Der Vampir – Was der Mudessarif wollte
Hans Wachenhusen
Der Vampir
Eine Novelle aus Bulgarien, 1878
Was der Mudessarif wollte
Am zweiten Tag wurde Jowan in den Konak des Gouverneurs beschieden. Sorgenschwer, mit angstbeklommenem Herzen , trat er nachmittags den Weg an. Es kostete ohne Frage einen neuen Aderlass. Der Gouverneur hatte sich offenbar selbst von Jowans häuslichen Verhältnissen überzeugen wollen und nach äußeren Spuren seines Reichtums gesucht. Er hatte sich geirrt, denn in Jowans Haus verriet nichts dergleichen. Es handelte sich gewiss um eine neue Lieferung. Man hatte ihm doch seine Schaf-, seine Büffel- und Pferdeherden schon weggetrieben! Man hatte ihm zwar einen Bon dafür gegeben, aber wehe dem Rajah, wenn er es wagte, denselben zu präsentieren!
Man hatte seine Steuer des Krieges wegen um das Zwölffache erhöht und Jowan hatte keine Miene verzogen. Man hatte zweimal den Zehnten von seinen Ernten unten in den Niederungen gegen die Donau zu erhoben, hatte ihm von einzelnen Feldern die ganze Ernte weggenommen mit dem Versprechen der Zahlung, hatte ihm seine dortigen Magazine verwüstet und er hatte nicht gewagt, Klage zu führen. Und nun kam man mit neuen Erpressungen! Die Ehre, die ihm der Mudessarif erwiesen hatte, sollte teuer bezahlt werden!
Jowan wartete stundenlang in dem Audienzzimmer des Mudir. Es hieß, er sei noch nicht zurückgekehrt. Er hörte die Pferde im Hof stampfen, hörte die Offiziere säbelrasselnd durch das Haus gehen, hörte die zahlreiche Dienerschaft durcheinander eilen, aber Jowan wurde nicht vorgefordert.
Die Sonne war untergegangen und da gab man ihm endlich den Bescheid, der Mudessarif sei nicht mehr zu sprechen, er werde ihn morgen rufen lassen.
Die Nacht fällt schnell herab in jener Zone. Der alte Jowan suchte also in der Dunkelheit seinen Weg nach Hause.
Ihm war es unterwegs, als springe ihm ein Gespenst auf den Rücken, als packe ihn ein anderes bei der Brust. Jowan focht mit den Armen in der Luft und griff mit der großen Hand beschwörend nach dem silbernen Kreuz am Hals unter seinem Hemd.
Die Zigeunerbande war seit gestern wieder im Tal eingetroffen. Ihr Nachtfeuer leuchtete tief hinten auf der Trift unter den Felsenwänden und klärte Jowans Pfad. Die gescheuchten Eidechsen huschten durch das niedere Feigengebüsch zu beiden Seiten des Weges über seine Füße. Jowan wurde es banger und banger, je näher er seinem Gehöft kam. Es hallte ihm im Ohr, als rufe ihm eine Stimme: »Alter Jowan, spute dich!« Mit kaltem Schweiß auf der Stirn schritt er vorwärts, immer vorwärts.
Kein Lichtschein drang ihm aus den Fenstergittern seines Hauses entgegen. Die alten Eichen rauschten so unheimlich, als er die Tenne vor dem Haus betrat.
Ihm war es wiederum, als greife ihm eine Hand an die Kehle, als er den hölzernen Türklopfer einmal laut und einmal leise in Bewegung legte, das Zeichen, dass er es sei. Nun hörte er des alten Marko schleichende Tritte auf den Steinplatten des Flurs.
Marko öffnete, eine Laterne in der Hand.
»Es ist Zeit, Gospodin , dass Ihr kommt!«, brummte Marko mit gesenkter Stirn.
Er hatte nicht gewagt, seinem Herrn ins Gesicht zu schauen . Jowan sah seiner Miene an, dass etwas geschehen sein müsse.
