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Die Sternkammer – Band 3 – Kapitel 7

William Harrison Ainsworth
Die Sternkammer – Band 3
Ein historischer Roman
Christian Ernst Kollmann Verlag, Leipzig, 1854

Siebentes Kapitel

Die Wolke am Horizont

Wir dürfen indessen nicht denken, dass Sir Jocelyn seine ganze Zeit am Hof zubrachte. Kein Tag eilte dahin, ohne dass er Aveline einen Besuch machte.

Sie bewohnte eine kleine Hütte, wo sie in völliger Abgeschiedenheit mit ihrer Dienerin, der alten Frau Sherbourne – derselben, die sie bei dem gezwungenen Besuch in Sir Giles Mompessons Haus begleitet hatte – und mit ihres Vaters getreuem alten Diener Anthony Rocke lebte. Zu dieser verborgenen Wohnung, die in dem damals ländlichen Distrikt von Holborne lag, begab sich Sir Jocelyn, wie gesagt, täglich. Die Augenblicke, die er dort zubrachte, waren die teuersten seines Lebens. Die Gefühle der Achtung, die Aveline von Anfang an für ihn gehegt hatte, waren um diese Zeit zur Liebe herangereift; doch ihres feierlichen Versprechens, welches sie ihrem Vater abgelegt hatte, eingedenk, unterdrückte sie ihre zunehmende Neigung, so viel in ihrer Macht stand, und wollte anfangs keine zärtlichen Worte von ihm anhören. Als aber Wochen und Monate vergingen und niemand erschien, der ihre Hand in Anspruch nahm, gab sie sich schon der Hoffnung hin, dass das Prüfungsjahr ohne Belästigung vorübergehen würde, und unmerklich und fast ehe sie es gewahr wurde, war Sir Jocelyn Beherrscher ihres Herzens geworden. Bei diesen Unterredungen erzählte er ihr alles, was ihm am Hofe begegnete, machte sie mit seinen Hoffnungen auf Erhebung bekannt und bewog sie, auf seine Erwartungen einer glänzenden Zukunft, die sie mit ihm teilen sollte, zu horchen.

Der heftige Schmerz, den Aveline der Tod ihres Vaters verursacht hatte, verging nach und nach. Wenn auch nicht frei von Niedergeschlagenheit, war sie doch imstande, die Dinge heiterer anzusehen. Nie hatte sie Sir Jocelyn so voll Lebhaftigkeit und Feuer gesehen, wie an dem Tag nach dem Bankett, als er kam, um ihr die Nachricht von dem Turnier mitzuteilen und dass er auserwählt sei, um seine Geschicklichkeit gegen Buckingham zu versuchen. Die Nachrichtbrachte aber nicht die Wirkung bei ihr hervor, die er erwartet hatte. Sie konnte nicht nur seine Freude nicht teilen, sondern wurde von Erwartungen bevorstehenden Übels ergriffen, wovon sie sich keine Rechenschaft ablegen konnte. Auch konnte alles, was Sir Jocelyn sagen mochte, ihre Besorgnisse nicht entfernen. Daher war ihre Zusammenkunft trauriger als gewöhnlich.

Am folgenden Tage wurden diese Ahnungen des bevorstehenden Unglücks auf höchst unerwartete Weise bestätigt. Ein geheimnisvoller Mann, der eine Maske trug und in einen langen schwarzen Mantel gehüllt war, trat in ihre Wohnung, ohne vorher an die Tür zu klopfen. Seine Gegenwart verursachte ihr großen Schrecken, der nicht vermindert wurde, als er ihr in strengem und gebieterischem Ton sagte, sie müsse ihn in Sir Giles Mompessons Wohnung begleiten. Indem er sich weigerte, irgendeine Erklärung in der Sache zu geben, sagte er, sie würde wohl tun, ihm Folge zu leisten, denn der Widerstand würde vergebens sein, da Sir Giles bereit sei, seine Befehle zu erzwingen. Auch wolle er für ihre Sicherheit verantwortlich sein. Genötigt, sich mit diesen Versicherungen zufrieden zu geben, fügte sich Aveline der scheinbaren Notwendigkeit der Sache und machte sich mit der Frau Sherbourne und ihm auf den Weg. Mit dem, was bei ihrer Unterredung mit dem Erpresser vorging, ist der Leser bereits bekannt. Sie hatte etwas Schreckliches erwartet, aber die Wirklichkeit übertraf fast ihre Erwartungen. So erschüttert war sie von der schmerzlichen Nachricht, dass sie nur mit Schwierigkeit ihre Heimat erreichte und den Rest des Tages mit ängstlichem Nachdenken hinbrachte. Am Abend kam, wie gewöhnlich, ihr Geliebter. Sie ging ihm bis an die Tür entgegen, wo er sein Pferd anband. Dann traten sie zusammen in die kleine Wohnung. Die Schatten der Nacht senkten sich mit Macht nieder. Infolge der Dunkelheit bemerkte er die Spuren des Kummers nicht in ihrem Gesicht und fuhr mit dem Gegenstand fort, der ihm in dem Augenblick der wichtigste war.

»Ich weiß, Ihr habt immer öffentliche Lustbarkeiten und Triumphe vermieden«, sagte er, »aber ich wünschte, ich könnte Euch bewegen, bei diesem Turnier eine Ausnahme zu machen und dabei zugegen zu sein. Der Gedanke, dass Ihr zusäht, würde meinen Arm stählen und mich des Erfolges gewiss machen.«

»Auch wenn ich wollte, könnte ich Eure Bitte nicht erfüllen«, versetzte sie in aufgeregtem Ton. »Bereitet Euch vor, Jocelyn. Ich habe üble Nachrichten für Euch.«

Er stutzte und die entzückende Aussicht, der er sich hingegeben, verschwand augenblicklich.

