagte der Untersteuermann und sah sich etwas misstrauisch im Kreis um. Viel Zeit war aber auch nicht mehr zu verlieren, denn von unten herauf tönte schon die Stimme des Unteroffiziers oder Polizeibeamten, was er gerade war, der das Schiff anrief. Der Kapitän selbst erschien gleich dar­auf auf dem Quarterdeck und sah über Bord.

Carl Berger faltete in Todesangst die Hände, der Unter­steuermann aber, zu dem er nun noch, wie in letzter Verzweif­lung hilfesuchend aufsah, blinzte ihm zu und winkte ihm, fast nur mit den Augen und einer kaum bemerkbaren Bewegung des Kopfes, ihm zu folgen. Ohne sich dann weiter nach ihm umzuschauen, schritt er rasch das Deck entlang, vorn der Logiskappe zu, in die er gleich darauf ver­schwand und wohin ihm der junge Bursche mit zitternden Gliedern folgte.

»Hallo das Schiff!«, rief die Stimme indessen aus dem Boot, die, wie sich später ergab, einem der Polizeisergeanten gehörte.

»Hallo das Boot!«, lautete die seemännische Gegenant­wort des Kapitäns, als er das Deck erreicht hatte.

»Werft uns ein Tau herunter, dass wir an Bord kommen können«, rief es wieder, mehr wie Befehl als Bitte klingend.

Die nötige Ordre dazu wurde gegeben, und die Mannschaft, von den Passagieren nun dicht umdrängt, von den Matrosen aber keines Blickes gewürdigt, kletterte an Bord.

Der Unteroffizier, mit zwei Polizeidienern, ging nun, die Leute zurücklassend, zum Quarterdeck hinüber, wo der Kapitän, die Hände in den Taschen, stand, übergaben dort ihre Legitimation, dass sie beauftragt seien, das Schiff nach einem Deserteur zu durchsuchen, und forderten dem Kapitän die Passagierliste ab, die einzelnen Passagiere dann selbst zu revidieren.

Kapitän Siebelt wusste recht gut, dass er sich dem nicht weigern konnte; so wenig sich aber Matrosen, und Seeleute überhaupt, aus einem Soldaten machen, so sehr interes­sieren sie sich für einen Deserteur, dem gewiss jeder Matrose, wenn es nur irgend in seinen Kräften steht, Vorschub leisten wird. Der Kapitän ging indessen langsam in die Kajüte zurück, holte die Liste und gab sie dem Bevollmächtigten, seinem Steuermann zugleich die Weisung erteilend, die Herren gewähren zu lassen und sämtliche Zwischendeckspassagiere an Deck zu schicken. Das war bald geschehen, zwei von den Soldaten besetzten indessen die Luken, und während der Poli­zeisergeant oben die Passagiere nach Namen aufrief und die Aufgerufenen an sich vorbei defilieren ließ, untersuchten zwei andere unten die verschiedenen Kojen und stöberten überall herum, wo sich nur irgendein Kind hätte verstecken können. Zwei andere wurden zu gleicher Zeit vorn in das Logis zu den Leuten geschickt, die nun ebenfalls an Deck mustern mussten, während diese bei ihnen unten visitierten.

Aber auch selbst da ergab sich nichts und die bis dahin abgesperrte Kajüte wurde nun ebenfalls rücksichtslos von oben bis unten untersucht; ja der Steuermann musste auf Ver­langen des Sergeanten den unteren Raum öffnen, und dieser kroch selbst, hier aber von dem Untersteuermann gefolgt, der darauf sehen sollte, dass kein Unglück mit dem Licht geschähe, in das fast vollgestaute untere Deck. Zwischen den Kisten und Fässern aber, die auch fast überall dicht zusammenlagen, und in der heißen schwülen Atmosphäre konnte er mit seiner enganliegenden Uniform und dem Seitengewehr, das über­all hängen blieb, nicht lange aushalten. Nach einer halben Stunde etwa kehrte er in Schweiß gebadet und unverrichteter Sache an Deck zurück und schlug eine Einladung des Unter­steuermanns aus, der ihm anbot, auch noch durch die vordere Luke eine ähnliche Promenade zu machen. Der andere Polizeibeamte hatte indessen die Vorratskam­mern und verschiedenen Spintges mit nicht besserem Erfolg durchsucht. An Deck zurückgekehrt, wandten sich die Beamten noch einmal an den Steuermann und verlangten von diesem die Auslieferung des Verbrechers, der sich jedenfalls an Bord befinden müsse. Der Steuermann behauptete aber, noch keine Schiffsliste überliefert bekommen zu haben, da er zu viel mit dem Schiff selbst zu tun gehabt hatte, sich auch nur im Geringsten um die Passagiere zu kümmern. Der Kapi­tän wurde grob, als sie von ihm noch weitere Auskunft forderten.

»Da ist die Liste und da die Passagiere«, sagte er, »das ganze Schiff habe ich Ihnen ebenfalls zur Verfügung gestellt. Verlangen Sie nun etwa noch von mir, dass ich selbst mit herumkriechen soll oder ich dazu da sei, mich nach den Fa­milien- oder staatlichen Verhältnissen der Leute zu kümmern, die ich einfach überliefert bekommen habe, sicher und wohlbehal­ten nach Amerika hinüberzuschaffen?«

Er war darin in seinem vollen Recht, die Liste eben­falls vollständig und in Ordnung. Keiner der darauf Ange­gebenen fehlte, aber auf keinen von diesen passte auch das Signalement. Die Polizei, mit ihrer Militärunterstützung, sah sich endlich wieder genötigt das Schiff, wie sie gekom­men waren, zu verlassen.