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Der Wildschütz – Kapitel 9

Th. Neumeister
Der Wildschütz
oder: Die Verbrechen im Böhmerwald
Raub- und Wilddiebgeschichten
Dresden, ca. 1875

Neuntes Kapitel

Die Spielernacht

Nachdem Curt beinahe eine Stunde lang im Wald umher ging, erreichte er den einsamen Pfad, der ihn zu der Wohnung seiner Pflegemutter führte. Er konnte es nicht unterlassen, sie zu besuchen. Sie musste seinetwillen gewiss sehr vielen Kummer empfinden, wie er sich leicht denken konnte, und darum wollte er sie von dem glücklichen Ereignis seiner Befreiung benachrichtigen und ihren gesunkenen Mut durch sein Erscheinen beleben.

Es dauerte nicht lange, so hatte der Heimkehrende die Hütte erreicht. Es herrschte die größte Stille im Bereich derselben. Curt zögerte einige Zeit, ehe er zu rufen wagte. Es tat ihm fast leid, den Schlummer des alten, guten Mütterchens zu stören, jedoch der Gedanke, dass seine Ankunft sie gewiss erfreuen werde, verdrängte die gehegten zarten Rücksichten gegen sie. Deshalb fing er an zu pochen. Als sich jedoch nach mehrmaliger Wiederholung kein Erfolg zeigte und es nach wie vor im Inneren der Hütte ruhig blieb, da ergriff ihn eine bange Ahnung. Die innere Unruhe trieb ihn zum nochmaligen Versuch, die Bewohnerin zu wecken, allein es war vergebens.

Sollte die alte Frau abwesend sein? Dies konnte Curt kaum vermuten, da sie seit einigen Jahren ihre Wohnung nicht verlassen hatte. Er umging die Hütte, wobei er bemerkte, dass die Öffnung bisher noch unverschlossen geblieben war, durch die er kurz vor seiner Gefangennahme hatte entschlüpfen wollen. Der Wildschütz besann sich nicht lange und stieg hinein.

Die Tür des Wohnzimmers befand sich unverschlossen, die äußere Tür dagegen war verriegelt. Da er mit der Einrichtung des kleinen Hauswesens hinreichend bekannt war, gelang es ihm bald, Licht zu machen, wobei er sogleich bemerkte, dass gegenwärtig jene gewohnte Ordnung nicht wie gewöhnlich herrschte. Die Alltagskleider der Bewohnerin lagen zum Teil auf dem Fußboden umher und gaben den fast sicheren Beweis, dass Elisabeth ihren Herd in dringenden Angelegenheiten habe verlassen müssen.

Die Ursache, warum dies geschehen sein mochte, blieb dem Staunenden ein Rätsel. Sollte sein eigenes Schicksal die Veranlassung gewesen sein? Es war leicht möglich, obwohl er sehr daran zweifelte.

Nachdem er sich vollkommen überzeugt hatte, dass die Gesuchte nicht da sei, verließ Curt mit ahnungsschwerem Herzen die einsame Hütte, und zwar auf demselben Weg, auf welchen er ihr Inneres betreten hatte. Er durfte sich nicht länger hier aufhalten, ohne Gefahr zu laufen, bemerkt zu werden. Lange Zeit stand er mit gesenktem Haupt neben der Wohnung, wo er seine Jugend verlebte.

»Wo soll ich jetzt hin?«, sagte er in bitterem Ton zu sich selbst, »bin ich nicht wie ein Ausgestoßener? Niemand ist mir nun noch übriggeblieben, der sich mit aufrichtiger Seele mir entgegen wendete. Es ist ein hartes Schicksal, das mich verfolgt. Ach, hätte es mir einen einzigen Freund gegeben, an dessen Brust ich mein armes Herz jetzt von seinem Kummer entlasten könnte. Ja, bei Gott, ich glaube, wenn ich einen solchen gehabt hätte, dann würde es besser mit mir stehen. Er würde mich zurückgehalten haben, wenn mich meine Leidenschaft hinzureißen drohte, und ich hätte seiner warnenden Stimme gewiss Gehör geschenkt.«

Das Gesicht in den Händen verbergend, wandte er nun der Wohnung den Rücken, doch plötzlich fuhr ihm ein schneller Gedanke durch die Brust. Er beschloss, den alten ehrlichen Leonhard aufzusuchen.

Er hoffte bei demselben Obdach und Unterstützung zu finden, auch konnte ihm der Bärenwirt vielleicht eine Nachricht von Elisabeth geben.

