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Aus dem Wigwam – Der Wendigo (Riese, Ungeheuer)

Karl Knortz
Aus dem Wigwam
Uralte und neue Märchen und Sagen der nordamerikanischen Indianer
Otto Spamer Verlag. Leipzig. 1880

Noch vierzig Sagen
Mitgeteilt vom Navajohäuptling El Zol

Der Wendigo (Riese, Ungeheuer)

n einem einsamen Wald lebte ein Mann mit seiner Frau und einem Sohn. Als der Vater eines Tages auf die Jagd gegangen war, sah seine Frau aus der Hütte und bemerkte, wie ein großer Mann mit rüstigen Schritten über das Wasser des Sees auf sie zuschritt. Bald war er so nahe, dass eine Flucht nutzlos gewesen wäre. Sie lief also in den Wigwam, nahm ihren dreijährigen Sohn bei der Hand und rief laut aus: »Siehe, dort kommt dein Großvater!«

Der Riese antwortete: »Jawohl, mein Sohn!« Und dann bat er die Frau um Essen. Glücklicherweise hatte dieselbe großen Vorrat an getrocknetem Fleisch und stellte ihm denselben vor. Doch er wies das Fleisch unwillig zurück und nahm einen frischgeschossenen Hirsch, der vor der Tür lag. Zerriss ihn, trank sein Blut und nagte die Knochen ab.

Als der Jäger nach Hause kam und des Ungeheuers ansichtig wurde, fürchtete er sich sehr, sagte aber kein Wort zu ihm. Kaum aber hatte er einen fetten Rehbock, den er geschossen hatte, niedergelegt, so fiel auch der Riese schon darüber her und verschlang ihn, als ob er bloß ein Mund voll wäre. Der Riese sagte ebenfalls kein Wort. Als er gegessen hatte, legte er sich nieder und schlief ein.

Am nächsten Morgen gingen beide zusammen auf die Jagd. Der Jäger brachte einen Hirsch und der Riese zwei Indianer, die er erschlagen hatte, zurück. Dieselben aß er mit Haut, Haar und Knochen auf und verschlang danach auch noch den Hirsch.

In dieser Weise lebten sie geraume Zeit beisammen. Der Riese sprach nie ein Wort, tat aber auch seinem Hauswirt kein Leid. Eines Tages sagte er zu ihm, dass die Zeit seiner Abreise gekommen sei und dass er ihm zum Dank zwei Zauberpfeile geben würde, die nie ihr Ziel verfehlten. Da­nach verließ er die Hütte.

Der Jäger und seine Frau waren überglücklich, den lästigen Gast losgeworden zu sein, denn sie hatten während der ganzen Zeit in der größten Todesangst gelebt. Die Pfeile waren, wie der Riese gesagt hatte.

Eines Tages sah die Frau wieder aus dem Wigwam und bemerkte, wie ein anderer Wendigo auf sie zukam. Diesmal fürchtete sie sich nicht, denn sie glaubte, er würde sie behandeln wie der erste. Unglücklicherweise hatte sie aber nun sehr wenig Fleisch im Hause, worüber der Riese so wütend wurde, dass er den Wigwam zerbrach und die Stücke in alle Winde schleuderte. Dann ergriff er die Frau, zerdrückte und verschlang sie. Um ihren Sohn kümmerte er sich nicht im Geringsten.

Als der Jäger zurückkam, sah er seine Hütte zerstört und seinen Sohn weinend neben den Überresten seiner Mutter sitzen. Er schwärzte sein Gesicht und schwor, den Tod seiner Frau zu rächen. Dann baute er eine andere Hütte und legte die Knochen seiner unglücklichen Frau in einen hohlen Baum. Seinem Knaben machte er Pfeil und Bogen und versuchte ihn über den Verlust seiner Mutter zu trösten.

Als einst der Vater wieder auf der Jagd war, übte sich der Knabe im Schießen, doch konnte er seine Pfeile nie wieder finden. Sein Vater machte ihm dann wieder andere. Er schoss sie ab und sah genau zu der Stelle, wo sie hinfielen. Kam er jedoch an den betreffenden Platz, so waren sie verschwunden. Als er nun eines Tages wieder seinen letzten Pfeil abgeschossen hatte, sah er, wie ein schöner Knabe, der etwas jünger als er war, denselben aufhob und damit zu einem hohlen Baum lief.

»Nähä«, sagte er zu ihm, »komm heraus und spiele mit mir!«

Jener Knabe folgte und sie spielten miteinander. Plötzlich sprach er: »Wir müssen aufhören, denn dein Vater kommt. Versprich mir, ihm kein Wort davon zu sagen!«

Jener tat es und der fremde Knabe verschwand im Baum.

Am nächsten Tage bat er seinen Vater, ihm noch einen Bogen zu machen, da einer leicht brechen könne. Der Vater tat es, und als er wieder auf die Jagd gegangen war, lud der Knabe seinen Freund ein, zur Hütte zu kommen. Dort schenkte er ihm einen Bogen und dann spielten sie in der Hütte so munter, dass die Asche hoch aufwirbelte. Sobald der Vater nach Hause kam, zog sich der andere Knabe in die Höhle seines Baumes zurück.

»Mein Sohn«, sagte der Jager, »du musst aber tüchtig hier herumgesprungen sein. Die Asche ist überall herumgeflogen!«

»Ja«, erwiderte jener, »ich war die ganze Zeit allein und bin auf und ab gesprungen.«

Am nächsten Tag sagte er zu seinem Vater: »Vater, jage heute einmal den ganzen Tag und sieh, wie viel du schießen kannst!« Als er fort war, ging der Knabe wieder zu seinem Freunde. Sie warfen alles in der Hütte durcheinander, lachten und schrien, dass man es durch den halben Wald hörte. So merkte denn auch der Jäger, dass sein Sohn während seiner Abwesenheit nicht allein war. Ehe er jedoch seinen Spielkameraden überraschen konnte, war dieser bereits in seinem Baum.

