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Tony Tanner – Agent der Weißen Väter

Die Bruderschaft der Weißen Väter – Teil 5

Einige Tage später befand sich Jeremy Steele in der Toskana. Es war ein Leichtes gewesen, anhand von Zeitungsausschnitten und TV-Aufzeichnungen die Gegend auszumachen, von der sowohl Pinazzi als auch Lucille Chaudieu gesprochen hatten. Steele hakte etwas nach und schnappte sich einer der Jünglinge, die in einem örtlichen Privatsender vorgeführt hatten, wie sie abends Kornkreise hergestellt und die abergläubische Öffentlichkeit genasführt hatten.

Der Jüngling war an die zwei Meter groß und fast hundert Kilo schwer, was äußerst nachteilig war, da es ihn zu dem Fehler trieb, Steele nicht ernst zu nehmen und ihm sogar Prügel anzudrohen.

Es führte dies zu einer deutlichen Lichtung des natürlich gewachsenen Zahnbestandes des kräftigen Jünglings, der sich vor diesem Hintergrund dann doch Blut spuckend bereit erklärte, Steele einige Fragen zu beantworten, wenn er auch in diesem Moment nur undeutlich sprechen konnte. Für Steele waren diese Aussagen nur die Bestätigung einer Vermutung. Man hatte die Knaben angeheuert, mit Geld gefügig gemacht und mit Drohungen zum Schweigen verdammt. Vordergründig war es nichts als eine Sensationsmasche eines Senders auf Quotenjagd, aber Steele war sich klar, dass wohl ganz andere Mächte im Hintergrund standen.

***

Als er ein paar Stunden später auf einer Lichtung in der Nähe des besagten Geländes stand, hatte er noch einmal Gelegenheit, diese Mächte kennenzulernen. Von seiner leicht erhöhten Position aus entdeckte er drei Hubschrauber, die sich im Konturenflug näherten. Er schenkte ihnen zunächst keine weitere Aufmerksamkeit, bis ihm auffiel, dass drei unterschiedliche Rotorgeräusche an sein Ohr drangen. Das war wiederum nicht unbedingt typisch für eine militärische Flugbewegung. Durch das Fernglas erkannte Steele eine Bo 105, eine Bell UH und eine Gazelle. Trotzdem er sich bemühte, konnte Steele keine Hoheitsabzeichen oder auch nur einen militärischen Schriftzug auf den olivfarbenen Rümpfen erkennen.

Die dreiläufigen Revolverkanonen, die alle Helikopter über den Kufen montiert trugen, waren dafür umso weniger zu übersehen. Ebenso wenig konnte Steele über den Türschützen in der Bell hinwegsehen, der ebenfalls hinter einer Revolverkanone hockte. Als der Mann in Steeles Richtung gestikulierte und offensichtlich intensiv in sein Mikrofon sprach und die Bo aus der Reihe ausschwenkte und Kurs auf die Lichtung nahm, war es für Steele fast zu spät.

Er konnte sich nur noch umdrehen und in Deckung hetzen. In der Luft hinter ihm ertönte ein trockenes Knarren, dann jaulten die Geschosse heran und verwandelten den steinigen Boden in eine Landschaft kleiner, splitterspeiender Krater.

Der aufgewirbelte Staub nahm Steele die Sicht. Er legte schützend den Arm über das Gesicht, riss mit der anderen Hand die Pistole aus dem Halfter und brach, seitwärts rennend, im selben Moment in das schützende Unterholz ein. Der Hubschrauber stellte das Feuer ein und fauchte über den Waldrand, mit den Kufen gegen die Baumwipfel prasselnd. Zwischen den herabrieselnden Zweigen und Blättern erkannte Steele, dass über der anderen Kufe ein Raketenbehälter angebracht war. Das war Anlass genug, sich entschieden zur Wehr zu setzen.

 

Steeles stahlblaue Augen verengten sich zu kalten Schlitzen.

Mit einem leichten Klicken rastete der Verlängerungslauf ein, ein Handgriff, den Steele in den letzten Tagen wohl hundert Mal geübt hatte. Steele legte eine Patrone in die Kammer, riss das Griffmagazin heraus, legte eine weitere Patrone ein und stieß das Magazin zurück. Dann setzte er das Zielfernrohr auf die Schiene, ließ den Anschlagkolben einrasten und stellte die Vorwahl auf eine Zwei-Schuss-Sequenz. In der Zeit, die er dafür brauchte, hatte der Hubschrauber seine Runde beendet und stand nun mitten über der Lichtung. Die Piloten in ihrer Kanzel waren deutlich zu erkennen. Sie starrten auf den Waldrand und suchten nach ihrem Ziel. Diese Arbeit erübrigte sich, denn Steele trat offen aus dem Gebüsch und legte an.

Im Kreis seines Zielfernrohrs sah er den Helm des Piloten, insektenhaft und fremdartig durch die schwarze, undurchsichtige Sonnenblende.

Steele zog durch. Die beiden Schüsse schienen miteinander zu verschmelzen. Die erste Kugel, ein Vollmantelgeschoss, schlug ein gezacktes Loch in die Kanzel; die zweite Kugel, ein Explosivgeschoss, trat durch diese Öffnung ein und zerriss den Schädel des Piloten. Steele wartete nicht auf den Erfolg seiner Attacke, sondern hastete quer durch den Wald, einen Hang herab. Der Rotor kreischte, als der Hubschrauber nach vorne abkippte, unsteuerbar wurde und aufschlug. Die Explosion fegte durch den Wald, eine Glutwolke, ein heißer Windstoß mit dem Gestank von Benzin und verbranntem Gummi, dann das Prasseln von Erde, Steinen und Gezweig. Steele hatte sich in eine Kuhle geworfen, war sofort wieder auf den Beinen, als die Druckwelle über ihn hinweg gerollt war, und rannte nach oben, zurück zur Lichtung.

Dort stand die Bell. Der Türschütze nahm den Wald wahllos unter Dauerfeuer, ohne ein genaues Ziel zu haben.

Steele schoss ihn ab, und der Mann kippte wie eine leblose Puppe aus seinem Sitz. Er war mit einem Seil gesichert, das um seine Taille ging, und so baumelte er jetzt einige Meter unter der Kufe, Arme und Beine schlenkerten willenlos im Rotorsturm. Wahrscheinlich klang den Piloten der Todesschrei des Schützen in den Kopfhörern. Sie trieben den Helikopter quer über die Lichtung. Der Körper des Schützen begann wie wild zu baumeln, wurde gegen einen Baumwipfel geschleudert und hochgeworfen, wo er in den Rotorkreis geriet. Die wirbelnden Blätter hackten auf die leblose Gestalt ein, trennten die Glieder ab, verstümmelten sie, bis ein entstellter Rumpf herabfiel, und unter dem abziehenden Hubschrauber baumelte ein blutiger Klumpen wie ein frischer Köder für ein Raubtier.

