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Die Plauderstube – Der Verstorbene als Bräutigam – Kapitel 3

Der Verstorbene als Bräutigam
Nach dem Französischen des Adrien Paul
7. August 1859

3.

Herr von Vieuville, seine Frau und seine Tochter waren auf dem Land zu Maisons-Lafitte.

Eduard löste sich ein Billett auf der Eisenbahn und fuhr hin.

So weit entfernte sich nichts von dem gewöhnlichen Gang der Dinge.

Wie er aber an dem Tor des Landhauses ankam, veränderte sich diese Sachlage.

Die Bedienten des Hauses waren davon unterrichtet, dass jede Stunde ein zukünftiger Schwiegersohn ankommen könne. Als sie also einen jungen Unbekannten sahen, der ganz danach aussah, beeilten sie sich, ihn mit den seiner Stellung gebührenden Ehren zu empfangen.

Einige liefen voran ins Haus und riefen: »Er ist da! Er ist da!«

Man riss ihm vor Diensteifrigkeit und Freude beinahe die Kleider vom Leib, so groß war die Begeisterung.

Der Schwiegervater kam so rasch, wie es ihm seine verhärtete Gicht erlaubte, drückte den jungen Mann in seine Arme und zog ihn, ohne ihm nur Zeit zu lassen, zu Wort zu kommen und sich zu erklären, in das Familienzimmer und stellte ihn seiner Frau als den lieben Schwiegersohn und seiner Tochter als ihren zukünftigen Gemahl vor.

Die Freude, sich am Ziel lang gehegter Erwartungen zu sehen, hatte alle so erfüllt, dass man sich dem Eindruck derselben ohne jeglichen Rückhalt hingab. Woher sollte auch nur der leiseste Zweifel an der Identität des jungen Mannes, den man persönlich nicht kannte, aufgestiegen sein?

Es wäre nun nichts natürlicher und selbstverständlicher gewesen, als dass dieser verkannte junge Mann, dieser Pseudo-Schwiegersohn, nach dem ersten Begrüßungsturm sich zu erkennen gegeben und die freudige Illusion der Familie mit einem Wort zerstört hätte.

Sonderbar genug! Die paar Worte Ich bin nicht der, den Ihr erwartet, ich bin ein anderer!, sie schwebten ihm beständig auf der Zunge und konnten doch nicht den Weg auf die Lippen finden!

Es war ihm, als ob seine Worte und seine Gedanken miteinander in Streit geraten seien und er selbst hilflos in der Mitte stehe. Er wusste, was er hier zu sagen hatte, und wollte es auch sagen und konnte es doch nicht.

Was war der Grund dieses törichten Zögerns, dieser Furcht vor dem einen Wort?

War es vielleicht übertriebene Schonung von seiner Seite, dass er sich nicht entschließen konnte, den schönen Traum der glücklichen Familie so rasch zu zerstören? Wohl schwerlich! Er mochte es kaum selber begreifen, wie er sich so ungeschickt benehmen konnte.

Nur das eine wusste er, dass er in die Augen des Mädchens gesehen hatte und dass es ihm plötzlich war, als müsse er wirklich der Bräutigam des schönen Kindes werden, das so verwirrt und errötend vor ihm stand.

Dieser Gedanke war über ihn gekommen, er wusste selbst nicht wie, und hatte sich mit der Kraft einer fixen Idee in sein Gehirn festgesetzt. Unter seinem Einfluss ließ er es ruhig geschehen, dass man ihn als Julius, den erwarteten Bräutigam, begrüße und schob die schuldige Erklärung in unbegreiflicher Verblendung immer länger und länger hinaus, bis er sie kaum mehr geben konnte, ohne zu gleicher Zeit beschämt den Zauberkreis, in den er gebannt war, zu verlassen.

Das Töchterlein des Edelmannes war lieblich, frisch und jugendlich und der rosige Hauch der Verlegenheit bei der ersten Begegnung mit einem fremden jungen Mann machte sie nun vollends reizend.