Als der Jäger in die Hütte trat, sah er den Knaben neben dem Feuer sitzen und sprach: »Du musst aber tüchtig hier umherspringen, da du alles durcheinander wirfst und die Asche so zerstreust!«

»Vater«, erwiderte er, »ich laufe beständig um das Feuer und schleife meinen Rock hinter mir!«

Der Knabe musste es ihm vormachen, was er auch tat. Am nächsten Morgen sprach er: »Vater, bleibe den ganzen Tag weg und siehe zu, ob du nicht zwei Hirsche schießen kannst!«

Dies kam dem Vater merkwürdig vor, aber er sagte nichts darauf und ging auf die Jagd. Auf der Rückkehr hörte er wieder das muntere Spiel der Knaben, doch als er in die Hütte trat, fand er nur seinen Sohn.

»Mein Sohn«, sagte er, »es ist doch kurios, dass du alles stets durcheinander wirfst, doch sage mir nur die Wahrheit. Ich habe zwei Stimmen hier gehört und hier in der Asche sehe ich einen Fußstapfen, der kleiner ist als der deine.«

Der Knabe dachte, es sei das Beste, seinem Vater alles zu sagen. »Vater«, sagte er, »ich habe einen Knaben in dem hohlen Baum gefunden, indem du die Knochen meiner Mutter vergraben hast!«

»Lade deinen Freund ein«, erwiderte der Vater, »einen hohlen Baum hier in der Nähe anzuzünden und dann die Eichhörnchen darauf zu töten. Ich werde mich alsdann versteckt hatten und den Knaben fangen.«

Am nächsten Tag ging er also wieder auf die Jagd und sein Sohn überredete seinen Freund zur Eichhörnchenjagd. Als sie den betreffenden Baum angesteckt hatten und die herunterspringenden Eichhörnchen erschossen, sprang der alte Jäger auf den Knaben zu und nahm ihn auf seinen Arm.

»Lass mich los«, sagte jener, »du zerreißt mir meine Kleider!«

Dieselben schienen nämlich von einer sehr feinen und durchsichtigen Haut gemacht zu sein. Der Jäger beruhigte ihn jedoch und beredete ihn, fortan immer bei seinem Sohne zu bleiben. Er wusste, dass ihm der Große Geist diesen Sohn aus den Gebeinen seiner Frau erweckt hatte und war sicher, dass er einst ein großer Mann und ihm im Kampf gegen den Wendigo große Hilfe leisten würde.

Er unterhielt sich mit den beiden Knaben, so oft es seine Zeit erlaubte, aber das Merkwürdigste war, keiner derselben wuchs um einen Zoll.

Eines Tages befahl er ihnen, nicht in die Nähe eines gewissen Sees zu gehen, weil dort gefährliche Vögel wohnten. Die Knaben kamen aber doch dahin und stiegen auf einen hohen Berg, der am Seeufer stand. Es donnerte und blitzte, aber die Knaben fürchteten sich nicht und stiegen immer höher, bis sie zuletzt auf der höchsten Spitze angelangt waren. Dort fanden sie das Nest eines Riesenvogels. In demselben lagen zwei Junge, die noch mit den Flaum­federn bedeckt waren. Einer der Knaben berührte sie mit einem Stock. Als sie ihre Augen öffneten, zerbrach der Stock, so kräftig war ihr Blick.

Darauf nahm jeder einen Vogel und trug ihn nach Hause.

»Diese Vögel«, sagten sie zu ihrem Vater, »haben wir für dich mitgebracht und bitten dich, sie zu zähmen!«

Nun überzeugte er sich, dass beide mit übernatürlichen Kräften begabt seien. Doch befahl er ihnen, ja nicht zu einem anderen be­stimmten See zu gehen, weil derselbe von Mischegenabigos (Riesenschlangen) bewohnt sei.

Die Knaben gingen aber doch hin, und es dauerte nicht lange, so befahl ihnen eine Stimme aus dem Wasser, wegzugehen.

»Wer bist du?«, fragte der eine.

»Ich bin Mischegenabig, und wer seid ihr, die ihr es wagt, mir zu trotzen?«

Der Längste bat nun seinen Bruder, einen Medizingesang anzustimmen, währenddem er ins Wasser waten wolle. Dies taten sie dann und bald schwammen die Stücke der toten Schlangen in Masse auf dem Wasser herum. Endlich kam der Knabe wieder aus dem See und hielt einen Mischegenabig an den Hörnern. »Bruder«, sagte er, »dies ist der Kerl, der uns beleidigt hat. Wir wollen ihn unserem Vater bringen.«

Als der Vater das Ungeheuer sah, freute er sich, denn er war sicher, dass seine Söhne alle Gefahren des Lebens ruhmreich bestehen würden.

Eines Tages kam es dem Jäger vor, als sei die Stunde gekommen, sich zu seinen Vätern zu versammeln. Er gab daher seinen Söhnen die nötigen Ratschläge für die Zukunft.

»Vater«, sprach der Jüngste zu ihm, »du wirst nun die Erde verlassen und deine beiden Vögel werden mit dir gehen. Zuerst aber lass sie uns mit dem Fleisch des Mischegenabig füttern! Vergiss auch den Wendigo nicht, der so großes Unheil über dich gebracht hat!«

Danach starb der Vater und seine Seele wurde unter Donner und Blitz – denn die beiden Vögel waren die Söhne des Donnergottes – hinauf in den Himmel getragen.

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