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Nick Carter – Das Opfer eines Giftmischers – Kapitel 2

Nick Carter
Amerikas größter Detektiv
Das Opfer eines Giftmischers
Ein Detektivroman

Der Mann mit dem Doppelnamen

Der Detektiv hatte, vor dem gesuchten Haus angekommen, wiederholt die Türklingel in Bewegung zu setzen, bevor ihm geöffnet wurde. Als dies geschah, sah er sich einem hochgewachsenen, breitschultrigen Mann gegenüber, dessen helle und fast zarte Gesichtsfarbe in auffälligem Gegensatz zu dem rabenschwarzen Haupthaar und dem langen, sorgsam gepflegten Vollbart stand.

»Bart- und Haupthaare sind gefärbt«, schoss es Nick Carter sofort durch den Sinn. »Seine Gesichtsfarbe ist diejenige eines Blonden!«

Es entging ihm nicht, dass sein Gegenüber sich in großer Erregung befand und ihn so grimmig anstarrte, als ob er den Detektiv in der nächsten Sekunde tätlich angreifen wollte.

»Wer sind Sie, und was wollen Sie?«, brummte der Öffnende. »Wir empfangen keinerlei Besuch und ebenso wenig Offerten von Agenten, Hausierern und dergleichen Pack mehr!«

Damit wollte er auch schon die Tür wieder schließen, doch Nick Carter hatte seinen Fuß bereits dazwischen gestellt.

»Ich bin gekommen, um Mr. Atherson zu sprechen. Ich halte diesen Herrn für einen Gentleman und beanspruche, als ebensolcher behandelt zu werden. Übrigens ist mein Name Nick Carter!«

»Doch nicht der berühmte Detektiv?«, entfuhr es den Lippen des Öffnenden.

»Allerdings!«, gab Nick Carter gelassen zurück. »Sie sind Mr. Atherson, nicht wahr?«

»Der bin ich«, erklärte der Hausherr, dessen Verhalten mit einem Schlag völlig verändert erschien. »Bitte, Mr. Carter, treten Sie näher.«

Damit schloss er die Haustür und geleitete seinen Besucher in einen elegant eingerichteten Parlor, wo er ihn zum Niedersetzen nötigte.

»Ich muss Sie meines ungehobelten Benehmens willen um Entschuldigung bitten«, begann der Hausherr mit gezwungener Höflichkeit. »Doch ich habe soeben erst eine sehr unliebsame Überraschung erlebt, welche mich nahezu fassungslos gemacht hat. Da will es mir nun wie ein Wink des Schicksals erscheinen, dass just in dem Augenblick, wo ich vergeblich überlege, was zu beginnen sei, Amerikas berühmtester Detektiv an meiner Schwelle erscheint!«

»Sie überschätzen mich, Mr. Atherson«, wehrte Nick Carter lächelnd ab, dem es nicht entging, wie der Hausherr sich gar nicht über den Grund seines Kommens zu unterrichten versuchte.

»Hängt Ihre Gemütserregung mit einer Angelegenheit zusammen, welche mich beruflich interessieren könnte?«

»Allerdings«, versetzte Atherson, dessen hochgradige Erregung ihn augenscheinlich der Fähigkeit, kühl nachzudenken und zu erwägen, vollständig beraubt hatte. »Sie müssen nämlich wissen, Mr. Carter, ich habe das Unglück, eine jüngere, geisteskranke Schwester zu besitzen, welche hier im Haus die liebevollste Pflege erhielt, wenn wir natürlich auch gewisse Vorsichtsmaßregeln hin Anwendung bringen mussten – nun stellen Sie sich mein Entsetzen vor, als ich gewahr werden musste, dass die Unglückliche heute Morgen auf eine mir völlig unerklärliche Weise die Flucht ergriffen und sich unsichtbar gemacht hat!«

»Das ist allerdings seltsam«, bemerkte der Detektiv, sein Gegenüber forschend dabei anblickend. »Immerhin ist das nicht weiter aufregend, Mr. Atherson, denn es wird Ihnen zweifellos schnell gelingen, Ihre Schwester wieder aufzufinden.«

