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Der Welt-Detektiv Band 6

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Deutsche Märchen und Sagen 140

Johannes Wilhelm Wolf
Deutsche Märchen und Sagen
Leipzig, F. A. Brockhaus, 1845

182. Die auswandernden Heiligen

In dem Zisterzienserkloster Folcodesrode (Volkenroda), welches in Thüringen gelegen ist, lebte vor Jahren ein Abt, der eine ungemeine Verehrung zu den Reliquien der Heiligen trug. Dieser hatte eines Nachts folgende Erscheinung: Er sah sich nämlich in die Kirche der heiligen Ursula zu Köln versetzt und erkannte, dass außerhalb derselben neben einer Mauer drei Körper von Jungfrauen aus der Schar der Elftausend, die Ursula begleiteten, begraben waren, und zugleich, dass diese Jungfrauen Theumata, Eleumata und Christantia hießen. Bald war er auf der Reise nach Köln; da ging er zu der Kirche und fand sogleich den Ort, welcher ihm in der Erscheinung angewiesen war. Er ging zur Äbtissin, erzählte der alles und bat um die Erlaubnis, nachgraben zu dürfen, welche er auch bald erhielt. Man wies ihn zu einem Mann namens Ulrich, dem es oblag, die Körper der heiligen Jungfrauen auszugraben. Dieser begann seine Arbeit und sie fanden zwei Sarkophage. In einem derselben lag zwischen den Gebeinen ein sehr schöner Kamm, den erbat sich der Gräber Ulrich. Er erhielt ihn auch und steckte ihn in seinen Handschuh und mit dem unter sein Oberkleid auf die Brust. Da hinderte er ihn aber am weiteren Graben. Er nahm ihn also wieder heraus und legte ihn auf den Rand der Grube.

Zufällig kam eine von den Nonnen da vorbei, sah und bewunderte den Kamm, steckte ihn zu sich und ging weg. Nachdem nun auch der dritte Körper gefunden und alle drei mit großer Ehrerbietung in einen Schrein geschlossen waren, wollte der Abt am folgenden Morgen mit dem teuren Heiligtum seinem Kloster zueilen.

In der Nacht aber erschienen ihm die drei Jungfrauen im Traum und sprachen zu ihm: »Wir können nicht mit dir gehen.«

Da fragte der Abt bestürzt: »Warum denn nicht, geliebteste Herrinnen?« Darauf antwortete eine von ihnen: »Weil ich meinen Kamm verloren habe, den mir meine Mutter schenkte, als ich mein Vaterland verließ.«

»Wer hat ihn denn, o Herrin?«, fragte der Abt und sie antwortete: »Als Ulrich den Kamm in seinem Handschuh auf den Rand der Grube legte, hat ihn eine der Schwestern namens Friderindis gestohlen.«

Des Morgens trat der Abt vor die Äbtissin und fragte: »Sagt mir, wie heißt der Mann, welcher die Jungfrauen ausgrub?«

»Ulricus«, antwortete sie.

»Ist hier nicht eine Schwester, welche Friderindis heißt?«, fragte der Abt weiter.

Und sie entgegnete: »Ja, eine unserer Nonnen heißt so.«

»Dann lasst beide rufen«, sprach der Abt.

Als beide kamen, erzählte er von der Erscheinung der vergangenen Nacht und die Nonne bekannte, dass sie den Kamm gestohlen hätte.

Da sprach der Abt: »Dann gebt mir ihn zurück, denn sonst wollen die drei Jungfrauen nicht mit mir gehen.«

Die Nonne gab ihm den Kamm, am anderen Tage reiste der Abt ab und wurde mit großem Jubel in seinem Kloster empfangen, wo man die Reliquien an einem schicklichen Ort der öffentlichen Verehrung aussetzte.

Zu der Zeit aber, wo Otto und Philipp um die Krone des deutschen Reichs stritten und Thüringen in großen Kriegsunruhen lag, verbarg man den Kirchenschmuck und die Reliquien; die drei Körper wurden in eine Ecke unter das Dach gebracht, wo sie sicher lagen. Als aber die Unruhen vorbei waren, gedachte keiner mehr der drei Jungfrauen und so blieben sie verkannt und vergessen in der Ecke liegen. Darüber erzürnt, schlugen sie zu zwei Malen heftig wider den Schrein, in welchem sie lagen, sodass jeder es wohl hören konnte. Als das nichts half, erschienen sie dem Küster zweimal und ermahnten ihn, er solle sorgen, dass man sie von dem Ort entferne, an welchem sie so verachtet lägen. Doch auch dies half nichts.

Da siehe, erschienen sie eines Nachts, während man die Matutin sang, am Eingange des Chores, verneigten sich zuerst gegen den Altar, dann gegen den Abt und die Mönche und verließen durch eine fast stets geschlossene Tür die Kirche. Alle hatten das gesehen, doch meinte jener der Mönche, er allein nur habe es gesehen.

Nach der Matutin ging einer der Mönche zum Abt und erzählte ihm von der Erscheinung. »Die sah ich auch«, sprach der Abt und alle Übrigen kamen und sagten dasselbe.

Da fragte der Abt sie, ob sie nicht wüssten, was das bedeute und wer die drei Jungfrauen wären.

Nach langem Hin- und Herraten sprach ein Mönch: »Sollten das nicht die drei Jungfrauen sein, welche wir von Köln empfangen hatten und die noch unter dem Dach liegen?«

Da liefen alle zu dem Schrein und als sie ihn leer fanden, schickten sie den Abt nach Köln, damit er die drei Jungfrauen zurückhole.

Als der Abt aber der Äbtissin das Ganze erzählte und man die drei Körper auf derselben Stelle fand, wo sie vordem gelegen hatten, da sprach die Äbtissin zu dem Abt, der schon glaubte, sie wieder mitnehmen zu können: »Nein, nein, die lieben Herrinnen sind uns gar willkommen, sehr willkommen; und da sie bei Euch nicht bleiben wollten, werden wir sie wahrlich nicht wieder zurücksenden.«

Da gaben sie ihm ein Haupt einer anderen Jungfrau. Mit dem musste der Abt sich begnügen und zog traurig wieder seiner Wege.

Ich glaube, diese Friderindis lebte noch lange. Schwerlich ist eine Nonne in dem Kloster, welche nicht diese wunderliche Geschichte kennt.