Steele blickte den beiden Helikoptern hinterher. Kein Zweifel, hier sollte im zivilisierten Europa ein Privatkrieg angezettelt werden. Aber warum? Steele schlug sich durch den Wald und stellte sich eine weitere Frage. Wenn diese Kornkreise nicht gefälscht waren, sondern natürliche Erscheinungen – weshalb traten sie im Umkreis dieses Geländes so häufig auf?

 

Tony Tanner schaute versonnen auf seine Schuhspitzen. Obwohl die Sonne soeben hinter dem Horizont versunken war, und der Abend, in elegantes helles Grau gekleidet, seinen ersten Auftritt auf dem Parkett dieses Tages hatte, schimmerte die Farbe seiner Fußbekleidung in selbstbewusster Deutlichkeit. Es war diese ohne Zweifel eine weitere Boshaftigkeit eines in dieser Hinsicht geradezu spendablen Schicksals.

Tony Tanner litt. Seine Schuhe waren braun. Es war kurz nach neun Uhr am Abend und er stand mit braunen – BRAUNEN – Schuhen herum. Als wäre die Maxime No browns after six, die er spätestens seit der Schulzeit ebenso verinnerlicht hatte wie das Galileische Weltmodell oder Newtons Schwerkraftlehre, spurlos an ihm vorbeigegangen. Nun gut, es bestand nur eine geringe Gefahr, dass er hier einem Bekannten begegnen würde und dadurch in Rechtfertigungsnotstand geriete. Herren eines gewissen Niveaus pflegten höchst selten zu später Stunde auf einem sandigen Streifen des Themse-Ufers, in unmittelbarer Nähe eines großen Abflussrohres zu lustwandeln.

Aber Heathercroft beispielsweise, diese arschgesichtige Nervensäge, könnte hier auftauchen, um eine Tussi, die auf Freiluftsex und Sandkörner auf den Pobacken stand, flachzulegen.

Oder Tony Tanners Vorgesetzter, der zuweilen snobistische Anwandlungen hatte, die sich darin äußerten, dass er in kompletter Kleidung eine kommunale Badeanstalt aufsuchte, um unter der dortigen Dusche einen neu erstandenen Regenschirm (natürlich von Swaine, Adeney, Brigg & Sons, London, St. James Street 54 – aber ist dies überhaupt einer gesonderten Erwähnung wert?) zu erproben.

Immer locker bleiben, sagte sich Tony Tanner. Aber die Vorstellung hatte sich schon in seinem Kopf festgesetzt. Da stehst du nun hier, um auf ein kurioses Monster namens Stalka zu warten, das du als deinen Kumpel ansiehst und plötzlich kommt dein Chef daher. Guten Abend, Herr Tanner, sagt der Chef, was machen Sie den hier an diesem Ort und zu dieser Stunde? Und warum tragen Sie einen schwarzen Kampfanzug und einen riesigen Rucksack in dem sich, ich erkenne es, fünfzehn Kilo Schokolade befinden? Und warum sieben Taschenlampen und fünfzig Meter Bergseil? Nun gut, ich wünsche Ihnen jedenfalls noch einen schönen Tag und viel Spaß bei dem, was Sie auch immer vorhaben mögen. Und dann geht er weiter, du atmest schon auf und dann dreht er sich um, und sagt: Warum, beim dreischwänzigen Teufel, Tanner, tragen Sie diese Treter in einer unmöglichen Farbe? Haben Sie keinen Lebensstil? Sind Sie Kommunist geworden? Oder stehen Sie kurz vor einem Übertritt in die Reihen der Skinheads? Haben Sie irische Vorfahren? Oder schottische? Kommen Sie doch morgen mal in mein Büro. Und das war’s dann. Rausschmiss wegen eindeutiger psychischer Überlastung oder charakterlichem Mangel oder so.

Ist diese Scheißwelt diesen Stress eigentlich wert? Ich meine, was nutzt es, diese Welt zu retten, wenn sie dabei zum Teufel geht. Oder was ist es anders, wenn ich mit braunen Schuhen die Abenddämmerung betrachte? DAS ist der Untergang des Abendlandes! Haben Sie das in Ihre Überlegungen einbezogen, Herr Dorkas?

Die letzte Frage, sowieso eine rhetorische, verhallte unbeantwortet. Dorkas war fern, irgendwo in der Schweiz oder in Frankreich oder Gott-weiß-wo, jedenfalls in Gegenden, wo man den Porridge für Tapetenkleister hielt und dem Genuss eines Erbsenweines abhold waren.

 

Die beiden Angler, die sich in der Nähe aufgehalten hatten, schraubten ihre Ruten auseinander und stapften davon. Die Plastikeimer, in denen sie ihren Fang aufbewahrten, klapperten.

Dann glitt ein Ruderboot vorbei. Ein Trainingsachter auf dem Weg zum Bootshaus. Die Ruderer hatten es eilig, sie wollten das letzte Licht ausnutzen. Die Strömung schob sie vorwärts. Für einen Moment erklangen das Knarren der Ruderpinnen in den Gabeln, das Schaben der Rollsitze und das Platschen der Blätter, die in das Wasser geschlagen wurden. Jemand hustete. Dann war das Boot vorbei, auch die Angler waren verschwunden, und damit schien die letzte Spur von Normalität getilgt zu sein, und Tony Tanner stand allein auf dem halb sandigen, halb schlammigen Uferstreifen und fühlte sich wie in einem Reservat des Irrealen.

Vielleicht kam ja kein Stalka. Vielleicht gab es ihn gar nicht. Tony näherte sich der Öffnung des Rohres. Eine Weile geschah nichts. Gerade lange genug, um den Zweifel wachsen zu lassen und die ersten Kälteschauer der Angst spürbar zu machen. Die Themse warf kleine eilige Wellen an das Ufer. In der Ferne röhrte ein Dampfer wie ein Urtier, und andere Schiffe antworteten. Stalka verspätete sich. Tatsächlich – es war nun schon so spät, dass Tony Tanner guten Gewissens abziehen konnte. Was sollte der ganze Aufwand auch? Um eine halbwegs hübsche junge Dame mit Beißneigungen davor zu bewahren, ihres halben Hirns entledigt zu werden? Oder um der Kunstwelt einen Spinner wie Ronald Gainsworth zu erhalten, auf dass dieser weiterhin seinem Ruf als Hieronymus Bosch des 20. Jahrhunderts gerecht werden konnte? Oder weil beide vielleicht etwas wussten, das einen gewissen Dorkas samt Anhang der Lösung eines Rätsels näherbrachte?

Gut, sagte sich Tony Tanner an diesem Punkt seiner Überlegungen, du darfst dich mit diesen Gedanken beschäftigen, du Penner, aber tu nicht so, als du selbst daran glaubst. Du machst es ja doch. Er wollte noch weiter ausholen, um sich in bitterer Selbstironie zu suhlen, als ihn etwas zusammenzucken ließ. Er hatte nichts gehört. Aber sein Geruchssinn täuschte ihn nicht. Dieser Gestank nach Ammoniak – Pillbury hätte von Kälberstall gesprochen – zeigte ohne Zweifel, das Stalka in der Nähe war. Und da schob er auch schon seinen Schädel um den Rand der Betonröhre.