»Nein, nein!«, unterbrach ihn Atherson erregt. »Die Sache liegt viel tiefer, als sie vermuten können, Mr. Carter – doch was mir da übrigens einfällt«, unterbrach er sich, die Hand an die Stirn legend, »warum wollten Sie mich eigentlich besuchen?«

»Eine einfache Erkundigung wollte ich einziehen«, gab der Detektiv gelassen zur Antwort. Er bemerkte wohl, wie des anderen Blick plötzlich misstrauisch wurde und hütete sich darum wohl, irgendwelchen Ausdruck in seinen Mienen zu zeigen. »Ich war gerade dabei, in sämtlichen Häusern des Blocks eine gleichlautende Nachfrage zu halten. Es handelt sich um einen Diamantendiebstahl – und durch eines der im Block gelegenen Häuser muss der betreffende Dieb, welcher übrigens der guten Gesellschaft angehört, seine Flucht bewerkstelligt haben.«

»Ah, so«, machte Atherson gedehnt und – wie dem Detektiv erschien – erleichtert. »Well, Mr. Carter, da kann ich Ihnen keine Auskunft geben, denn mir ist weder von einem solchen Diebstahl noch von einem Dieb etwas bekannt. Jedenfalls ist der Mensch nicht durch mein Haus geflüchtet, denn dieses befindet sich schon um meiner Schwester willen Tag und Nacht sorgfältig geschlossen – doch, was ich sagen wollte«, fuhr er in verändertem Ton fort, »da Sie schon einmal hier sind, Mr. Carter, würden Sie mir nicht mit Ihrem bewährten Rat zur Seite stehen? Ich bin gern bereit, Sie angemessen hierfür zu entschädigen, und …«

»Vorläufig bin ich bereit, da ich einmal hier bin, mir anzuhören, was Sie zu sagen haben, Mr. Atherson«, bemerkte der Detektiv gelassen. »Wie ich Ihre Angelegenheit bis jetzt auffasse, würden Sie richtiger tun, die nächste Polizeistation zu benachrichtigen. Immerhin gestattet mir meine Zeit, Ihnen eine Viertelstunde zu widmen.«

Nick Carter hatte umso gelassener und gleichgültiger gesprochen, je mehr ihn in Wirklichkeit der den Hausherrn derart beunruhigt habende Vorfall interessierte. Er war zu einer glücklichen Stunde gekommen, wie ihm schon jetzt scheinen wollte. Atherson hatte ihm selbst mitgeteilt, was unter anderen Umständen zu erfahren mit größeren Schwierigkeiten verknüpft gewesen wäre, nämlich, dass er eine geisteskranke Schwester besaß und diese sich ihm durch die Flucht entzogen hatte. Damit waren auch die Beobachtungen schon gerechtfertigt, welche Mrs. Boughton einige Wochen zuvor von einem der gegenüberliegenden Häuser aus gemacht haben wollte.

»Verstehe ich Sie richtig, Mr. Atherson«, nahm der Detektiv das Wort, als der andere, vergeblich mit dem Niederkämpfen seiner Erregung beschäftigt, ruhelos das Zimmer durchwanderte, »so ist es Ihrer geisteskranken Schwester gelungen, aus dem Haus zu flüchten, denn ich setze voraus, dass Sie das Letztere schon vom Keller bis zum Dach durchsucht haben und die Vermisste sich nicht irgendwo versteckt haben kann.«

»Genauso ist es!«, entgegnete Atherson, mit einem gezwungenen Lächeln dem Detektiv gegenüber platznehmend. »Meine Schwester kann seit höchstens zwei Stunden verschwunden sein, und ich habe mit dem Hauspersonal das Gebäude nach ihrem Verbleib vergebens durchsucht!«

»Well, Mr. Atherson, ich nehme an, dass Ihre Schwester ein besonderes Zimmer bewohnte …«