Ohne Zögern begab er sich nun auf den Weg zum Dorf, an dessen nördlichem Ende, und zwar dem Wald am nächsten, die Bärenschänke lag. Das ärmliche Wirtshaus machte beim ersten Anblick einen unangenehmen Eindruck auf den Daherkommenden, und zwar wurde diese Stimmung durch den Gedanken an Georg in ihm hervorgerufen, mit dem er sich eigentlich seit seinen Kinderjahren nicht hatte vertragen können. Indessen hoffte er den Bärenwirt allein zu treffen, da Georg gewöhnlich selten anwesend war. Bevor Curt jedoch eintrat, spähte er sorgsam an den verschlossenen Fenstern. Es war trotz der späten Stunde noch Licht im Inneren und der Schimmer desselben drang hin und wieder durch die aufgesprungenen Läden. Auch vernahm der Horchende das Murmeln von mehreren Stimmen, worunter er Georg deutlich zu erkennen glaubte.

Unter solchen Umständen schien es dem Flüchtling gefährlich, in das Haus hineinzugehen. Um jedoch die Nacht nicht unter freiem Himmel zuzubringen, stieg er durch die unverschlossene Fensteröffnung eines kleinen Gemaches, das zu ebener Erde lag und von Leonhard mit dem Namen die Schlachtkammer bezeichnet wurde, indem in früherer Zeit gewöhnlich an diesem Ort das zum Verkauf bestimmte Fleisch aufbewahrt und abgewogen wurde. Gegenwärtig stand das Gemach leer, ausgenommen einiges abgenutzten Wirtschaftsgerätes, das man in Ermangelung eines anderen Platzes hier zusammengestellt hatte, um es vielleicht nach und nach den Flammen zu opfern.

Es darf nicht unbemerkt bleiben, dass dieser Raum nur durch eine mit Kalk übertünchte Lehmwand von der eigentlichen Schankstube getrennt wurde. Ehedem hatte beides durch eine Tür in Verbindung gestanden, was jedoch gegenwärtig nicht mehr der Fall war. Wenn man von einem Ort zum anderen wollte, so musste man zuvor über den ungepflasterten Hausflur, dessen Wände und Gebälk von einer dicken, glänzend schwarzen Kienrußdecke überzogen war.

Wir lassen den geborgenen Curt in seinem Asyl zurück und sehen, was für Gäste der alte Leonhard in so später Nachtzeit noch bewirtet.

Es war Georg in Gesellschaft seiner beiden Freunde und was Wunder, dort saß auch Herr Andreas, Pächter des Grafen Praßlin. Der vor Kurzem erlittene Unfall hatte seine Sucht nach geselliger Unterhaltung nicht verdrängt. Kaum, dass er genesen war, so fing er auch seine frühere Lebensweise wieder an. Während sein Pferd ungeduldig in dem elenden Stall stampfte und nach der Heimat wieherte, saß er ruhig noch, ganz und gar vertieft in die Wendungen des Kartenspiels, ohne an die Pächterei noch an die Gefahren zu denken, die er vor Kurzem in doppeltem Maße zu bestehen gehabt hatte. Andreas war ein angenehmer Gesellschafter. Die Gabe, sich und andere zu unterhalten, war ihm besonders eigen, allein trotzdem war es ihm seit seiner Anwesenheit in der Schänke nicht gelungen, eine ungezwungene Heiterkeit unter den drei anwesenden Personen zu verbreiten. Eine gewisse Zurückhaltung und Scheu wollten den Bestrebungen des Pächters nicht weichen, zumal bei Georg. Er schielte den Pächter nur zuweilen von der Seite an und wandte sich sogleich hinweg, wenn jener sein scharfes Auge auf ihn richtete.

Die beiden anderen Genossen besaßen indessen mehr Keckheit in ihrem Benehmen. Sie hörten mit der größten Gleichgültigkeit die Erzählung des Pächters an, machten keine Miene bei dem Bericht über den Unfall und die Ausführung des Raubes in seinem Haus. Als er zu Ende war und die Unterhaltung zu stocken begann, da einigte man sich, ein Spiel zu machen, wozu sich Andreas auch sogleich bereitwillig zeigte.

Da saßen sie nun bereits vom Abend bis um die ersten Stunden nach Mitternacht. Der alte Leonhard war zur Ruhe gegangen und der Pächter befand sich mit den drei gefährlichen Menschen allein, die ihn vor wenigen Tagen nach dem Leben getrachtet und in seiner Abwesenheit sein Haus beraubt und ausgeplündert hatten.

Der Pächter trug indessen eine Unbefangenheit in seinem Benehmen zur Schau, welche die drei verbrecherischen Genossen vollkommen sicher machte. Es war nicht denkbar, dass der Beraubte Verdacht hegte. Er würde sich dann nicht so lange in ihrer Mitte aufgehalten und gewiss schon früher die Schenke verlassen haben, insbesondere, da die Gefährten Georgs schon anfänglich davon gesprochen hatten, den nächsten Morgen zur Hauptstadt abzureisen. Der Pächter würde gewiss seine Maßregeln zu ihrer Verhaftung getroffen haben, um die Vögel nicht hinwegfliegen zu lassen.