»Griessä. Hassen Schoki bei?« Stalka schob seine Nase frohgemut in Richtung von Tonys Rucksack und schnüffelte.

»Bissen Gutboi«, beschied er dann und nahm Tony die Mühe ab, den Rucksack auszupacken.

Die Tafeln verschwanden in den diversen Taschen, die Stalka überall in seiner zerfetzten Kleidung hatte. Nun war der Rucksack überflüssiger Ballast, aber Tony entschied sich dafür, ihn trotzdem mitzunehmen. Hier siegte eindeutig der Geiz über den praktischen Sinn.

»Du kommst ziemlich spät«, bemerkte Tony, während Stalka die Umhüllung einer Schokoladentafel herunterriss und mit einigen herzhaften Bissen 300 Gramm Vollmilch-Nuss in seinen Backen verschwinden ließ.

»Was ‘n spät?«

»Spät ist – ähm – du wolltest kommen, wenn die Sonne untergeht. Aber die Sonne ist schon lange weg.«

»Is gutnich. Müssma vorsichtn, weil de Miesen am Laufen sin.«

»Deswegen bist du so geschlichen?«

Stalka holte ein Stück Stanniol aus einem Backenzahn, überlegte eine Weile und entschied dann, dass dieser Teil der Schokolade nicht genießbar war.

»Müssma viel vorsichtn. Miese machn Sachen, wo ich nich kenn. Ham sich Oberste geschnappt und machn was damit.«

Tony Tanner schluckte. »Was machen sie, Stalka?«

»Weissnich. Aber is gutnich, was de Miesen machn. Gutnich. Müssma vorsichtn.«

»Und du weißt wirklich nicht, was die – Miesen machen? Ich meine mit denen, die sie sich geschnappt haben?«

Stalka entschied sich, ein weiteres 300g-Täfelchen Schokolade zu verzehren. Danach leckte er sich die Finger ab – Tony Tanner konnte es am Schmatzen hören. In diesem Moment pries und lobte er die Dunkelheit, denn sie enthob ihn der Notwendigkeit zusehen zu müssen, wie die kanalschlammigen Greifer seines Führers mit liebevoller Gründlichkeit von einer graufarbenen Zunge abgeschleckt wurden.

»Essn wern se se«, sagte Stalka dann.

»Wie bitte?« Tony Tanner hatte verstanden, wollte aber nicht glauben, dass er verstanden hatte.

»Essn wern se se, hamham«, wiederholte Stalka mit Nachsicht.

»Du meinst, die werden – ich meine, diese »Miesen« werden diejenigen aufessen – fressen, die sie sich geschnappt haben?«

Stalka nickte bestätigend. »Was solln se sons machn mit de Oberste? Allens gutnich. Machn Sachen, wo ich nich kenn. Allens neumies.« Nach dieser Feststellung steckte er den Kopf weit aus der Betonröhre, in deren Deckung sie sich aufhielten, und schnüffelte missbilligend in Richtung des Flusses. Es war nur zu offensichtlich, dass er die unangenehmen Neuerungen in seiner Unterwelt auf den negativen Einfluss der Obersten zurückführte.

Unterdessen übte sich Tony Tanner in der hohen Kunst der Verdrängung. Nicht dran denken, was Stalka gesagt hat.

»Gehn wa ma.« Stalka trottete los und war schon verschwunden, als Tony ihn mit einem lauten Ruf zu sich zurückholte.

»Wir müssen erst einmal auf die Karte schauen.«

»Kate?« Vermutlich hatte Stalka gehofft, eine Karte wäre essbar. Nun war er enttäuscht und peilte misstrauisch auf das Papier, das mit seinen bunten Linien dem unkundigen Fremden einen Weg durch Greater London weisen sollte.

»Hier müssen wir hin«, erklärte Tony Tanner forsch und deutete auf den Punkt, an dem Serebriakoffs Klinik liegen musste. Von Stalka kam keine Reaktion. Wie auch, erkannte Tony, schließlich war es nicht seine Stadt, die auf dieser Karte abgebildet war. Für Stalka war es ein völlig fremdes Gebiet, das mit seiner Welt nur wenige Kontaktpunkte hatte. Wie sollte er Stalka plausibel machen, in welche Richtung sie sich zu bewegen mussten? Das Problem war ebenso banal wie unlösbar, und Tony Tanner verlor nach einer Viertelstunde vergeblicher Versuche, mit Stalka einen Weg zu besprechen, fast die Nerven.

 

Die Aktion abbrechen, das wäre jetzt die einzige vernünftige Reaktion. Aber natürlich ging das nicht. Er konnte nun ebenso wenig umkehren wie ein Klippenspringer, dem nach zehn Metern Flug Bedenken über die Härte der Landung nach restlichen fünfzehn Metern Flugweg kam.

Schließlich glaubte Tony, eine Lösung gefunden zu haben. Die großen Kanäle verliefen ziemlich genau unterhalb der Hauptstraßen, das hatte er selbst feststellen können, als er den Weg seiner letzten Kanalwanderung auf der Oberfläche wiederholt hatte. Also konnten sie sich grob orientieren. Zudem hatte er einen Kompass dabei, der eine zusätzliche Hilfe sein mochte, auch wenn Tony keine Ahnung hatte, wie sich diese Navigationsmittel verhielten, wenn man sie unterirdisch einsetzen wollte. Und für den Notfall, es würde dann ja auch schon mitten in der Nacht sein, könnten sie sich über Seitenstraßen ein Stück oberirdisch weiterbewegen.

»Gehen wir also«, sagte Tony und versuchte, in seiner Stimme Entschlossenheit mitschwingen zu lassen. Es gelang ihm nur mäßig Sie bewegten sich die ersten hundert Meter in den Kanal hinein. Die dumpfe Luft verdrängte den feuchten Geruch des Flusses. Sie passierten die Sammelstelle, an der das Abwasser rauschte. Der feine Nebel belegte die Zunge mit einem bitteren Geschmack, setzte sich auf den Schleimhäuten fest und machte das Schlucken zur Qual, weil bei jedem Mal ein ekelhaft schmeckender Schleimpropfen in den Rachen geriet. Die Umgebung verdrängte alle guten Vorsätze, jede Gewöhnung, jegliche Erfahrung. Sie stürzte auf Tony ein und begrub jeden Gedanken unter sich. Bald bestand die Welt nur noch aus vorbeigleitenden Ziegelwänden, aus Betonflächen, aus schmalen Steigen neben gurgelnden, stinkenden Abwasserbächen. Wenn die Taschenlampe der Schwärze einen Teil ihrer Beute entriss, so wuchs die Dunkelheit dadurch nur. Sie lauerte an den Seiten, sie drohte im Rücken, dass der Nacken ständig zu kribbeln schien. Sie war wie ein kompaktes Stück Materie, das über den beiden Gestalten hing und herabzustürzen drohte. Und bald war für Tony Tanner eines deutlich – diese Dunkelheit ließ sich nicht mehr durch Licht vertreiben. Sie war in ihm. Sie nistete in seinen Gedanken, brütete auf seinen Ängsten und schickte ihre Schauder aus, die selbst das hellste Sonnenlicht nicht mehr geschmolzen hätte.