Der Edelmann selbst war ein trefflicher, alter Herr, äußerst jovial, mit einem leichten kupferroten Anflug im Gesicht und sonst sehr voll und abgerundet: er sah ganz aus, wie eine jener wohlwollenden, ehrlichen, aber schwachen Naturen, die man so ganz nach seinem Gefallen sich heranbilden und ziehen kann, wie man will. Solche, für andere bequeme Naturen, gibt es in der Welt, wenn auch nicht in großer Anzahl.

Was die Frau Mama anbetrifft, so machte sie gar kein Hehl aus ihren grauen Haaren und ihr ganzes Wesen war ebenfalls zu gefügig, als dass zu befürchten gewesen wäre, dass sie jemals eine jener qualvollen Schwiegermütter geben würde, welche sich mit der Frau Tochter gegen die Ruhe des Schwiegersohnes verschwören.

Mit einem Wort: Es war ein Haus und eine Familie, in deren Mitte Fuß zu fassen nicht unangenehm sein musste, besonders wenn man im Begriff stand, von den konträrsten Winden Gott weiß wohin verschlagen zu werden.

Und so kam es denn auch, dass Eduard diesen verführerischen Gedanken immer verführerischer finden musste.

Er spielte seine Rolle vorzüglich und stellte dem zukünftigen Schwiegervater und der Schwiegermutter die Briefe zu, mit deren Überraschung er für sie beauftragt war.

Man kündigte eben an, dass das Mittagessen aufgetragen sei.

Eduard wurde neben seine ihm Zugedachte gesetzt, welche wenig sprach, kaum Antwort gab, sehr oft rot wurde, welches eine Gattung von Beredsamkeit ist, bei Liebesleutchen sehr hoch im Kurs stehend.

Clementine war ein junges Mädchen von achtzehn bis neunzehn Jahren, äußerst einfach in ihrem ganzen Wesen, mit einem herzensguten und lieben Gesichtchen, einem unschuldigen Blick, einer offenen Stirn, welche von zwei sorgfältig geflochtenen hellbraunen Haarzöpfen eingerahmt wurde. Ihre Kleidung war ebenso einfach und frisch wie ihre Person: ein rosa Organdinkleid mit tausend kleinen Pünktchen, wegen der Jahreszeit ein wenig ausgeschnitten, aber mit einer weißen Tüllspitze garniert, eine kleine Taffetschürze und leichte Spitzenärmel, aus denen ein hübscher weißer Arm und eine niedliche Hand hervorsahen.

Diese ganze Erscheinung hatte nun allerdings keine Spur von Ähnlichkeit mit der heiratsfähigen Tochter, die um jeden Preis an den Mann gebracht werden soll, wie sie Julius ausgemalt hatte, wenn sie in ihrem neuen Staatskleid eingepresst und darauf angewiesen ist, alle ihre Reize und angenommenen Vorzüge zu entfalten und sich deshalb schon während des Brautstandes vornimmt, sich einmal für all den Zwang und die Unbequemlichkeit, die ihr wegen des Bräutigams auferlegt wird, zu rächen.

Fügen wir auch hinzu, dass Eduard seinerseits ein recht netter Mensch war, dass er einen ausdrucksvollen Blick, eine angenehm klingende Stimme, ein ausgezeichnetes Wesen und ein hübsches Schnurrbärtchen auf der Oberlippe hatte, sodass infolge all dieser gewinnenden Eigenschaften der Tüllschleier auf Clementines weißem Hals vor Freude so hastige Bewegungen machte, wie das Meer unter einer leichten Brise.

Es schien beinahe, als ob ein Vorgefühl des göttlichen Etwas, das kein Psychologe so recht definieren kann, in ihr junges Herz einzöge.

Galant und aufmerksam mit Wahrung des richtigen Maßes dem jungen Mädchen gegenüber, zuvorkommend und liebenswürdig mit Vater und Mutter, gemessen in seiner äußeren Haltung, unterhaltend und heiter im Gespräch, hatte Eduard in wenig Stunden die ganze Familie für sich gewonnen.

