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Aus dem Wigwam – Die Geisterfrau

Karl Knortz
Aus dem Wigwam
Uralte und neue Märchen und Sagen der nordamerikanischen Indianer
Otto Spamer Verlag. Leipzig. 1880

Noch vierzig Sagen
Mitgeteilt vom Navajohäuptling El Zol

Die Geisterfrau
((Tradition der Winnebago)

ie Tage von Mischikinakwa oder der Kleinen Schildkröte waren gezählt. Häufig hörte man in der Nacht leise Stimmen von den Bergen rufen: »Komm, Mischikinakwa! Sie wartet auf dich!«

Die Nantina oder die Geister, welche die Erde, die Luft, das Feuer und das Wasser bewohnen, hatten bereits weit und breit erzählt, dass der Häuptling der Winnebago bald die Leiden der Erde mit den Freuden der glücklichen Jagdhütte vertauschen werde, doch er war noch nicht alt. Sein Auge war noch hell und sein Haar noch nicht vom Schnee des Alters befallen. Kein Mensch wusste, was ihm eigentlich fehlte. Seit einem unglücklichen Tag hatte er den Kopf hängen lassen und nur sehr wenig Speise und Trank zu sich genommen. Als sie an seine Tür kamen und ihm mitteilten, dass die Potawatomi den Kriegspfad betreten hatten, ließ er sie ohne Antwort abziehen und blieb ruhig auf seinem Grasbett liegen.

»Ich fuhr einst«, so erzählte er, »im Monat der blühenden Lilien auf dem See, der unserer Nation den Namen gegeben hat. Keine Welle rührte sich, und als ich weiter fuhr, sah ich eine wunderschöne Frau vor mir auf dem Wasser stehen. Ihr Kleid glänzte wie der Sand am Ufer der Geisterinsel und ihre gelben Locken hingen bis zu ihren Füßen nieder. Ich ruderte auf sie zu, doch je näher ich kam, desto mehr veränderte sie sich. Ihr Gesicht wurde blass und ihre Augen verloren den Glanz. Und als ich an den Platz kam, wo sie stand, sah ich nur einen großen Stein mit Menschenkopf und Fischschwanz vor mir. Lange Zeit wusste ich nicht, was ich tun sollte, doch endlich entschloss ich mich, dem Geist ein Opfer von Tabak zu bringen und ihn anzureden.

»Schöner Geist!«, sprach ich, »warum ist deine Gestalt so plötzlich ver­wandelt worden? Ist es wohl, weil deine Schönheit die Flamme der Liebe in mir anfachte?«

»Mischikinakwa«, lautete die Antwort, die mir der Wind zutrug, »es ist nicht Hass, der mich dir nur in der Ferne als lebende Frau erscheinen ließ! Auch ich habe dich mit dem Auge der Liebe angeblickt, aber es ist den Geistern nicht erlaubt, sich mit Geschöpfen aus Fleisch und Blut zu vermischen. Ich habe dir meine wahre Gestalt gezeigt – wähle also zwischen einem längeren Leben und einer baldigen Vereinigung mit der Geliebten!«

»Seit jenem Augenblick wünschte ich zu sterben. Tagtäglich bat ich den Großen Geist, das Leben, das er mir geschenkt hatte, wieder zurückzunehmen, und ich glaube, er hat mich erhört. Sie ruft mich! O, ich komme und bringe dir Beeren und Blumen!«

Und so starb Mischikinakwa, der Häuptling der Winnebago, aus Liebe zu einer Geisterfrau.

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