»Selbstverständlich. Ich sagte Ihnen schon, dass bei ihrem Gemütszustand die Anbringung von gewissen Vorsichtsmaßregeln unerlässlich erschien. Es befinden sich deshalb vor den Zimmerfenstern Gitterstäbe. Außerdem wird die einzige Zugangstür immer von außen verschlossen gehalten, und dazu befinden sich an deren Korridorseite Eisenriegel, welche gleichfalls ständig vorgeschoben sind. Was soll ich Ihnen nun sagen? Wir entdeckten vorhin in dem Zimmer meiner Schwester einen nagelneuen Schlüssel, der von innen im Schloss steckte.«

»Sie entdeckten das Entweichen Ihrer Schwester aus jenem Zimmer vor zwei Stunden?«, warf der Detektiv ein.

»Nicht doch«, entgegnete Atherson unter einem ungeduldigen Kopfschütteln. »So lange kann meine Schwester überhaupt erst verschwunden sein, doch ihre Flucht selbst wurde von uns erst eine Stunde später entdeckt. Um Ihnen das Verständnis der Situation zu erleichtern: Meine Schwester erhält schon seit langer Zeit mit dem Glockenschlag acht Uhr das Frühstück auf ihrem Zimmer serviert. Um halb neun Uhr, nachdem ich mein eigenes Frühstück beendet habe, begebe ich mich, wie es meiner täglichen Gewohnheit entspricht, in das Zimmer meiner Schwester, um mit dieser in üblicher Weise eine halbe Stunde zu verplaudern.«

»Während dieser Zeit pflegen Sie mit Ihrer Schwester allein zu sein?«

»Nein, gelegentlich kommt ihre Wärterin oder auch das Zimmermädchen dazu, um die Frühstücksgerätschaften wieder abzuräumen.«

»Wenn Sie sich im Zimmer aufhalten, so ist dies natürlich unverschlossen?«

»Selbstverständlich. Ebenso pflegen während dieser Zeit die Fenster geöffnet zu werden, um das Zimmer zu lüften.«

»So verhielt es sich vermutlich auch diesen Morgen?«, fragte Nick Carter weiter.

»Allerdings! Ich plauderte mit meiner Schwester wie immer, und nicht das Geringste in deren Verhalten ließ auf irgendwelche Fluchtabsicht schließen. Zugleich mit der Wärterin verließ ich das Zimmer wieder und blieb dabei stehen, als die Wärterin von außen die Tür abschloss und den Schlüssel in die Tasche steckte. Ich selbst schob die Außenriegel vor, sodass meine Schwester das Zimmer nicht verlassen konnte.«

»Sie sind ganz sicher, dass die Tür von außen verriegelt wurde?«, fragte Nick Carter erstaunt.

»Ganz sicher, denn Mrs. Thompson, die Wärterin, wünschte einige Einkäufe zu besorgen, und deshalb riegelte ich meine Schwester in ihrem Zimmer ein.«

»Besitzt diese Mrs. Thompson den einzigen Zimmerschlüssel?«

»Nein«, erklärte Atherson. »Einen zweiten Schlüssel verwahre ich im Schreibtisch meines Bibliothekzimmers. Ich bemerke hierbei, dass entweder Mrs. Thompson oder ich immer im Haus weilen. Da Mrs. Thompson ihren Schlüssel stets bei sich trägt, so kann ich mit meinem Schlüssel auch im Falle ihrer Abwesenheit ins Zimmer meiner Schwester gelangen.«

»Ihre Schwester war also in ihrem Zimmer gefangen. Wann soll sie nun ihr Entkommen bewerkstelligt haben?«

»Das muss unmittelbar geschehen sein, nachdem sie eingeschlossen wurde.«

»Also, nachdem sie gemeinschaftlich mit Mrs. Thompson das Zimmer Ihrer Schwester verlassen hatten«, schaltete Nick Carter ein. »Woher wissen Sie das aber so genau?«