Aus den Augenwinkeln glaubte er Bewegungen, Formen zu erkennen. Wenn er den Lichtkegel der Taschenlampe dorthin richtete, war nichts zu sehen, außer einer schmutzigen Ziegelwand. Einmal ließ sich Tony mitreißen, er blieb stehen und kreiste um sich selbst, der Lichtkegel fuhr wie von einem Leuchtturm ausgesandt herum – Ziegelwand, Röhre, Abflussrinne, Ziegelwand, Röhre, Abflussrinne – aber irgendwo musste etwas sein. Etwas war da. Etwas musste da sein. Schließlich wusste Tony nicht mehr, wie oft er diese Drehung vollführt hatte, ebenso wütend wie vergeblich, wie ein umzingeltes Tier.

 

Keuchend lehnte er sich gegen die Wand, dann zuckte er zusammen. Er hatte die Orientierung verloren. Er wusste nicht mehr, in welche Richtung er gehen musste. Als er das Licht ausschaltete, tanzten Farbflächen vor seinen Augen und hinderten ihn daran, die Funzel, die Stalka nutzte, zu erkennen. Er lauschte. Das Wasser gluckerte leise, irgendwo rieselte es, irgendwo tropfte es. Und dann hörte er ein anderes Geräusch. Zuerst hielt er es für das Rauschen des eigenen Blutes. Dann erkannte er, dass es etwas anderes sein musste. Es war nicht mehr als ein Hauch, wie ein kaum hörbares Atmen. Sicherlich gab es eine natürliche Erklärung. Sicherlich war es nicht mehr als das ferne Echo einer Maschine, das Getöse einer Schnellstraße, einer U-Bahn-Linie, das durch Röhren, Kanäle, Verbindungsstollen, Durchbrüche tausendfach gefiltert an sein Ohr drang. In diesem Augenblick jedoch, in dieser Situation, verband sich der Klang in Tony Tanners Bewusstsein mit dem unklaren Bild von etwas Lebendigem, einem gigantischen, riesenhaften Wesen, das im Schlaf leise atmete.

Wieder lauschte er, hoffte auf eine Täuschung. Es war keine Täuschung, und nun, als hätte sein stummes Lauschen schon etwas geweckt, vernahm er noch ein Summen, ein leises vibrierendes Dröhnen wie von einem Insekt.

»Stalka.« Der Schrei brach aus Tonys Mund, automatisch und unter Ausschluss seines Willens. »Stalka!«

Die eigene Stimme war ihm fremd. Sie klang hysterisch und war kurz davor, in ein schrilles Kreischen umzukippen. In der engen Röhre ließ der Ruf fast Tonys Trommelfelle platzen und überdeckte alle anderen Laute. Das Echo rollte, ließ die dumpfe Luft regelrecht erzittern und verklang endlich. Statt Stille blieb ein Heulen und Pfeifen in Tonys Ohren. Er fühlte sich hilflos und wurde nur noch wütender.

Da – das Tropfen hatte sich verändert. Es hatte einen schnelleren Rhythmus angenommen, wurde lauter, veränderte sich weiter. Es war kein Tropfen mehr, es war etwas anderes. Woher kam es? Der Lichtstrahl von Tonys Taschenlampe übertrug das Zittern seiner Hand. Die braune Abflussbrühe warf den Schein zurück, die feuchten Wände spiegelten, und machten es schwer, überhaupt etwas deutlich zu erkennen, auch wenn einem nicht gerade der Schweiß über die Stirn rann. Dann huschte etwas in den Lichtkegel, spritzend und fetzenflatternd. Tony wich zurück und sackte mit einem Seufzer der Erleichterung zusammen, als er Stalka erkannte, der durch das knietiefe Abwasser auf ihn zurannte.

»Bissen Spakkenboi«, schimpfte Stalka zischelnd. »Musse lautnich sein, wo Miese weitnich sin!«

Tony versuchte, seine Sinne zu sammeln und murmelte eine lahme Entschuldigung. Immer noch zitterte er am ganzen Körper, jetzt erst löste sich langsam die Anspannung. Und nun war es an der Zeit, sich über sich selbst zu ärgern. Wie konnte er sich nur derart mitreißen lassen? Und wie sollte er diesen Job erledigen, wenn ihn die Panik mit der Plötzlichkeit eines Grippeanfalls überfallen konnte? Er musste sich auf den schmalen Steig setzen, den Rücken gegen die schmierige feuchte Wand gelehnt, die Absätze seiner Stiefel wurden von dunkler Brühe umspült.

Stalka knurrte im Dunklen, dann hörte Tony das Rascheln von Papier und das Knacken, mit dem sein Lotse in eine neue Tafel Schokolade biss. Das Paviangebiss knirschte hörbar, Stalka schnaufte vor Genuss, unterbrach sich dann und porkelte in seinen Zähnen herum. »Wasn das?«

Vor Tonys Augen tauchte ein unbeschreiblich schmutziger Finger mit krallenartigen Nägeln auf, unter denen eine schokoladenbraune Pampe klebte. Immerhin war Tony schon wieder in der Lage, die Antwort zu geben. »Das nennt man eine Rosine. Da hast wahrscheinlich die Tafel mit Rum-Rosine erwischt.«

»Rumosine. Isn Leckerschmeck. Könn wa nu gehn?«

 

Das Zeitgefühl ging verloren. Tonys Uhr wollte ihm vorgaukeln, dass sie schon seit Stunden unterwegs waren. Sie folgten den Hauptkanälen, schoben sich durch schmale Durchlässe, kletterten an rostigen Leitern mit glitschigen Sprossen hoch, hielten an Kreuzungen an, um mit Karte und Kompass den richtigen Weg zu finden. Ein Blick auf die Karte bewies Tony, dass sie tatsächlich recht zügig vorwärtskamen und bald am Ziel sein konnten. Sein Gefühl war weniger optimistisch. Es schien, als würden sie sich ständig im Kreise bewegen. Stalka trottete zwei Schritte vor Tony. Er hob immer wieder den Kopf und lauschte mit offenem Mund. Sein nervöses Knurren verhieß nichts Gutes.

