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Der Detektiv – Der Löwe von Flandern – Teil 5

Walter Kabel
Der Detektiv
Band 20
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Der Löwe von Flandern

Teil 5

Ein kleiner Bretterkahn war bald losgekettet. Es lag nur ein halb zerbrochenes Ruder darin. Auf dem kaum vier Meter breiten Kanal war es dunkel wie in einem Sack. Modergeruch quoll uns in die Nase.

Harst ruderte. Bald hatten wir die 21 erreicht. Im Erdgeschoss waren die vier kleinen Fenster erleuchtet! Blumenkästen standen davor mit welken Tulpen und Rankengewächsen. Die Ranken wehte der Wind raschelnd hin und her. Aus den Fenstern fiel ein matter Schimmer auch auf die Steintreppe, die von einer niedrigen Pforte bis zum Wasserspiegel hinabging.

Abermals drückte Harst meinen Arm. Aber ich hatte die verschwommene Gestalt schon bemerkt, die da vor der Pforte kniete und die Arme dauernd bewegte.

» Er will das Schloss öffnen!«, flüsterte Harst.

Nach wenigen Minuten ein leises Kreischen. Der Mann war verschwunden – und wieder nach ein paar Minuten legten wir an der Treppe an, ketteten den Kahn fest und waren gleich darauf im Haus, in tiefer Finsternis, lauschten, standen mit aufs äußerste gespannten Sinnen da.

Irgendwoher aus der Tiefe drangen abgerissene Worte zu uns herauf. »Kannst du etwas verstehen?«, flüsterte Harst.

»Nein … nichts!«

Er schaltete seine Taschenlampe ein, deren weißer Finger nun in das Dunkel hineintastete. Wir befanden uns in einem kleinen Flur, dessen Wände nur aus Türen bestanden, tief nachgedunkelten, starken Türen mit Schnitzereien und seltsamen Türdrückern, die Löwenleibern glichen.

»Diese alten Häuser hier führen Namen«, raunte Harst mir zu. »Es ist nicht ausgeschlossen, dass diese Bude Löwe von Flandern heißt. Die Türdrücker und die Löwenköpfe in der Schnitzerei deuten darauf hin. Vielleicht gehört das Haus gar der Familie Planboom. Daher auch der Name der …«

Das Brigg blieb unausgesprochen. Ich musste es mir ergänzen. Es schoss mir als Letztes durch den Kopf, bevor wir den kleinen Flur verließen … unfreiwillig!

Heute, wo ich dies in aller Sicherheit und Behaglichkeit am Schreibtisch niederschreibe, empfinde ich bei dieser Erinnerung nicht mehr im Entferntesten das eisige Entsetzen wie damals, als der Boden unter unseren Füßen urplötzlich schwand, als wir, uns unwillkürlich aneinander klammernd mit blitzschnellem Griff, in die Tiefe sausten, auf feuchtes Heu, das widerlich stank, aufprallten und … neben uns jemand einen halblauten Schrei ausstieß. «

Wir waren unverletzt. Bevor ich mich noch aufgerappelt hatte, blitzte schon Harsts Lampe wieder auf. Wir waren in einen gemauerten Schacht von etwa sechs Meter Tiefe gefallen, in dem fußhoch faulendes Heu, Holzwolle, alte Säcke, eine zerrissene Schiffsflagge und in einer Ecke ein paar leere Kisten lagen.

Neben uns aber, mit dem Rücken an die Mauer gelehnt, saß mit angezogenen Beinen ein jüngerer, blasser Mensch ohne Hut in einem blauen Leinenanzug, wie ihn die Schiffsheizer tragen. Sein strohblondes Haar stand wie eine Bürste aufrecht. Sein Gesicht glänzte vor Schweiß und seine hellen, farblosen Fischaugen versuchten zu ergründen, wer ihm nun hier Gesellschaft leistete.

Harst kniete in dem modernden Heu und betrachtete den Menschen in aller Ruhe, fragte dann: »Wer sind Sie?«

»Graf Stanislaus, Viktor Jaromier von Proszinski«, grinste der Mensch und wischte sich mit der Hand den kalten Schweiß von der Stirn. »Ich habbe gewollt suchen eine kleine Libbesabbenteier, und da bin ich gefallen in disse Keller.«

»Hm!«, machte Harst. »Genauso ist es uns ergangen, Herr Graf. Wir suchten auch ein Liebesabenteuer. Aber unsere Liebe heißt: Löwe von Flandern

Der Mensch fuhr hoch, sank aber sofort wieder in die alte Stellung zurück. »Sie scherzen eine bisschen«, meinte er heiser und beleckte nervös die dünnen blutleeren Lippen.