Nachdem der Tisch aufgehoben und der Kaffee aufgetragen war, wurde die Unterhaltung etwas bestimmter. Man sprach von Mitgift, von gegenseitiger Übereinkunft, von Aussteuer und von diesen tausend niedlichen Dingen, welche es bewirken, dass das Ja den Herzen und den Lippen den jungen Mädchen entschlüpft, ohne dass sie im Geringsten dessen Bitterkeit empfinden. Später machen sie dann allerdings manchmal ein nachdenkliches Gesicht.

Den Abend machte man einen Gang durch den Park.

Da Herr von Vieuville die fliegende Gicht hat, gab ihm seine Frau natürlich den Arm und beide spazierten in jenem langsamen Schritt der alten Leute, welche den Eindruck machen, als fürchteten sie sich, an ihrem Ziel anzukommen.

Eduard und Clementine dagegen schritten mit jenem rüstigen und ungeduldigen Gang der Jugend vorwärts, welche nichts im Auge hat, als die Gegenwart rasch abzutun, um desto schneller zur Zukunft zu gelangen.

Die Alleen waren still und schattig, die Vöglein flüsterten sich aus ihrem zarten Blätterwerk Liebesworte zu, die Blumen sendeten aromatische Düfte aus ihren offenen Kelchen … Es war die Stunde, wo die Zärtlichkeit wach wird, wo die Sinne schmachten, die Hände sich suchen, die Stimmen zittern, die Brust sich hebt, wo das Schweigen beredeter als das Wort, das Vorspiel der Geständnisse wird, die auf den Lippen schweben.

Kokette Jungfrauen pflegen diesen unbeschreiblichen Zustand der Halbverzückung ins Unendliche zu verlängern. Sie wissen, dass dies das sicherste Mittel ist, die noch schwankenden oder unbeständigen Gefühle zu bestimmen und den berauschenden Durst des ungestillten Verlangens zu erzeugen.

Aber Clementine verstand sich nicht auf diese verkehrten Kunstgriffe. Sie war die Freimütigkeit selber, die Einfachheit in Person.

Dann auch sollten sie sich doch einmal heiraten, und es war nun an der Zeit oder überhaupt nicht, sich einander kennen zu lernen.

»Herr Julius«, fragte sie zaghaft, »Sie haben doch mein Bild noch?«

Alle Wetter!, dachte der junge Mann bei sich, davon hat mir Julius nichts gesagt.

Dann setzte er laut hinzu: »Ihr Bild, Fräulein? … Ei, gewiss! … Ich habe … ich trage es auf meinem Herzen … es hat mich niemals verlassen.«

»Und finden Sie, dass ich ihm gleiche?«

»Ja, das heißt nein; Sie sind ganz anders, viel hübscher …«

»Sie wissen, dass ich keine Komplimente von Ihnen gemacht haben will, sondern nur frei heraus, das will ich von Ihnen hören, was Sie denken.«

»Sie wissen also nicht, wie schön Sie sind, und ich sollte der Erste sein, der es Ihnen sagt?«

»Ich weiß, dass ich kein abschreckendes Bild der Hässlichkeit bin, das ist alles!«, erwiderte lachend das junge Mädchen.

»Ich liebte Sie schon, nur auf das Miniaturbildchen hin», entgegnete Eduard, »aber jetzt, jetzt …«

»Wissen Sie auch was? «, unterbrach ihn Clementine.

»Was denn, mein liebes Fräulein?«

»Dass ich eine entsetzliche Angst hatte vor Ihrer Ankunft bei uns.«

»Nicht möglich! Und warum das?«

»Es ist gewiss sehr unrecht, was ich Ihnen sagen will, aber seit ich Sie auf der Reise gewusst habe, habe ich in einem fort gewünscht … nicht, dass Ihnen ein Unglück aber etwas Unangenehmes passiert, dazu bin ich zu gut gegen jeden … aber dass irgendjemand oder irgendetwas Sie, noch zurückhalten möge.«

»Und darf man wissen, warum?«

»Ihr Porträt und nichts anderes war schuld daran!«

Was!, dachte Eduard, Sie hat auch ein Bild von Julius; jetzt sitze ich schön in der Klemme.