»Weil niemand meine Schwester außerhalb ihres Zimmers wahrgenommen hat. Nach einer Viertelstunde hatte ich mich in mein Bibliothekzimmer begeben, während Mrs. Thompson ausgegangen und die Dienerschaft mit der Reinigung des Treppenhauses beschäftigt war. Von da an bis zu dem Augenblick, wo die Flucht meiner Schwester wahrgenommen wurde, befanden sich im Haus immer zwei bis drei Personen.«

»Wie wurde nun die Flucht Ihrer Schwester entdeckt?«

»Sehr einfach. Das eine Dienstmädchen, welches den unteren Korridor gefegt hatte, begab sich nun zum gleichen Zweck in das zweite Stockwerk. Dort fand sie die Zimmertür meiner Schwester weit offenstehend. Überrascht trat sie näher hinzu und entdeckte nun, dass das Zimmer leer war. In ihrem ersten Schrecken stürzte sie auf die Treppe zurück und schrie laut auf. Ich hörte es, kam natürlich die Treppe hinaufgestürmt und vermochte ebenfalls nur festzustellen, dass meine Schwester auf unerklärliche Weise entflohen war.«

»Wie heißt das Dienstmädchen, welches jene Entdeckung gemacht hat?«

»Annie Gallagher«, erklärte Atherson.

»Ich vermute, die von Ihnen erwähnte Mrs. Thompson steht schon länger in Ihrem Dienst?«

»Gewiss, ich stellte sie vor etwa sechs Jahren in Aken, South Carolina, an. Dort hatte ich mich zur Nachkur mit meiner Schwester, die damals von einem schweren Nervenfieber kaum genesen war, in einem Sanatorium aufgehalten. Mrs. Thompson war in jener Anstalt schon seit Jahren als Pflegerin beschäftigt, in ihre Obhut wurde meine Schwester gestellt, und diese fühlte sich derart zu ihrer Wärterin hingezogen, dass ich sie in meine Dienste nahm – und dies umso lieber, als Mrs. Thompson weiblichen Takt, Herzensgüte und Willensstärke mit größter Zuverlässigkeit und Pflichttreue zu vereinigen versteht!«

»Well, dann ist sie ganz entschieden das Ideal einer jeglichen Krankenwärterin«, bemerkte Nick Carter trocken. »Wer hatte sonst noch Zutritt zu Ihrer Schwester?«

»Nur das Zimmermädchen, welches die Mahlzeiten brachte. Sie heißt Mary Bryan.«

»Auch zuverlässig und schon länger in Ihrem Dienst?«

»Allerdings, sonst wäre sie nicht schon seit zwei Jahren in meinem Haus. Ich nahm Mary hier in New York an – doch ich meine, Mr. Carter, wir vertrödeln die kostbare Zeit ganz unnütz mit derartigen Fragen«, brach er ungeduldig ab.

»Sie irren sich, wenigstens was mich anbetrifft«, beruhigte ihn der Detektiv mit seltsamem Lächeln. »Ich befinde mich schon mitten in den Nachforschungen, soweit es Ihren Fall anbelangt.

Die Sache liegt ziemlich einfach. Da Ihre Schwester den äußeren Türriegel nicht vom Zimmer aus öffnen konnte, Sie aber genau wissen, dass dieser Riegel von Ihnen selbst vorgeschoben worden ist, so muss er von einer dritten Person wieder zurückgeschoben worden sein. Im Haus befinden sich nur die Dienstboten, und somit muss einer davon um das Vorhaben Ihrer Schwester gewusst haben und ihr dazu behilflich gewesen sein!«

»Aber das wäre entsetzlich, sollte ich wirklich einen Verräter im eigenen Haus haben?«, rief Atherson in großer Erregung. »Dabei hat das gesamte Hauspersonal den strengsten Befehl, niemals das Zimmer meiner Schwester zu betreten!«

»Wollen Sie damit sagen, dass Myrtle …«

Wie von der Tarantel gestochen fuhr der Hausherr jäh herum und starrte seinen Besucher mit einem forschenden Blick an. »Wie in aller Welt wissen Sie, dass meine Schwester Myrtle heißt?«

Doch Nick Carter hielt mit einem gelassenen Lächeln dessen forschendem Blick aus.