»Ich scherze nie in gewissen Fällen, Herr Graf«, sagte Harst, langte nach einer Kiste und setzte sich. Auch ich hatte darauf noch Platz. »Wie hat es Ihnen in Colombo gefallen, Herr Graf?«, fuhr er fort, während der weiße Lichtkegel dauernd das verstörte Gesicht des Polen umspielte.

Abermals zuckte der Blasse zusammen und Harst fügte hinzu: »Sie waren doch Letztens in Hamburg, nicht wahr? Ihr Besuch dort ist Hollborn schlecht bekommen … Oh … Sie schwitzen schon wieder, dass Ihnen die Tropfen übers Gesicht rinnen. Sie sind durch den Aufenthalt in dem Versteck der Kajüte offenbar sehr geschwächt.«

Der Graf hatte den Kopf sinken lassen.

»Sie sind Kriminalbeamte«, sagte er dumpf. Und sein Deutsch wurde nun recht gut, nur ganz schwach hörte man den Engländer oder Amerikaner heraus.

»Nein Sie irren. Wir sind Privatleute wie Sie, das heißt, unser Beruf ist nicht der Ihre, eher das Gegenteil.«

Der Blasse hob den Kopf. »Nicht Beamte?«, wiederholte er ungläubig »Und … was wissen Sie denn von meinem Beruf?«

»Verschiedenes. Ich habe …«

Da! Über uns ein Geräusch. Ich hatte meine Taschenlampe in der Hand. Der Lichtstrahl schoss augenblicklich nach oben.

Was wir sahen? Was geschah? Woher das Geräusch?

Nun … etwa zwei Meter über dem Boden hatte an den Wänden eine zeitweilige, zweite Falltür bis dahin offen gestanden. Sie fiel nun langsam zu. Noch ein Knarren, ein dumpfes Poltern, dann … war unser Kerker weit niedriger geworden.

Wir drei starrten nach oben, verhielten uns ganz still. Auch mir trat kalter Schweiß auf die Stirn. Dieser Falle war nicht zu entrinnen; hier konnten wir um Hilfe rufen, so viel wir wollten. Niemand würde uns hören.

Harsts linke Hand hob sich. Der Zeigefinger deutete auf das faulende Heu.

»Wasser!«, sagte er leise.

Und … auch ich hörte jetzt ein Glucksen und Rauschen unter uns.

Harsts Füße arbeiteten bereits, stießen das Heu beiseite. Darunter kamen Eichenplanken zum Vorschein.

»Wir sitzen über einem der unterirdischen Kanäle«, erklärte er. »Hier in Amsterdam ist schon mancher Fremde spurlos verschwunden. Die Grachten könnten manche Tragödie berichten.«

»Du meinst, dass …«

Er wirkte ernst. »Ja, ich meine, dass wir auf einer Falltür, der dritten Falltür sitzen. Wenn man sie öffnet, verschlucken uns die morastigen Kanäle, in denen kein Mensch schwimmen kann. Nur eine dünne Wasserschicht gleitet da über Schlamm von Jahrhunderten hinweg. Niemand hat ein Interesse, diese verdreckten Grachten auszubaggern. Warten wir ab, was weiter geschieht. Immerhin empfiehlt es sich, einige Vorkehrungen zu treffen, die vielleicht von Nutzen sein können. Drehen wir aus den Säcken da und der Fahne Taue.« Er zog sein Messer. Wir trennten schmale Streifen ab, flochten sie hastig zusammen. Der Graf sah stumpfsinnig zu. Ich fieberte vor Aufregung. Ich ahnte nur ungefähr, was Harst vorhatte.

Das Mauerwerk zeigte überall tiefe Risse. Harst zerbrach einen Kistendeckel und trieb an zwei Stellen starke Holzstücke in die tiefsten Spalten, befestigte daran zwei der primitiven Taue, band sich das eine um die Brust und prüfte, ob die Pflöcke sein Gewicht trugen. Sie hielten.

Ich folgte seinem Beispiel. Auch der Graf regte sich nun, murmelte »Vortreffliche Idee« und hatte mit großer Geschicklichkeit in Kurzem sich ebenfalls angeseilt.

Wir waren kaum wieder einige Minuten untätig, als sich über uns die Falltür knarrend eine Handbreit öffnete und an einem Bindfaden eine Schiefertafel mit daran festgebundenem Griffel zu uns herabschwebte.