»Sie gleichen ihm aber auch gar nicht, aber auch gar nicht diesem Bild, obgleich der Papa einige Ähnlichkeit entdeckt hat, welche aber die Mama auch nicht finden kann.«

Ich glaube es wohl!, dachte der junge Mann.

»Das Haar ist zwar dasselbe …«

»So?«

»Aber die Stirn und der Teint …«

»Man verändert sich mit der Zeit, man verändert sich gar sehr«, stotterte Eduard, »mit zunehmendem Alter!«

»Mit Ihrem Alter! Tun Sie nicht, als wenn Sie fünfzig Jahre alt wären.«

»Dann habe ich auch eine Krankheit durchgemacht, welche …«

»Desto besser!«, unterbrach ihn Clementine.

»Welche mich gänzlich verändert hat, sodass ich gar nicht mehr zum Wiedererkennen bin, wie mir meine besten Freunde sagen. Außerdem trage ich jetzt auch den Bart anders, ferner ist das Bild schon lange gemacht und noch dazu nicht einmal getroffen!«

»Desto besser! Desto besser!«, wiederholte das junge Mädchen. »Offen gestanden, darf ich sagen, wie es mir ums Herz war?«

»Gewiss, reden Sie nur!«

»Es ging mir gegen die Natur, meinerseits diesen Heiratsplan unmöglich zu machen, aus den, ich weiß es, unsere beiden Familien von jeher so viel Wert gelegt haben; aber ich hatte mir vorgenommen, mich an Ihr Zartgefühl, an Ihren Edelmut zu wenden, damit …«

»Damit?«, fragte Eduard.

»Damit Sie selbst den Plan ausgegeben hätten.«

»Sie wollen also …?«

»Vor allen Dingen, dass Sie von mir aus Ihren Marseiller Maler wissen lassen, dass er ein großer Pfuscher ist.«

»Und dann?«, fragte Eduard weiter.

»Dann …«

Clementine vollendete nicht; aber sie blickte sich anmutig um, ein Tausendschön zu pflücken, das sie Blatt für Blatt entblätterte …

Bei jeder Liebe gibt es einen Augenblick, wo das Mädchen ein Blümlein entblättert und um Aufschluss über das Herz des Geliebten fragt.

Armer Julius!, dachte Eduard. Vielleicht hat er wohl daran getan, zu sterben.

»Apropos«, sprach das muntere Kind, »Sie wissen nicht, ich habe einen großen Fehler!«

»Wirklich?«

»Ich spiele kein Klavier.«

»Weiter nichts!«

»Ich habe zwar einmal angefangen; aber nachdem ich mich nur zu deutlich überzeugt hatte, dass ich es doch zu nichts bringen würde, habe ich es aufgegeben, mich, meinen Lehrer, mein Instrument und meine ganze Umgebung damit zu quälen.«

»Ich wusste wohl, dass Sie gar keinen Fehler haben«, fuhr Eduard fort. »Aber Sie fingen vorhin einen Satz an, den Sie nicht ausgesprochen haben …«

»Glauben Sie?«

»Ich weiß es. Dann sagten Sie.«

»Ich erinnere mich gar nicht mehr.«

»Es war gewiss etwas recht Hartes für mich, und aus Herzensgüte zögerten Sie?«

»Ich wünschte, dass Sie sobald nicht ankommen möchten, nicht wahr?«

»Ja, und dann?«

»Und dann …«, vollendete Clementine mit einer von Herzklopfen halb unterdrückten Stimme, »habe ich Gott gedankt, dass er mich nicht erhört hat.«

Sie lief zu ihrer Mutter, an deren Hals sie ihre Röte verbarg, unter dem Vorwand, ihr einen Kuss geben zu müssen.

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