Plötzlich blieb er stehen und Tony lief gegen seinen Rücken und rammte mit seiner Nase die vor Dreck steife Jacke Stalkas. Der kümmerte sich weder um den Rammstoß noch um Tony, der mit einem Taschentuch fuchtelte, bei dem heftigen Versuch, seine Nasenspitze zu reinigen. Stalka witterte nach links und rechts, dann packte er Tony am Arm und zerrte ihn zu einer Röhre, die einige Meter entfernt auf Brusthöhe in den Tunnel mündete. Stalka drängte sich als Erster in die enge Öffnung, während Tony wartete und mit seiner Taschenlampe beide Richtungen des Kanals ableuchtete. Jetzt erkannte er, warum Stalka unruhig gewesen war.

Eine Welle brandete durch die Abflussrinne. Obwohl sie den schmalen Gehsteig überflutete, war sie nicht besonders hoch und wirkte an sich nicht einmal bedrohlich. Dann erkannte Tony, dass die Welle entgegen die Fließrichtung des Abwassers auf ihn zukam. Dann erkannte er, dass es kein Wasser sein konnte. Dann erkannte er, dass es Ratten waren, und schmiss sich in diesem Moment schon in die Fluchtröhre.

Die Nager wimmelten vorbei, sprangen an seine Beine, krallten sich für Momente fest und hetzten fiepend weiter. Es mussten Tausende sein, der gesamte Kanal war plötzlich von einer springenden, rennenden, quiekenden Masse erfüllt. Es war ein lebendiger Teppich, gewebt aus schwarzen, wuselnden Fellen, aus denen heraus blanke Augen ins Licht glitzerten. Tony war nicht hoch genug gesprungen, steckte bis zu den Schultern in der Röhre und strampelte mit den Beinen. Schließlich bekam Stalka ihn zu packen und schleifte ihn ohne besondere Umstände die Röhre entlang bis zu einem Schacht, der einige Meter hochstieg.

»Danke für die Hilfe, aber das letzte Stück hätte ich alleine geschafft«, protestierte Tony und rappelte sich auf. Eine Bewegung von Stalka schnitt seinen Satz ab.

»So kommn«, flüsterte Stalka.

»Die Ratten sind schon längst da«, antwortete Tony und kam sich recht klug dabei vor. Als es heraus war, fiel ihm ein, dass Stalka Ratten verspeiste, aber nicht vor ihnen weglief. Nein, Stalka und die Ratten waren aus demselben Grund geflohen.

»De Miesen machn n Zug«, flüsterte Stalka weiter. »Müssma lautnich sein, sons is gutnich.«

Das Fiepen und das Kratzen der zahllosen kleinen Krallen verstummten. Es war still, von den keuchenden Atemzügen der beiden abgesehen. Dann, erst kaum zu ahnen, dann immer lauter, ertönte ein Gesang. Nein, kein Gesang, eher eine Art von gemeinsamem, rhythmischem Stöhnen, das nun mit dem Trampeln von Füßen zusammenklang. Durch die Röhre wurden Lichter erkennbar, Fackeln blakten und schickten einen fettigen Rauch voraus, Schatten tanzten über die Wände. Dann war die Gruppe vorbeigerauscht. Ein Geruch nach verbranntem Gummi blieb zurück.

Tony holte seine Wasserflasche aus dem Gürtel und spülte sich den Mund aus. Eine Weile überlegte er.

»Hast du es auch gehört?«, fragte er dann. Es kostete ihn Überwindung, die Frage auszusprechen.

Stalka nickte nur. Natürlich, der klagende Schrei einer Frau war nicht zu überhören gewesen. Nach einer Weile krochen sie zurück und setzen den Weg weiter fort. Wenn Stalka das Risiko einging, denselben Kanal zu benutzen, wie diese Gruppe, musste er sich seiner Sache sicher sein oder es gab keine Alternative. Tony erhoffte das erstere und war vom Zweiten überzeugt.

Als sie erneut abbogen, fiel Tonys Blick auf einen Gegenstand am Boden eines Seitenstranges. Er bat Stalka zu warten und ging nachschauen. Es war ein Damenschuh – ein elegantes Modell in Größe 33, mit hohen Absätzen. Auch die rote Lackfarbe und eine modische Verzierung aus Strasssteinen waren noch erkennbar. Wer so etwas trug, musste ziemlich jung und ziemlich wohlbetucht sein. Der Schuh war ohne Frage Teil einer Abendgarderobe gewesen, die man im Theater, bei einem Konzert oder allenfalls bei einer recht hochgestochenen Party trug. Die Frage ging Tony nicht mehr aus dem Kopf. Wieso machte man sich die Mühe, eine Frau zu entführen, die sicherlich stets in Begleitung war und mit ebensolcher Sicherheit immer an Orten, die man nicht vom nächsten Kanaldeckel aus betreten konnte.

Warum schnappten sie sich nicht einfach einen betrunkenen Penner aus einem Luftschacht der Untergrundbahn? Und dann kam die zweite Frage, die lautete: Warum wurde die Frau noch lebend durch den Kanal geschleppt?

Es ergab keinen Sinn eine schreiende, um sich tretende Person mitzuschleppen, wenn man sie nicht unbedingt lebend brauchte? Aber wofür? Wofür nur? Die Frage ließ Tony Tanner während der nächsten Zeit nicht los.

 

Die Frage blieb unbeantwortet. Stalka prallte zurück, machte eine Kehrtwendung, packte Tony und riss ihn wie einen nassen Sack mit. Tonys Absätze schleiften über den Boden, bei dem Versuch, sich umzudrehen, um richtig auf die Beine zu kommen, glitt ihm die Lampe aus der Hand. Er wollte anhalten, um sie aufzuheben, aber Stalka packte ihn erneut am Kragen und zog ihn mit. Nach einigen Metern war Tony einsichtig, dass Stalka eine gute Idee gehabt hatte. Im Lichtschein der Lampe erkannte er zwei, drei glühende Augenpaare, dann huschte etwas durch den Lichtkegel, ein Bein schlug gegen die Lampe, warf sie auf die andere Seite und für einen Moment wurde Tony von dem Schein geblendet. In der einen Hand seine Funzel, die andere Hand in den Jackenkragen Tony Tanners gekrallt, floh Stalka den unterirdischen Kanal entlang.

Als er abbog, hob Tony durch die Fliehkraft förmlich ab und er knallte, wie die berühmte schwebende Jungfrau waagerecht in der Luft stehend, gegen die Wand. Sein Ärmel ratschte über den rauen Beton, bis der derbe Stoff völlig durchgescheuert war. Den Versuch, wieder auf die Beine zu kommen, hatte Tony schon aufgegeben. Er war nicht mehr als ein Stück Fluchtgepäck. Wenigstens war es ihm gelungen, eine Ersatzlampe aus der Brusttasche zu ziehen und anzuknipsen. Mit einem Ruck hielt Stalka an und begann eine Leiter hochzuklettern.

Immer noch hielt er Tony am Kragen, aber der schaffte es nun strampelnd, mit einem Fuß eine Leitersprosse zu erwischen und Halt zu finden.