Harst nahm sie, las ein paar holländische Sätze halblaut vor und verdeutschte sie mir dann: Sie sind Hecker und Schubert in einer neuen Verkleidung. Der dritte Mann gehört nicht zu Ihnen. Wir werden Ihnen Leinen hinablassen. Binden Sie den Menschen, damit wir ihn emporziehen können. Ihnen beiden wird nichts geschehen. Sie sollen Lebensmittel erhalten und werden nach vier Tagen frei sein. Denken Sie an Ihre erste Gefangenschaft und vertrauen Sie uns. Bitte Antwort hierauf.

Der Graf hatte den Kopf vorgereckt, hatte alles mitangehört.

»Wollen Sie mich etwa diesen Leuten ausliefern?«, kreischte er nun förmlich. »Sie werden mich ermorden! Sie kennen kein Erbarmen, diese … diese …«

»Still! … Ausliefern werde ich Sie nur, wenn Sie mir nicht gestehen, wer Sie sind und was auf dem Löwen von Flandern vorgegangen ist. Wollen Sie die Wahrheit sagen?«

»Ja … ja!« Das klang nicht sehr ehrlich.

Trotzdem schrieb Harst auf die Tafel: Antwort gebe ich nach einer halben Stunde. Bitte dann nochmals um die Tafel. Hecker.

Die Schiefertafel wurde gleich darauf hochgezogen, und die Falltür schloss sich wieder.

»So«, meinte Harst. »Nun beginnen Sie. Wie heißen Sie?«

»Edward Armstrong. Ich war Ingenieur …«

»Halt! Sie lügen schon. Ingenieur waren Sie nie. Sie haben nach den Angaben des Fahndungsblattes zusammen mit einem gewissen Tom Preston als Elektromonteure in Colombo gearbeitet und bei dem chinesischen Händler Mi Luang bei einer Lichtlegung die Gelegenheit zum Raub der Perlen und Diamanten ausgekundschaftet. Der Chinese wurde dann von Ihnen ermordet, und …«

»Nicht von mir … bei Gott! Nicht von mir! Ich war ehrlich bis dahin. Ich bin Ingenieur, nur viel Pech habe ich im Leben gehabt.«

»Mag sein. Das wird sich alles wohl nachweisen lassen. Sie beide flohen dann auf die Brigg. Hat Planboom Sie gegen eine Belohnung mitgenommen und verborgen gehalten?«

»Nein. Wir vertrauten uns dem Steuermann Rouvier an, bestachen ihn und er hat Planboom dann erklärt, wir seien Juwelenhändler, die den hohen Einfuhrzoll in Europa sparen wollten. Planboom wusste nichts von dem Raub. Wir beide, Preston und ich, hielten uns in der Kammer neben der Kajüte verborgen. Die vier indischen Matrosen ahnten nichts von unserer Anwesenheit an Bord. Alles ging gut, bis wir in die Nordsee kamen.«

»Ja, da erschien der Cuxhaven 3 …«

»… nachts. Die Inder wurden von Rouvier erschossen. Preston erhielt einen Beilhieb, flog über die Reling, ich ebenfalls. Aber ich hatte das Bewusstsein nicht verloren. Ich tat, als ob ich versank, schwamm im Wasser unter der Brigg weg und kletterte wieder an Bord, verbarg mich …«

»… in dem geheimen Verschlag …«

»… ja, von dessen Vorhandensein ich durch Planboom erfahren hatte, der mich gut leiden mochte. Selbst Rouvier ahnte nichts von dem Versteck, wo ich mich bis …«

»… Christiania verborgen hielt. Was wurde aus Planboom?«

»Hollborn drohte ihm mit dem Tod, falls er nicht mit ihm gemeinsame Sache mache. Ich belauschte diese Unterredung. Rouvier redete Planboom gleichfalls zu. Und da es diesem nicht gerade gut ging, gab er nach und erhielt einen Teil der Beute. Er ahnte nicht, dass ich noch lebte.«

»In Christiania flohen Sie dann hinter den Kohlenkahn. Sie trugen eine Verkleidung …«

»Den Bart habe ich mir jetzt erst abnehmen lassen …«

»… und in Hamburg wollten Sie Hollborn die Beute wieder …«

»… Oh, er stach zuerst auf mich ein. Ich bin kein Meuchelmörder … wirklich nicht!«

Harst sann nun über irgendetwas nach. Mein Hirn aber kam nun nach diesem blitzschnellen Entrollen so vieler Bilder, aus denen sich das Rätsel des Löwen von Flandern zusammensetzte, ein wenig zur Ruhe.