»Well, woher soll ich es wissen, wenn nicht aus Ihrem Mund?«, meinte er dann achselzuckend.

Kopfschüttelnd schaute ihn der andere noch immer unsicher an, dann atmete er tief auf.

»Natürlich, natürlich«, meinte er, mechanisch sich zu einem Lächeln zwingend. »Ich muss den Namen unwillkürlich gebraucht haben – immerhin seltsam, denn er kam mir schon seit Jahr und Tag nicht mehr über die Lippen.«

»Ich glaube, Mr. Alfred Copeland, dass Sie auch Ihren eigenen Namen so ziemlich vergessen haben?«, versetzte Nick Carter, während er mit einem plötzlichen Ruck vom Stuhl aufstand und dicht vor den Hausherrn hintrat. Ein Blick in dessen verstörtes, kalkweißes Gesicht bewies ihm zur Genüge, wie erfolgreich er mit seiner Taktik gewesen war.

»Herr des Himmels, Mr. Carter, was sagen Sie da – woher wissen Sie …«

»Ich weiß es, dass Sie Mr. Alfred Copeland aus Philadelphia und der gesetzliche Vormund Ihrer minderjährigen Stiefschwester Myrtle Copeland sind«, erklärte Nick Carter mit ruhiger Entschiedenheit, um mit abwehrend erhobener Hand rasch hinzuzusetzen: »Sie brauchen sich darüber nicht weiter aufzuregen, lieber Herr, denn wir leben in einem freien Land, und es steht Ihnen frei, sich jeden beliebigen Namen zuzulegen, geschieht dies nicht etwa aus verbrecherischen Absichten, was bei Ihnen natürlich vollständig ausgeschlossen ist.«

»Aber woher können Sie wissen …«, stammelte der sich so jäh entlarvt Sehende, der sich augenscheinlich immer noch nicht beruhigen konnte. »Ich habe aus gewissen, aber durchaus nicht verwerflichen Gründen mich meines eigentlichen Namens wirklich entäußert, indessen …«

»Sie sind mir durchaus keine Rechenschaft schuldig, Mr. Atherson«, unterbrach ihn der Detektiv mit weltmännischer Gewandtheit, während er zugleich liebenswürdig zu lächeln verstand.

»Um Ihnen zu zeigen, dass ich keinerlei Hintergedanken habe, will ich Ihnen freimütig den wahren Grund meines Kommens erklären. Eine Tante Ihrer Stiefschwester war über deren Schicksal beunruhigt. Sie hatte eine andere Detektivagentur beschäftigt, um Ihren und Miss Myrtles gegenwärtigen Aufenthalt zu ermitteln. Was mich anbelangt, so sprach ich heute nur hier vor, um festzustellen, ob Sie wirklich mit Mr. Alfred Copeland identisch sind oder nicht. Das ist alles, und meine Aufgabe ist bereits erfüllt!«

»Aber das ist doch geradezu unerhört!«, brauste der Hausherr nun auf, während sein Antlitz, diesmal vor Zorn und Wut, kreidebleich wurde. »Wie kann und darf man sich unterstehen, mir auf eine derartig niederträchtige Weise nachzuspüren! Hält man mich gar für einen Verbrecher – oder was bedeutet Ihr hinterlistiges Einschleichen sonst?«, setzte er unwillig hinzu.

Nick Carter hielt indessen sein verbindliches Lächeln bei.

»Warum sollen wir harte Worte gebrauchen, Mr. Atherson«, versetzte er höflich. »Ich bin bereit, Ihnen jede gewünschte Erklärung zu geben. Sie dürfen nicht vergessen«, fuhr er fort, als es ihm gelungen war, den Hausherrn wieder zum Niedersetzen zu veranlassen, »dass ihre Schwester eine reiche Erbin ist. Nun sind Sie der ausschließliche Vormund und haben Ihr Mündel von der Außenwelt derart abgeschlossen gehalten, dass selbst die nächsten Blutsverwandten das junge Mädchen nicht mehr zu Gesicht bekamen …«

»Aber dazu hatte ich meine guten Gründe, über welche ich niemanden Rechenschaft schulde!«, fiel Atherson dem Detektiv in die Rede.