Nach Verlauf einer kleinen Stunde warf Georg endlich die Karten unwillig aus der Hand. »Ich spiele nicht mehr weiter«, sagte er, »der Teufel müsste mich plagen, wenn ich heute Abend noch einen Groschen daran setzte, ich kann doch nichts gewinnen.«

»Na, sei nicht böse, mein Junge«, rief der Pächter lachend, »das Glück kommt wieder und du musst es geduldig erwarten.«

Während Andreas dies in einem höhnischen Ton sagte, betrachtete er mit Wohlgefallen die verschiedenen Münzsorten, welche er vor sich liegen hatte und zum Zeitvertreib in verschiedene Rollen ordnete.

»Es ist spät geworden«, fuhr er fort, »und ich habe nichts dagegen, wenn wir aufhören. Ich habe noch einen weiten Weg zu machen und daher ist es Zeit, dass ich heimkehre.«

Mit diesen Worten begann er das gewonnene Geld einzustreichen und zu sich zu stecken. Plötzlich hielt er in seiner Beschäftigung inne. Seine Hand hielt ein Geldstück gefasst, während sein Blick fragend auf seinem Nachbar ruhte.

»Was sehe ich, wo haben Sie dieses Geldstück her?«, rief er. »Ich kenne es, denn ich habe es jahrelang besessen, bis zu jener Nacht, wo ich beraubt wurde. Antworten Sie mir, auf welche Weise kamen Sie in den Besitz dieser Münze?«

Der Gefragte zeigte sich in dem ersten Moment verlegen; er fasste sich jedoch bald wieder und rief: »Wie kann ich das sagen, der Henker mag es wissen, wer es mir gegeben hat!«

»Sie wissen es ohne Zweifel!«, rief der Pächter aufgebracht, »und wenn Sie es nicht gestehen, dann sage ich es Ihnen ins Gesicht, dass sie es unehrlicher Weise erworben haben!«

»Donner und Wetter, das ist zu arg!«, rief der Gauner, »ich will verdammt sein, wenn ich Ihnen diese Grobheit nicht bezahle.«

Mit diesen Worten fasste er den Pächter an der Brust und schnürte ihm das Halstuch fest zusammen, sodass jener kaum Atem zu holen vermochte. Andreas war jedoch ein starker, kräftiger Mann und er würde seinem Gegner Trotz geboten haben, wenn nicht die beiden anderen sich in den Streit gemischt und ebenfalls gegen den Einzelnen eingedrungen wären.

Die Furcht, sich durch die Entdeckung Martins verraten zu sehen, erregte in dem Inneren der verbündeten Gauner die schwärzesten Gedanken. Sie sahen fast nur noch einen Ausweg, um die drohende Gefahr zu unterdrücken.

Als der Streit immer heftiger wurde, wachte auch Curt aus seinem unruhigen Schlummer auf, in welchen er unterdessen gefallen war. Er horchte und bemerkte deutlich, dass mehrere Personen heftig miteinander rangen. Dies konnte eine Viertelstunde gedauert haben, als plötzlich ein schwerer Fall geschah und ein jammerndes Stöhnen vernehmlich wurde.

Curt erschrak heftig, ein Gefühl der Angst erfasste sein Herz, er lauschte mit anhaltendem Atem, allein es war alles still geworden. Bald darauf entstand ein leises Flüstern, sowie Geräusch von Fußtritten. Die Tür des Schankzimmers knarrte in ihren Angeln und das leise Hin- und Hergehen mehrerer Personen auf dem Hausflur wurde deutlich hörbar.

Curt horchte erwartungsvoll. Was konnten die Anwesenden vorhaben? Er wagte es nicht, sein Versteck zu verlassen. Plötzlich gewahrte er Geräusch an seiner Tür und da er vermutete, dass die zweifelhaften Gäste hineintreten würden, so zog er sich schnell zurück und kroch in eine leere Tonne von ziemlicher Größe, welche umgestürzt neben ihm lag.

Erwartungsvoll lauschte er nun dessen, was kommen sollte. Seine Vermutung ging auch in Erfüllung, indem einige Minuten später jemand hereintrat. Das in der Eile gewählte Versteck bot Curt die willkommene Gelegenheit, durch das Spundloch alles beobachten zu können, was um ihn her vorging. Er verhielt sich mäuschenstill und schaute mit pochendem Herzen zur Tür des Gemachs, dessen Wände von einem bleichen Lichtschimmer erhellt wurden.