»Rouvier und Hollborn waren fraglos alte Bekannte und einander ebenbürtig«, sagte Harst nun, indem er zu der Falltür emporschaute. »Rouvier wird Hollborn gleich aus Colombo noch brieflich mitgeteilt haben, dass auf der Brigg etwas zu holen war. Dieser Brief musste wochenlang vor der Brigg in Deutschland sein, da er mit Postdampfer befördert wurde. So hatte Hollborn Zeit, den Cuxhaven 3 zu mieten, mit anrüchigem Gesindel zu bemannen und dem Löwen von Flandern aufzulauern. Vielleicht …«

Über uns plötzlich eine Stimme: »Nun, wie steht es mit der Antwort, Herr Hecker?«

Harst flüsterte Armstrong erst etwas zu, rief dann: »Gut – einverstanden! Stricke her!«

Dann zog er seine Pistole, schlug auf Armstrong ein. »Rühren Sie sich nicht! Schubert … binde ihn!«

Ich merkte, es war Komödie. Ich wusste nicht, was Harst beabsichtigte. Erst als er mir zuraunte »Weg mit der Lampe! Ich lasse mich hochziehen!«, durchschaute ich den Streich, den er den Leuten oben spielen wollte.

Zwei Stricke schwebten herab. Harsts Lampe lag so auf der Kiste, dass der Lichtkegel uns nicht traf. Die Komödie ging weiter. Armstrong benahm sich sehr schlau, bat, schimpfte, fluchte, brüllte.

Dann rief Harst: »Schieb ihm einen Knebel zwischen die Zähne!« Dann wurde Harst langsam hochgehievt; die zweite Falltür stand weit offen. Harst hatte die Arme auf dem Rücken, tat, als sei er gefesselt. So schwebte er empor in die Dunkelheit.

Sekunden atemloser Spannung. Dann … oben irgendwo ein ächzender Laut; wieder Stille; nun Harsts Stimme: »Die Stricke kommen! Schraut … her zu mir! Ich habe den Kerl hier vorläufig erledigt!«

Nun sah ich, dass sich zwischen den beiden Falltüren in der Mauer eine kleine eiserne Tür befand. Dahinter lief eine Treppe aufwärts. Auf den unteren Stufen lag ein breitschultriger, schwarzbärtiger Seemann mit gefesselten Händen und Füßen. Er war bewusstlos. Harst hatte ihn mit dem Pistolenkolben gegen die Schläfe getroffen.

Nachdem Harst die beiden Stricke, die mit dem einen Ende an der Eisentür befestigt waren, wieder in den Schacht hatte hinabgleiten lassen, kletterten wir leise nach oben, gelangten durch eine Falltür in eine Kammer neben einer blitzsauberen Küche und dann in ein Zimmer …!

Im Zimmer saß das Ehepaar Planboom, auf Stühlen angebunden, mit Tüchern über dem Kopf, mit Knebeln im Mund.

Wir befreiten sie. Harst erklärte sofort, wer er sei, fügte hinzu: »Kapitän Planboom, der Mann, den ich soeben unschädlich gemacht habe, dürfte Rouvier sein, Ihr Steuermann. Ich kenne jetzt die ganze Geschichte des Geheimnisses Ihrer Brigg und …«

»Gestatten Sie: Sie kennen nicht alles. Ich gab Hollborn und Rouvier mein Wort, zu schweigen und mich zu fügen, forderte aber, dass mein Schiff nicht versenkt würde. Hollborn war der menschlicher denkende Schurke. Er sorgte auch dafür, dass Sie beide nicht beseitigt wurden, als er und Rouvier Sie gefangen nahmen.«

»Er soll seinen Lohn erhalten, Kapitän!«, sagte Harst kalt.

»Gehen Sie, holen Sie die Polizei und legen Sie ein offenes Geständnis ab. Sie müssen mit einer leichten Strafe davonkommen. Ich werde mich für Sie verwenden.«

Wir brachten Rouvier nach oben in das Zimmer. Inzwischen hatte Armstrong die Gelegenheit benutzt, aus dem Verließ an den Stricken hinaufzuklettern. Er war und blieb verschwunden. Harst tat sehr überrascht. Aber ich hatte das Gefühl, dass er Armstrong habe die Flucht ermöglichen wollen. Auch auf mich hatte der Ingenieur keinen ungünstigen Eindruck gemacht.

Rouvier hatte den größten Teil des Raubes bei sich. Er ist später hingerichtet worden. Planboom wurde freigesprochen, kaufte seine Brigg zurück und schreibt noch heute regelmäßig zu Haralds Geburtstag einen langen, dankbaren Brief.