Aber diese Aktion kostete wertvolle Zeit. Stalka war schon weit über ihm in einem Loch verschwunden, als Tony gerade einmal die nächste Sprosse in Angriff nahm. Unter sich hörte er ein Kratzen und Schaben, dann warf sich etwas fauchend in die Höhe, traf ihn im Rücken und riss ihn fast von der Leiter. Tony glitt mit einem Fuß von der Sprosse, rutschte ab, bis sich sein Bein zwischen Leiter und Wand verkeilt hatte. Das Gewicht an seinem Rucksack zog ihn nach hinten. Mit letzter Anstrengung befreite Tony sein Bein und schaffte es einige Sprossen weiter nach oben.

Dann fuhr Stalkas Arm herab wie ein Kran und zog ihn hoch. Der Kerl musste Riesenkräfte besitzen. Bis zum Loch in der Decke, wo Tony stecken blieb. Erst als er die Schnallen seines Rucksacks löste und die Last von seinen Schultern rutschte, konnte er hindurchgleiten.

Stalka zog ihn vollends hoch und begann dann, ein Ende von Tonys Bergseil hochzuziehen. Tony hatte es am Gürtel getragen – ein ausgesprochen blöder Platz, um dieses Gewicht zu transportieren und eines der Viecher, vor denen sie geflohen waren, hatte sich an dem herabhängenden Ende verbissen.

»Di sin vonne Miesen«, erklärte Stalka, als er das zappelnde und fauchende Tier schließlich in der Hand hielt. Es war eigentlich nichts Aufregendes, wenn man davon absah, dass die Ratte die Größe eines Terriers hatte.

»Eine is schlimmnich, aber wenn zwei, dann musse höpseln, sons bisse dran. Wenn eine has, dann machse so.«

Die Methode gefiel Tony, obwohl er Zweifel hatte, dass er sie mit der gleichen Eleganz einsetzen konnte wie Stalka. Der würgte das Tier mit der einen Hand, hob es auf und quetschte ihm dann die Eingeweide aus dem Leib. Als die Innereien als rotbraun-grüner Schleim auf den Boden pladderten, hatte Tony das dringende Bedürfnis, sich zu erbrechen. Danach beschlossen sie einstimmig, den Rest des Weges oberirdisch zurückzulegen. Als sie vor der Mauer der Klinik standen, war es inzwischen fast drei Uhr.

Das Gelände lag, so weit erkennbar, dunkel und völlig ruhig da. Diese Beobachtung hatte indes wenig Beruhigendes an sich, denn um diese Nachtzeit wäre alles andere eine Überraschung gewesen. Außer dem Grollen eines hochfliegenden Flugzeugs und dem leisen Rascheln des Windes in einigen Büschen war es völlig still. Stalka fühlte sich sichtlich unwohl. Er vermied das Licht der wenigen Straßenlaternen und drückte sich mit einem schabenden Geräusch an Gartenmauern und Hauswänden entlang. Von Zeit zu Zeit warf er einen Blick nach oben, zum dunstigen Himmel, an dem nur wenige, besonders helle Sterne zu sehen waren. Dabei klammerte er sich an irgendeinem Gegenstand fest, wie ein Mensch, der neben einem besonders schrecklichen Abgrund steht. Schließlich schnaubte er und tippte Tony auf die Schulter.

»Is gutnich bei di Oberste. Gehnwa inne Welt.«

»Das müssen wir wohl. Schau dir aber erstmal an, wo wir hinwollen.«

 

Serebriakoffs Klinik war Stalka kaum einen Blick wert. Er bemühte sich nur, möglichst schnell zurück in die Welt zu kommen. Und der Eingang dorthin bestand natürlich aus einem Kanaldeckel. Jetzt, wo Stalka ihr Ziel gesehen hatte, führte er Tony mit schlafwandlerischer Sicherheit durch die verschlungenen Ebenen von Rohren, Schächten und Leitungen. Tony selbst hatte schon nach der ersten Biegung die Orientierung verloren. Auch sein Kompass, der bisher ganz hilfreich gewesen war, spielte jetzt verrückt und drehte sich mit wechselnder Geschwindigkeit im Kreis. Tony schrieb diesen Effekt einer Starkstromleitung zu, die irgendwo in der Nähe entlang laufen musste.

Das war zumindest die einzig plausible Erklärung, die ihm einfiel. Daneben gab es sicherlich noch eine Handvoll Erklärungen • la Dorkas, aber damit wollte sich Tony jetzt nicht abgeben.

Je näher sie ihrem Ziel kamen, desto weniger überzeugt war Tony von seiner Mission.

Wer sagte ihm, ob es überhaupt einen brauchbaren Zugang von der Kanalisation in das Gebäude gab? Und wenn ja, wo würde er in dem ihm völlig fremden Gebäude auftauchen? Vielleicht in einem Trakt, zu dem die Pfleger keinen Zugang, mithin auch keine Schlüssel hatten?

Wie sollte er sich zurechtfinden? Solche Fragen schienen eine Wanderung durch die Kanalisation noch als erfreuliche Ablenkung erscheinen.

Nachdem sie eine kurze Strecke in einem gerade noch mannshohen Kanalrohr zurückgelegt hatten, bog Stalka nach kurzem Zögern ab. Jetzt mussten sie schon gebückt gehen. Für Stalka war das kein Problem, aber Tony hatte Mühe, mit scharf nach vorne geklapptem Oberkörper das Tempo zu halten. Sie schienen nun durch eine Schwärze zu rennen, die sich hinter dem Lichtschein seiner Taschenlampe versteckte. Der Gedanke ließ Tony unkonzentriert werden, er trat sich selbst auf die Füße, geriet ins Stolpern, torkelte noch einige Schritte weit, knallte dann, beim Versuch sich aufzurichten, um das Gleichgewicht wiederzufinden, mit dem Kopf gegen das Rohr und stürzte dann längelang auf den Boden.

Er fiel zum Glück sehr weich, und es gab ein entsprechendes Geräusch, ein Flopp, das ungeheuer schlammig und schmierig-fettig klang. Tony hatte die Arme zum Schutz vorgestreckt, aber auch sie waren auf der feuchten Bodenschicht abgeglitten, und nur mit Mühe konnte er den Kopf in den Nacken heben, um das Gesicht halbwegs zu schützen. Der Geruch, der von der Masse aufstieg, die seinen Körper nun in einer so mütterlich umfassenden Umarmung hielt, war so gnadenlos eindeutig, dass Tony schlagartig alle Gedanken abschalten musste, um jetzt nicht völlig irrezuwerden.

Er rappelte sich, säuberte das Glas seiner Lampe und zupfte sich ein Stück Papier von der Jacke. Der ursprüngliche Verwendungszweck dieses Papieres war unzweifelhaft. Sein Magen begann sich zuckend zu verkrampfen und pumpte brennende Galle die Speiseröhre hoch. Der gute alte Trick, der da hieß Tief durchatmen, und bis drei zählen versprach angesichts der dumpfen Luft hier in der Unterwelt wenig Erfolg. Dennoch lenkte der Gedanke daran Tony soweit ab, dass sich sein Magen beruhigte und er weiterkonnte. Nach einigen Schritten stieß er auf Stalka. Der hatte sich in aller Ruhe hingehockt, mampfte Schokolade und deutete nach oben. Ein schmales Rohr mündete dort.