»Die schlimmste Nachricht, die Ihr mir geben könntet, würde sein, dass der Anspruch gemacht worden sei«, bemerkte er. »Ich hoffe, es ist nicht so?«

»Es ist besser, gleich das Schlimmste zu erfahren. Ich habe die unzweifelhafte Nachricht erhalten, dass der Anspruch gemacht werden wird«, sagte sie.

Ein Schrei der Seelenqual entfuhr Sir Jocelyn, als hätte er einen schweren Schlag erhalten – und kaum konnte er die Frage hervorbringen: »Von wem?«

»Das weiß ich nicht«, versetzte sie. »Aber die schlimme Nachricht ist mir von Sir Giles Mompesson mitgeteilt worden.«

»Von Sir Giles Mompesson!«, rief Sir Jocelyn, der kaum seinen Ohren trauen konnte. »Euer Vater würde Euch niemals ihm versprochen haben. Es ist unmöglich, dass er einen Vertrag mit einem solchen Schurken abgeschlossen hat.«

»Das sagte ich nicht; und wenn er es getan hätte, würde ich lieber tausend Mal sterben und mich der Strafe für den Ungehorsam aussetzen, als den Vertrag erfüllen. Sir Giles spricht nur für einen anderen, der sich nicht eher zeigen will, bis er die Erfüllung des unglücklichen Versprechens fordern wird.«

»Aber es sei, wer es wolle, der Anspruch kann niemals geltend gemacht werden«, rief Sir Jocelyn mit qualvoller Stimme. »Ihr werdet Euch nicht von einem solchen Vertrag binden lassen. Ihr werdet Euch nicht so opfern. Es ist wider alle Vernunft. Eures Vaters Versprechen kann Euch nicht binden. Er hatte kein Recht, sein Kind zu Grunde zu richten. Wollt Ihr auf meinen Rat hören, Aveline?«, fuhr er heftig fort. »Ihr habt diese Warnung erhalten; und wenn sie auch wahrscheinlich nicht in freundschaftlicher Absicht geschehen ist, so könnt Ihr sie doch benutzen und der Gefahr, der Ihr ausgesetzt seid, durch die Flucht ausweichen.«

»Unmöglich!«, antwortete sie. »Ich könnte eine solche Handlungsweise weder mit meinem Gewissen noch mit meiner Ehrerbietung für das Andenken an meinen Vater vereinen.«

»Es ist noch eine andere Handlungsweise für Euch offen, wenn Ihr sie wählen wollt«, fuhr er fort, »nämlich einen Schritt zu tun, der die Erfüllung dieses Versprechens unmöglich machen wird.«

»Ich verstehe Euch«, versetzte sie, »aber davon kann ebenso wenig die Rede sein. Oft habe ich über diese Sache mit großer Unruhe nachgedacht, aber ich kann mich nicht von der mir auferlegten Verpflichtung frei machen.«

»O, Aveline!« rief Sir Jocelyn. »Wenn Ihr Euch durch Gewissensskrupel zu einer Ehe treiben lasst, die Euren Gefühlen widerstrebt, so werdet Ihr Euch und mich zum Elend verurteilen.«

»Ich weiß es – ich fühle es und doch sehe ich keinen Ausweg!«, rief sie. »Wollte ich nach Eurem Rat handeln und dieser drohenden Gefahr entfliehen oder sie gänzlich durch eine Verbindung mit Euch beseitigen – wollte ich meinem Vater ungehorsam sein, so würde ich nie einen Augenblick Ruhe und Frieden haben.«

Es trat eine kurze Pause ein, die nur von ihrem Schluchzen unterbrochen wurde. Endlich rief Sir Jocelyn rasch: »Vielleicht beunruhigen wir uns unnötigerweise, und dies ist nur eine List von Sir Giles Mompesson. Vielleicht hat er von dem Versprechen gehört, welches Ihr Eurem Vater abgelegt habt, und will Euch nur in Schrecken setzen. Aber wer es auch sein mag, er muss seinen Anspruch beweisen.«

Als diese Worte ausgesprochen wurden, hörten sie ein leises Geräusch im Zimmer. Als sie aufblickten, sahen sie die dunkle Gestalt Clemens Lanyeres in seiner Maske und seinem Mantel neben sich stehen.

»Ihr hier?«, rief Sir Jocelyn erstaunt.

»Ja«, versetzte der Ankläger; »ich komme, um Euch zu sagen, dass dies keine eitle Furcht ist – dass der Anspruch wird geltend gemacht werden.«

»Ach!«, rief Aveline in qualvollem Ton.

»Ich weiß, Ihr werdet nicht ausweichen, junges Fräulein«, versetzte der Ankläger, »und wie Ihr mit Wahrheit sagt, gibt es keinen Ausweg für Euch.«

»Lasst mich nur den Namen dessen wissen, der sie zur Ehe verlangt«, rief Sir Jocelyn, »und ich mache mich verbindlich, dass er nie seine Absicht ausführen soll.«

»O nein, dies darf nicht sein – Ihr dürft keine Gewalttätigkeit anwenden«, sagte Aveline. »Ich will niemals einwilligen, meine Befreiung solchen Mitteln zu verdanken.«

»Ihr sollt zu dem Turnier am Donnerstag alle geforderte Auskunft erhalten«, sagte Lanyvere, »und lasst den Gedanken, Euren Arm zum Kampf stärken, denn wenn es Euch fehlschlägt, wird Aveline Calveley in der Stunde der Not keinen Beschützer haben.«

Hierauf entfernte er sich ebenso plötzlich und geheimnisvoll, wie er gekommen war.

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