»Sprich, Marko!« Er legte der gebeugten Gestalt die Hand schwer auf die Schulter. »Was ist vorgefallen? Mir war es auf dem Heimweg, als hocke ein böser Geist sich mir auf den Nacken, als höre ich deine Stimme nach mir rufen! … Rede!«
Beide standen einander gegenüber. Todesstille herrschte im Haus. Der alte Zigeuner nickte bestätigend mit dem Kopf und senkte sein lederartiges, gramdurchfurchtes Gesicht.
»O, ich habe wohl nach Euch gerufen, Gospodin!«, murmelte er mit halber Stimme.
»Ihr hättet nicht gehen sollen, es war ja doch nur eine Falle, die der Mudessarif Euch gestellt hatte.«
»So sprich!«
Jowan packte mit beiden Händen des Zigeuners Schulter. Der Herzschlag erdrückte ihm den Atem.
In demselben Moment hörte er eine helle Stimme aus dem Dunkel des Flurs. Er riss Marko die Leuchte aus der Hand und hielt sie hoch empor.
»Marinka!«, rief er freudig auf.
Sein Kind war da, sein Haus stand auf dem alten Fleck, was konnte geschehen sein!
Das Mädchen lag bereits zitternd, ihn ängstlich umschlingend, an seiner Brust und barg sein Gesicht an derselben.
Eine Zentnerlast war von des Alten Herz gefallen, aber des Mädchens Wesen war so sonderbar.
»Marko, rede!«, rief er, mit dem Fuß stampfend. »Eine Falle, sagst du? Was war es? … Ich habe mein Kind! Was wollte er?«
»Euer Kind, ja!« Der Alte wiegte das gramschwere Haupt. »Euer Kind!«, wiederholte er. »Aber das meine!«
»Selwa ist fort!«, jammerte das Mädchen. »Die Kawassen des Mudessarif drangen vor einer Stunde in das Haus!«
»Die Kawassen .…?« Dem Alten erstarb das Wort im Mund.
»Dein Kind wollten sie, Gospodin! Ich gab ihnen das meine!«
Marko hob beide Arme gen Himmel, dann sich abwendend legte er die von Arbeit genarbten, vom Alter gerunzelten Hände vor das Gesicht und schleppte sich in den dunklen Hintergrund, wo er gebrochen auf den Steinplatten zusammensank.
Jowan hatte ihn verstanden. Der treue Diener hatte das Kind seines Herrn gerettet und das seine geopfert. Er selbst hatte den Gedanken dazu geliefert, als er den Mudir täuschte. Er stand vor einem Beispiel der Aufopferungsfähigkeit eines Dieners, das seine Seele mit Schrecken und Bewunderung erfüllte.
Er hatte Marko vor zwanzig Jahren in sein Haus genommen, hatte ihm sein ganzes Vertrauen geschenkt, aber angesichts dieser Tat gestand er sich selbst, dass es wenig, spottwenig gewesen war, was er für diesen Mann getan hatte; dass er ihn in landläufiger Minderachtung des Zigeuners oft seinen Unmut, seine Launen, seinen Zorn sogar hatte fühlen lassen. Ja, selbst was er für das Kind dieses Mannes getan hatte, wog diese Tat nicht auf, rechtfertigte sie nimmer! Er hatte das Mädchen stets nur als Zigeunerdirne behandelt, als eine Sklavin seines Kindes, und auch sie hatte sich schweigend, duldend geopfert, um die Ehre ihrer Herrin zu retten.
Er wagte es nicht mehr, seine Tochter an das Herz zu drücken, als fürchte er, den Schmerz des treuen Marko zu verletzen. Er schob sie von sich, schritt zu dem alten, dahockenden Zigeuner, dessen Kinn trauernd auf die Brust gesunken war.
Er beugte sich zu ihm hinab, ergriff seine Hand und presste sie in der seinen.
»Marko«, sprach er mit von Rührung gebrochener Stimme, »Marko, es war ein Schurkenstreich dieses hämischen Buben! … Marko, ich will es dir nicht vergessen, was du getan hast!«
Das Mädchen mit sich ziehend, als fürchte er einen neuen Überfall auf sein Haus, als müsse er das Kind in Sicherheit bringen, stieg er mit schlotternden Knien die schmale Holztreppe hinauf, um sie zu verbergen, wo niemand sie finden solle.