Doch mit beschwichtigender Handbewegung hielt ihn Nick im Sessel zurück.

»Lassen Sie mich doch ausreden, Mr. Atherson. Als Mann von Welt und Bildung werden Sie mir zugeben, dass eine gewisse Beunruhigung der Verwandten immerhin selbstverständlich war. Können Sie es Miss Myrtles Tante verübeln, dass sie sich über das Schicksal ihrer Nichte Gewissheit verschaffen wollte? Ganz sicherlich nicht. Sie wissen, mit der Ungewissheit ist es wie mit der Finsternis. An sich völlig harmlose Dinge nehmen unheimliche Umrisse an und erfüllen die Seele mit Grauen. So war es auch in diesem Fall«, setzte er auflachend und mit solch einer offenherzigen Miene hinzu, dass sie ihren Eindruck auf den Hausherrn nicht verfehlte. »Die Verwandten dachten schon alles Schlimme, glaubten Miss Myrtle gar tot und begraben – und Gott allein weiß, was für sonstige Schreckensbilder sie sich ausmalten. Ich kam also hierher, um mir einen Einblick in die wirklichen Verhältnisse zu verschaffen – und ich kann Ihnen offen sagen, Mr. Atherson, dass ich mich noch niemals im Leben so angenehm enttäuscht gefunden habe wie heute. Ich weiß es jetzt, dass Sie Ihre arme Schwester mit aller möglichen Sorgfalt umgeben und alles getan haben, um deren Zustand zu einem erträglichen zu machen.«

»Well, es freut mich, dies zu hören«, entgegnete Atherson, der seine Ruhe immer noch nicht völlig zurückgefunden hatte, zurückhaltend. »Immerhin wäre es mir lieber gewesen, man hätte ein derartiges, mich kränkendes Nachspüren unterlassen. Ich kann wohl sagen, dass ich an meiner unglücklichen Stiefschwester mehr getan habe als die bloße Nächstenpflicht. Ich habe ihr mein Leben geweiht, und mein ganzes Dasein besteht aus einer nicht endenden Sorge um Myrtles Wohlbefinden!«

»Davon bin ich überzeugt«, entgegnete der Detektiv. Er streckte zugleich mit solcher Herzlichkeit die Hand aus, dass der andere sie unwillkürlich ergreifen und schütteln musste.

»Hand aufs Herz, Mr. Atherson, verdächtig war dieser plötzliche Namenswechsel immerhin – das werden Sie zugeben.«

Der Gefragte gab nicht gleich Antwort. Er war aufgestanden und einige Male wieder durch das Zimmer geschritten, ehe er vor dem Detektiv von Neuem innehielt und hervorstieß: »Die Sache ist einfach genug. Ich wünschte nur das Tischtuch zwischen den Verwandten meiner Schwester und uns zu zerschneiden. Diese Leute haben gerade nicht schön an mir gehandelt! Ich habe meine Schwester lieb und weiß, dass sie vor jeder Aufregung geschützt werden muss, soll ihr junges Leben nicht daran glauben müssen. Auf ärztlichen Rat hielt ich sie darum von aller Welt fern. Aus diesem Grund wechselte ich auch meinen Namen – vielleicht kam auch hierbei etwas Eitelkeit ins Spiel«, setzte er mit schwachem Lächeln hinzu. »Wie Sie wahrscheinlich auch wissen werden, habe ich Chemie nicht nur studiert, sondern sie auch zu meinem Lebensstudium gemacht. Es sind mir einige Entdeckungen gelungen, welche in der wissenschaftlichen Welt Aufsehen erregt haben. Darüber schrieb ich eine Reihe von Abhandlungen unter meinem jetzigen Namen, und ohne ruhmredig zu werden, kann ich wohl behaupten, dass der Autorenname Atherson in der wissenschaftlichen Welt einen guten Klang genießt. Darum nannte ich mich auch im bürgerlichen Leben Atherson. Nun wissen Sie alles!«

