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Der Welt-Detektiv Band 6

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Jim Buffalo – 16. Abenteuer – Kapitel 1

Jim Buffalo,
der Mann mit der Teufelsmaschine
Veröffentlichungen aus den Geheimakten des größten Abenteurers aller Zeiten
Moderner Volksbücher-Verlag, Leipzig, 1922
Der Shylock von San Francico
Das 16. Abenteuer Jim Buffalos
1. Kapitel

Eine verstoßene Tochter

In den Straßen von San Francisco heulte der Sturm. Er trieb den auf der Straße dahinhastenden Menschen Schauer ins Gesicht.

Jeder, der ein Unterkommen hatte, blieb zu Hause, und nur die Ärmsten der Armen, die nicht wussten, wo sie nächtigen sollten, krochen in Winkel, die gewöhnlich räudige Hunde und sonstiges Getier als Unterschlupf benutzten.

Schwarze Wolken, von schwefelgelben Säumen eingeschlossen, hingen schwer über der abendlichen Stadt und es war die Zeit nicht mehr fern, wo sie sich in einem schweren Gewitter entladen würden.

Die Schwüle der tropischen Natur lagerte über Palästen und Hütten.

In den Gassen des Ghettos schlich eine armselige Gestalt. Sie machte vor jedem Haus Halt und suchte sich zu schützen. Anscheinend war die Person so erschöpft, dass sie sich nicht mehr aufrecht halten konnte.

Einmal glitt sie in einem Winkel, der durch zwei Häuser gebildet wurde, nieder und blieb hier stöhnend liegen.

Aus Schmutz und Lumpen erhob sich eine andere Gestalt mit unheimlichen Triefaugen. Es war ein Mann, der hier ein Nachtlager auf dem Unrat gesucht hatte.

Er lachte unheimlich in seinen schmutzigen, langen Bart.

»Ei, ei, mein Töchterchen«, philosophierte er mit teuflischer Schadenfreude, »willst du mit mir Hochzeit machen? Bist Du gekommen, um Dich mit mir trauen zu lassen? Hahaha, Pfaffen brauchen wir nicht, denn das sind alles überflüssige Bestandteile einer abgetanen Welt.«

Die Unglückliche suchte sich zu erheben und weiter zu schleichen, aber es gelang ihr nicht. Der schreckliche Mensch, den ihr der Zufall in dieser schweren Stunde in den Weg geführt hatte, ließ sie nicht weitergehen. Er hing sich an sie und suchte ihren Mund.

»Komm, lass dich küssen, lass dir den Brautkuss geben und dann sei mein.«

Sie stieß ihn von sich, aber im nächsten Moment hatte er sie schon wieder erfasst. Schnapsatem kam aus seinem zahnlosen Mund.

Sie wollte schreien, aber die Stimme versagte. Sie war so schwach, dass sie nur einen ächzenden, Erbarmen heischenden Laut von sich zu geben vermochte.

Ein Blitzstrahl, dem ein furchtbarer Donner folge, erhellte die Umgebung. In dem Gezack der winkligen Ghettogasse war die schiefe Häuserzeile zu sehen. Giebel aus längst vergangenen Zeiten zeichneten sich unheimlich gegen den lichthellen Himmel ab.

Dann war es wieder dunkel und schwül. Der einsetzende Wind hatte sofort wieder nachgelassen.

Und wieder folgte ein Blitz und ein Donnerschlag. Und diesmal hatten die beiden Unglücklichen die Augen ineinander gekrampft. Jeder wollte sehen, wer der andere war. Die Frau war jung und schön.

Die Leidensmiene, die erlittenen Entbehrungen hatten diesem bleichen, schönen Gesicht wohl seinen Stempel aufgedrückt, aber sie hatten nicht vermocht, ihm alles zu rauben.

Die großen dunklen Augen blickten in Frucht und namenlosem Entsetzen auf den grauenhaften Menschen, der hier auf dem Schutthaufen im Winkel zweier Häuser sich zur Ruhe gebettet hatte.

Es war ein furchtbarer Anblick, den dieser Mensch bot. War dieses Geschöpf dem Grabe entstiegen?

Lumpen umschlossen seinen hageren, nur aus Knochen bestehenden Körper. Lumpen waren mit Lumpen geflickt, mit Stricken zusammen verbunden, um diesen entnervten, entsetzlich verelendeten Körper zu verdecken.

Lange, spinnenhaft lange Hände strichen behaglich durch einen struppigen, langen Bart, triefende Augen, die tief in den Höhlen lagen und die das schmutzige Gesicht belebten, starrten die Unglückliche mit geiler Gier an.

Das beiderseitige Erschrecken war gleichzeitig ein Erkennen.

»Ah, die Tochter des Shylock?«, murmelte der unheimliche Mensch. Ein furchtbar klingendes Lachen kam aus seinem Mund. »Hahaha, dass ich so etwas erleben musste. Der Mann, der mich so unglücklich gemacht hat, der mich und meine Armut auf dem Gewissen hat, dessen Tochter sucht bei mir im schmutzigsten Winkel des Ghettos Quartier? My, das soll dir gewährt werden, schöne Blume von Ghetto, wie man dich einst nannte.«

Der Unhold wollte das Mädchen in seiner Gier umarmen, aber da raffte es seine letzte Kraft zusammen und stieß ihn zurück.

Das Lachen des unheimlichen Menschen klang hinter ihr drein.

»Tröste dich mit mir!«, rief er ihr noch nach. »Die Stunde kommt bald, wo man den Shylock steinigen wird, denn er hat das ganze Ghetto arm gemacht. Noch hat er die Macht und den Reichtum, aber es gehen seltsame Stimmen um. Es ist bereits weit mit ihm gekommen, dass er die Tochter verstoßen hat und dass er sie in der Ecke verkommen lässt.«

Das hörte die Ärmste noch und sie hörte auch das schauerliche Lachen, welches aus dem Mund dieses verkommenen Menschen an ihr Ohr klang.