»Da musste rein«, beschied Stalka dem wenig begeisterten Tony.

Im Lichtschein der Lampe entpuppte sich der Zugang als senkrecht aufsteigendes, gerade schulterbreites Rohr. Eine schleimige, grünlich-weiße Schicht, glatter als Schmierseife, bedeckte die Oberfläche.

Das Ende des Rohres war nicht zu erkennen und Tony wagte auch nicht, weitere Vermutungen darüber anzustellen. »Das schaffe ich nie«, stellte er dann fest. Schluss, Ende, vorbei. Ein wenig Kaminklettern hätte er sich schon zugetraut, selbst wenn ihm jetzt schon alle Muskeln schmerzten. Aber durch eine glatte Röhre, in der man sich bewegen kann, senkrecht hochzuklimmen, das war unmöglich.

»Is schwernich. Ich geb dir ne Hand«, sagte Stalka. Bevor Tony etwas sagen konnte, hatte Stalka ihn gepackt und mit der Geschicklichkeit eines besonders ausgeschlafenen Gardekanoniers, der bei Queens Geburtstag die Salutgranaten in den Verschluss schiebt, in das Rohr bugsiert. Dann stemmte er sich unter Tonys Füße und schob ihn nach oben. Wie er dieses Gewicht bewältigen konnte und sich dabei selbst nach oben schob, war für Tony ein Rätsel. Er verbrachte nicht viel Zeit mit dessen Lösung, denn derweil schlurpte der Schleim um seine Schultern und in seinen Nacken, und dieses Ereignis nahm seine gesamte Aufmerksamkeit in Anspruch. Dann prallte etwas gegen seinen Kopf, dass er Sterne sah.

»Hier ist der Deckel«, flüsterte Tony, nachdem er seine Orientierung wiedergewonnen hatte. Mit Mühe und nach langer Zeit gelang es ihm, seine Hände am Körper vorbei und über seinen Kopf zu bringen. Er tastete den Deckel ab. Es gab keinen Verschluss.

Stalka musste noch einmal schieben.

»Machma«, sagte Stalka und er tat es so, dass Tony wie ein Taucher hinter dem scheppernden Deckel her nach oben schoss. Er rappelte sich auf und leuchtete in das Rohr, wo ihm Stalka entgegen blickte.

»Ich bin gleich wieder da«, erklärte Tony.

»Is gut«, antwortete Stalka auf diesen überoptimistischen Bescheid und ließ sich langsam tiefer sinken. Seine krallenartigen Fingernägel kreischten über die Keramik des Rohres, als sich seine Gestalt langsam nach unten bewegte. Tony schaute sich um. Die großen Maschinen, die er im Schein der Lampe erkannte, konnte er nach einiger Zeit als Waschmaschinen identifizieren. Es war die Art von Großgeräten, die in Hotels oder Krankenhäusern im Einsatz sind. Der Waschraum also.

 

Es gab nur eine einzige Tür. Eine Tatsache, die Tony durchaus zu schätzen wusste, denn er hatte keine Lust auf Alternativen. Die Tür war verschlossen. Er musste den Schlüsselbund aus seinem schlammverkrusteten Anzug herausfischen und nach dem richtigen Schlüssel suchen. Natürlich – wie konnte es auch anders sein – war der Bund bei der Wanderung durch die Kanäle in die hinterste Ecke der Tasche gerutscht und Tony musste einige herzschlagverdächtige Momente suchen und sich dabei sagen Du hast den Schlüsselbund eingesteckt, du hast mindestens fünfmal nachgeschaut und die verdammte Tasche ist auch nicht kaputt, bis seine Finger endlich auf den erhofften Widerstand stießen. Und dann begann das Suchen nach dem richtigen Schlüssel.

Er wurde nervös. Die Zeit lief ihm davon. Er kam durcheinander, musste mit dem Durchprobieren neu anfangen, steckte dann einige Schlüssel falsch herum in das Schloss, musste noch einmal die Reihe durchgehen. Dann endlich fuhr ein Schlüssel in das Schloss und öffnete mit einem Klacken den Verschluss. Tony drückte die Klinke herunter, schob die Tür ein Stück weit auf und lauschte. Gab es in der Ferne ein Geräusch – Alarmklingeln, Sirenengeheul, eilige Schritte? Er hielt den Atem an und lauschte noch einmal intensiv.

Nichts. Stille. Stille und Dunkelheit. Hatte er Glück? Oder war das nur ein Trick um ihn nur umso eindeutiger in die Falle tappen zu lassen?

Tony Tanner sagte dem Teil seines Wesens, das stets und ständig negative Fantasien produzierte ein herzhaftes Leck mich und trat aus der Tür. Eine Treppe führte hoch. An einem kleinen vergitterten Fenster konnte er Grashalme erkennen. Immerhin wusste er nun, dass im Erdgeschoss war. Das war die richtige Ebene, aber angesichts der Ausmaße von Serebriakoffs Klinik nutzte ihm das wenig. Der Versuch, sich gedanklich zu orientieren, scheiterte. Er hatte nicht genug Anhaltspunkte, um sich schon zurechtzufinden. Er musste sich erst einmal umschauen.

Das Folgende schien wie ein realer Abklatsch eines unruhigen Traumes, in dem man durch ein Haus irrt und den Ausgang nicht findet. Tony Tanner verfluchte die viktorianische Architektur des Gebäudes, die dafür gemacht schien, ungebetene Gäste in die Irre zu leiten.

Er schlich über Wendeltreppen, über kurze Flure, huschte durch Gänge und drückte sich um Ecken, ohne einen einzigen Anhaltspunkt zu finden, wo er sich innerhalb des Gebäudekomplexes aufhielt. Überall konnten Kameras oder Bewegungsmelder lauern. Die Stille hinter den Türen wirkte tückisch und lauernd wie ein verborgenes Raubtier. Die Wände der Klinik schienen Ängste auszudünsten, die sich als klebrige Schicht auf Tonys Denken setzten und ihn dazu zwangen, in seinem inneren Bilder voller Panik und Schrecken zu schauen, die er nur mit Mühe wegwischen konnte.

Dann entdeckte er seine eigenen, schlammigen Fußspuren auf dem Boden. Er war im Kreis gegangen! Und nicht nur, dass er sich verirrt hatte, er bot jetzt jedem Pfleger und Wachmann, der nur einigermaßen aufmerksam seine Runden drehte, einen willkommenen Anlass die langweilige Routine durch einen Griff zum Alarmknopf zu unterbrechen. Einen Eindringling zu finden, der solche Spuren hinterließ, dürfte dann auch nicht allzu schwer fallen.