Der Lauschende erkannte in dem Eingetretenen sogleich die Gestalt Georgs. Er trug eine Laterne mit sich und nachdem er sich im Raum aufmerksam umgeblickt hatte, öffnete er die Tür noch weiter, dann setzte er die Laterne hinweg und zog einen alten morschen Kasten hervor, der dicht neben der Tonne stand, in welcher sich Curt versteckt hielt.

In diesem Moment traten die beiden Kumpane Georgs ebenfalls ein. Das Blut begann in dem Herzen Curts zu erstarren, als er deutlich bemerkte, wie sie den leblosen Körper des Pächters Andreas hereintrugen. Das Gesicht des Letzteren war mit Blut überdeckt und die Kleidungsstücke hingen zerrissen herab; ein Beweis, dass der Kampf ein fürchterlicher gewesen sein musste, ehe es gelang, den Unglücklichen zu bezwingen.

»Wir müssen eilen, um bei unserer Arbeit nicht überrascht zu werden«, flüsterte der Jüngere von Georgs Gefährten, welcher sich Julian nannte, »es wäre fürchterlich, wenn wir ertappt würden. Ich kann den schweren Leichnam nicht länger halten.« »Berthold, ich bitte dich, lass ihn herab.«

»Schweig«, murmelte der andere. »Es musste geschehen, um unserer Sicherheit willen lasst uns den Akt schleunig zu Ende bringen. Georg, bist du fertig?«

Es erfolgte ein dumpfes Ja aus dem Mund des Letzteren, dann brachte er einen Sack herbei, worin man den Körper steckte, allein der Leichnam war bei Weitem zu umfangreich, als dass er vollkommen Raum gefunden hätte. Er ragte eine Kopflänge über der Öffnung hinaus.

»Was ist zu tun? Wir müssen den Kopf abschneiden«, sagte Berthold, »ein Verfahren, was uns sogar als eine Maßregel zu unserer Sicherheit dienen kann.«

Julian und Georg, weniger verhärtet als ihr fürchterlicher Gefährte, wandten sich schaudernd ab. Es begann ihnen vor den Augen zu schwindeln. Berthold zog unterdessen ein scharfes Messer heraus und verrichtete mit scheinbarem Gleichmut die Gräueltat. Bald darauf entfernten sich die Mörder mit dem Opfer ihres Verbrechens, in der Eile die Laterne zurücklassend, welche geisterhaft die schreckliche Umgebung erleuchtete.

»All Barmherziger!«, stöhnte Curt von Entsetzen ergriffen, während er sein Versteck verließ, »war dies ein Traum oder Wahrheit? Nein, nein, es kann nicht Wahrheit sein, und doch beweisen die Blutflecken auf dem Boden das Gegenteil. Fort, fort«, flüsterte er zusammenschaudernd, »hier walten Mord und Verderben! Ich muss mein Leben zu retten suchen, um den Tod jenes Unglücklichen zu rächen.«

Mit einem Sprung war er hinaus, und als folge seinen Schritten Tod und Schrecken, eilte er ins Freie. Ein sanfter Wind fühlte seine Fieberhitze nach und nach, und erst als er die Mordhöhle aus den Augen verloren hatte, begann sich seine Hast zu mäßigen.

 

***

 

Das Verschwinden des Pächter Andreas verursachte in der Umgegend ungemeines Aufsehen und die herrschende Stimmung steigerte sich zum Entsetzen, als einige Tage nach jener Nacht der kopflose Leichnam des Gemordeten von einigen Holzfällern im Wald gefunden wurde. Die Mörder hatten den Körper in ein tiefes Loch geworfen, das durch die Entwurzelung eines Waldbaumes gebildet worden war, und mit Boden und Steinen zugedeckt. Was man mit dem Kopf des Unglücklichen angefangen hatte, blieb ein Rätsel. Es dauerte sogar jahrelang, ehe es gelang, über diesen entsetzlichen Vorfall eine genaue Aufklärung zu gewinnen.1 Die Gattin des Ermordeten wollte verzweifeln über die Nachricht, dass man ihren Mann in einem so grauenhaften Zustand gefunden habe. Sie rang die Hände und gab sich den Gefühlen ihres Schmerzes dergestalt hin, dass sie wahnsinnig wurde. Man brachte die Unglückliche in eine Irrenanstalt, wo es jedoch den Bemühungen der geschicktesten Ärzte nach langer Zeit gelang, die verdüsterten Blicke ihres Geistes wieder zu erhellen.

[1]

 

Show 1 footnote

  1. Man darf nicht annehmen, dass wir hier Erdichtungen liefern, es liegen vielmehr unserer Erzählung wirkliche Tatsachen zum Grunde. Zwar existierten die oben bezeichneten Verbrecher dem Namen nach nicht im wirklichen Leben, dennoch aber müssen wir bemerken, dass die hier angeregten Verbrechen in dem Zeitraum der letzten Jahre verübt worden sind.