Sie kannte ihn. Schon seit Jahren trieb er sich im Ghetto herum und suchte in den Winkeln das zusammen, was die armen Menschen tagsüber aus dem Haus geworfen hatten. Er fand immer noch so viel, dass er sich für wenige Cent einen Schnaps oder ein paar Früchte zu kaufen vermochte.

Dieser Mensch war ein Jude. Es ging das Gerücht, dass einer der reichsten Ghettojuden, der Wucherer Ibrahim Samuel Nathan, ihn um alles gebracht habe.

Das war ihm zu Kopf gestiegen und er lebte nur noch von der Gnade seiner Mitmenschen, nachdem er alles vertrunken hatte, was noch übriggeblieben war.

Der Mann hieß Orloff Isac, aber im Volksmund nannte man ihn nur Lumpen-Isac.

Das verhärmte unglückliche Mädchen war die Tochter Ibrahim Samuel Nathans. Sie galt als die schönste jüdische Maid im ganzen Ghetto. Ja, es war zweifelhaft, ob es überhaupt ein schöneres Mädchen in ganz Frisco gab. Sie war vor drei Jahren plötzlich aus dem Haus des alten Nathan verschwunden. Er selbst sprach nicht von ihr. Es schien, als ob er von dieser Zeit an noch geiziger geworden sei.

Inzwischen wankte die Unglückliche weiter. Sie erreichte eine andere Gasse. An einer Laterne machte sie noch einmal Rast. Sie hob bittend die Hände zum Himmel empor.

Sie betete: »Barmherziger Gott im Himmel, stimme sein Herz weich, veranlasse ihn, dass er mich erhört und mich in meinem Elend nicht von sich stößt. Ich will jeden Tag zu dir beten und meine Sünde bereuen.«

So und ähnlich sprach dieses schöne, verzweifelte Geschöpf mit seinem Herrgott.

Editta, so hieß die einzige Tochter Nathans, taumelte weiter. Sie strich an den Häusern entlang.

Wenn einmal ein scheues Menschenkind, ob Mann oder Frau, über die Straße huschte, um einen notwendigen Gang zu besorgen, dann verbarg sie ihr Gesicht hastig in dem zerrissenen Tuch, welches sie um den Kopf geschlungen hatte.

Alle kannten sie, den reichen geizigen Nathan, den Shylock von San Francisco. Und kein Mensch ahnte, dass seine Tochter in dieser elenden Jammergestalt durch die Straßen und Gassen des Ghettos schlich.

Ein alleinstehendes Haus tauchte auf. Es war von einem Garten ringsum eingefasst. Ein schmaler Weg, der von einem niederen Zaun links und rechts eingegrenzt war, führte zur Haustür.

Die Unglückliche machte nochmals Rast. Dann wankte sie auf die Tür zu. Sie ergriff die die Klinke – aber die Tür war verschlossen. Zaghaft klopfte sie. Dann schlug sie stärker gegen die Tür und rief mit schwacher Stimme: »Mach auf – Vaterleben, und lass deine Tochter ein.«

Ein Blitz zuckte über die Stadt nieder, der das Häusermeer in hellgelbes Licht tauchte. Der folgende Donner machte die Stadt erzittern.

Die Unglückliche rief immer und immer wieder. Endliche schienen man sie gehört zu haben. Oben öffnete sich ein Fenster und der Kopf eines alten Mannes kam zum Vorschein.

Es war Ibrahim Samuel Nathan, der Shylock von San Francisco. Aufmerksam lauschte er in die Nacht hinaus.

»Wer will etwas von mir?«, fragte er mit kreischender, bissiger Stimme. »Am späten Abend mache ich keine Geschäfte. Ich kann jetzt nicht die Tür öffnen.«

»Nicht um Geschäfte handelt es sich, Vater!«, rief die Unglückliche verzweifelt hinauf, »dein unglückliches Kind sucht im Vaterhaus Schutz und Aufnahme!«

Der Alte wurde starr.

»Wer rief da?«, schallte es zitternd hinab.

»Ich bin es – ich – Editta, deine unglückliche Tochter!«

»Ich habe keine Tochter mehr – scher dich von meiner Schwelle – oder mein Fluch trifft dich – der Fluch eines gläubigen Juden.«

Klirrend flog das Fenster wieder zu und im gleichen Moment ergoss sich ein fruchtbarer Wolkenbruch über die Stadt. Editta glaubte ihren Ohren nicht zu trauen. Sie war wie betäubt. War es möglich, dass ihr Vater so hartherzig sein konnte? Wer brachte es über sich, sein eigenes Fleisch und Blut in diesem Wetter von der Schwelle seines Hauses zu treiben?

Sie richtete sich hoch. Ihr Blick war leer und trostlos. Für sie gab es nur einen Weg, den zum Ende. Sie wusste nun, was sie zu tun hatte. Mochte Gott der Herr ihr verzeihen.

Sie wankte dieselbe Straße wieder zurück. Und sie kam auch an dem Winkel vorüber, in welchem es sich der Unhold trotz des Gewitters bequem gemacht hatte. Es fiel ihm nicht ein, sich einen anderen Platz zur Ruhestatt für die Nacht zu suchen.

Er sah auch die Unglückliche wieder herankommen und stellte sich ihr in den Weg. Seine Knochenhände fassten nach ihr und sie war nicht imstande, sich zu wehren. Mit einem letzten Aufschrei sank sie zu Boden, während der Unhold sich über sie beugte.