 

Vorsichtig schloss Tony eine weitere Tür auf und lugte in den Gang. In der spärlichen Beleuchtung einiger schwacher Notlampen sah er eine Reihe von Türen und zum ersten Mal überkam ihn das Gefühl des Wiedererkennens. Er schlich über den Gang, fuhr einmal zurück, als er entdeckte, dass er auf der Wand dicke dunkle Spuren hinterlassen hatte, und erstarrte dann vollends, als er einen schmalen Lichtschein sah, der aus einer Bürotür fiel. Wider alle Vernunft schob er sich lautlos weiter. Nun konnte er eine Stimme vernehmen. Noch ein Meter, noch einer – nun stand er unmittelbar neben der Tür. Und er erkannte die Stimme.

Es war Serebriakoff, eindeutig an seinem rollenden R erkennbar, der einen temperamentvollen Monolog führte. Es dauerte, bis Tony klar wurde, dass der Psychiater telefonierte. Es wäre nun an der Zeit gewesen, alle Reste von Ortskenntnis zu aktivieren, aber Tony verhielt still und lauschte.

»Es ist nicht mein verdammtes Problem«, sagte Serebriakoff. Er hatte Schwierigkeiten, das Wort Problem überhaupt über die Lippen zu bekommen, weil er das R vor sich hertrieb wie einen Haufen kollernder Kiesel, die von der Nase eines gestürzten Mountainbikers aufgeschoben werden.

Es folgten einige Momente der Stille, in denen nur ein Schatten durch den Lichtstrahl huschte und deutlich machte, dass Serebriakoff beim Telefonieren hin und herging.

»Was heißt hierrr Panik? Ich weiß, was Panik ist, das brauche ich mirrr von Ihnen nicht sagen zu lassen. Aberrr ich weiß auch, was verrrsagen ist, klarrr? Oh nein – nein – unterrrbrrrechen Sie mich nicht ständig. Ich bin keinerrr von Ihrrren Lohnkillerrrn -ach was, errrzählen Sie mir nichts von Soldatenehrrre, Sie sind derrr Letzte, der mirrr – verrrrdammt. Ich habe keine Lust jetzt darrrüber einen Disput zu führrren. Ja, ich weiß, was ich sage. Pinazzischnatzischatzi, das interrressierrt mich einen Drrreck. Er hat sich nach van Delmerrrt erkundigt. Er gibt sich als spanischerrrr Jourrnalist aus. – Sicherrr bin ich sicherrrr. Verrdammt, err ist sehr nahe an der Sache drrran. – Woherrr soll ich das wissen? Bin ich Jesus? Das wärrre Ihre Aufgabe gewesen! – Es ist mirrrr egal, ob Sie Delmerrt kaltgestellt – oder meinetwegen auch kalt gemacht haben. Das wirrrd ihn nur noch weiterrr neugierrrrig machen. Oh nein, errr ist kein Jourrrnalist, da bin ich sicherrr. Er setzt seine Nachforrrschungen auf den Punkt – Ach was, das Gegenteil ist der Fall. Wenn err auch nurrr ein wenig überrr Delmerrrrt errfährrt, dann habe ich den Typen am Arrrsch, verstehen Sie das? Oh nein, ich kann das sagen, sehrrr wohl kann ich das sagen. Dazu brrrauchte errr nicht allzuviel Grrrips. Die Verrrbindung ist soforrrt da. Da käme jederrr Schülerrr darrrauf. – Verdammt noch mal, ich habe doch keine Zeit, mich mit Ihrrren Scheißagentenspielchen zu beschäftigen. Ich errrfülle meine Aufgabe und es wärrre gut, wenn Sie die Ihrrre errrfüllen würrrden. – Nein, tun Sie nicht, sonst brrrauchte ich keine Befürrrchtungen zu haben. – Werrrden Sie nicht unverrrschämt.

Die Sache ist sehr weit gediehen, aberrr das bedeutet nicht, dass sie nicht noch gestoppt werrrden könnte. Die Angelegenheit ist ungeheuerrr diffizil und komplizierrrt. Wir können uns wederrr Fehlerrr leisten noch Unterrrbrrrechungen. Machen Sie also etwas. – Ihrrre Hubschrrrauber sind mirrr herrrzlich schnuppe, wirrrklich. – Dann besorrrgen Sie sich gefälligst wiederrr Leute oder machen es selbst. Gleichfalls – und an derrrselben Stelle!«

 

Der Hörer krachte auf die Gabel und Tony machte sich schleunigst davon. Er musste sich alle unangenehmen Ereignisse wieder in das Gedächtnis rufen, denn sie bildeten den Faden, an dem er sich entlang hangeln konnte. Er musste eine Treppe herunter, den Eingang anpeilen und dann einen Gang entlang. Mit jedem Schritt gewann Tony mehr Sicherheit. Ja, das war der richtige Weg. Er gelangte in den Sicherheitsbereich. Wieder überkam ihn das Gefühl, beobachtet zu werden. Aber nichts geschah.

Serebriakoff schien der Einzige zu sein, der in diesem Hause wach war. Links und rechts waren Türen. Inzwischen hatte Tony einen schnelleren Schritt eingeschlagen. Er musste weiterkommen, zu viel Zeit war schon verloren. Dann hielt er an. Zuerst war es ein instinktives Verharren. Als er versuchte herauszufinden, was ihn dazu bewogen hatte, was ihn unbewusst aus dem Konzept gebracht hatte, bemerkte er ein Vibrieren in seiner Brusttasche. Ein eisiger

Schrecken fuhr sein Rückgrat entlang. Es musste irgendein Insekt sein, das er aus dem Untergrund der Kanäle mitgeschleppt hatte. Irgendetwas bösartiges, haariges, stacheliges, das nun mit erstaunlicher Energie einen Ausweg suchte. Tony Tanner stand hilflos da, die Arme mit geballten Fäusten vor den Schultern und war kurz davor, auf der Stelle zu trampeln wie ein Schulmädchen, das eine Maus gesehen hat. Dann riss er sich zusammen, griff zu der Brusttasche, drückte die Schlammschicht zur Seite, riss mit einem scheinbar ungeheuer lauten, über den Gang hallenden Krachen den Klettverschluss auf, griff in die Öffnung und schleuderte das Vieh auf den Boden, bereit, es zu zertreten.

Der Kompass knallte auf die Steine, sprang dann hoch und schlitterte ein Stück den Gang hinunter. Mit einer Mischung aus Erleichterung und Ärger wollte Tony ihn wieder aufnehmen – es war ein teures Stück, das er frisch in einem Outdoor-Laden erstanden hatte, der Verkäufer hatte die Robustheit dieses expeditionsgeprüften Ausrüstungsgegenstandes nicht genug loben können, und er hatte augenscheinlich nicht übertrieben – als er wieder zurückzuckte.

Der Kompass vibrierte noch.

Fortsetzung folgt …