Nick Carter hatte sich erhoben. Mit vollem Vorbedacht hatte er ein sehr gewagtes Spiel getrieben, indem er sich der zweischneidigsten Waffe in seinem Beruf bedient, nämlich, sich zur vollen Wahrheit bekannt hatte. Nun kam es darauf an, die Probe aufs Exempel zu wagen.

»Well, Mr. Atherson, mein Geschäft hier im Haus ist damit eigentlich erledigt«, versetzte er bedächtig. »Ich nehme den Eindruck mit hinweg, die Bekanntschaft eines Ehrenmannes gemacht zu haben, der mit warmer, brüderlicher Liebe das harte Schicksal seiner Schwester zu mildern bestrebt gewesen ist – und ich will nur hoffen, dass das unglückliche Mädchen bald wieder aufgefunden werden wird!«

»Aber ich denke, Sie wollen mir Ihren Beistand leihen?«, rief Atherson erstaunt.

»Gern, wenn Sie dies wünschen, obwohl ich nicht glaube, dass die Auffindung Ihrer Schwester große Schwierigkeiten machen wird.«

»Das soll mir sehr lieb sein, Mr. Carter. Well, eigentlich hätte ich Grund, Ihnen zu zürnen, denn natürlich kann es keinem Menschen angenehm sein, zu erfahren, dass er belauert und verdächtigt wird. Doch mir liegt allzu viel an der raschen Wiederauffindung meiner Schwester, um Ihnen etwas nachtragen zu können. Wollen Sie den Fall übernehmen? Mit dem Honorar werde ich nicht knausern, davon können Sie sich überzeugt halten!«

Mit unverändertem Lächeln ergriff Nick Carter die dargereichte Hand.

»Das Aufsuchen Ihrer Schwester schlägt eigentlich kaum in den Kreis meiner beruflichen Tätigkeit. Immerhin stehe ich Ihnen zu Diensten und werde mit Ihrer Erlaubnis mir zunächst einmal das Haus gründlich ansehen und die Dienerschaft eingehend ausfragen. Ich setze voraus«, fügte er fragen hinzu, »dass Sie selten oder nie Besucher empfangen haben?«

»Ich selbst niemals, höchstens, dass die Dienstboten hin und wieder einmal Besuch bekamen.«

»Also so lebten sie zurückgezogen von aller Welt und empfingen nur den Besuch des Ihre Schwester behandelnden Arztes?«

Atherson warf dem Detektiv einen kurzen, scharfen Blick zu, um dann zu entgegnen: »Gewiss, Dr. Rullmann, der bekannte Nervenspezialist, hat die Behandlung meiner Schwester übernommen und spricht einige Male in der Woche vor.«

»Vielleicht wäre es gut, den Herrn von dem Vorgefallenen zu benachrichtigen«, erklärte Nick Carter unter dem vorigen Lächeln. »Als erfahrener Arzt muss er die Seelenregungen des unglücklichen Mädchens genau studiert haben, und vielleicht ist er sogar imstande, uns einen Fingerzeig zu geben – obwohl das kaum nötig ist«, setzte er nach kurzem Nachdenken hinzu. »Ich habe in derartigen Fällen einige Erfahrung und weiß es, dass gemütskranke Personen, mögen sie auch noch so liebevoll behandelt werden, immer das krankhafte Verlangen äußern, sich ihrer Umgebung durch die Flucht zu entziehen.«

Seine Bemerkung schien auf Atherson eine beruhigende Wirkung auszuüben, denn dessen umwölkte Stirn klärte sich auf, und er erklärte sich dazu bereit, den Detektiv selbst durch das ganze Haus zu führen.