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Neue Gespenster – 9. Erzählung

Samuel Christoph Wagener
Neue Gespenster
Kurze Erzählungen aus dem Reich der Wahrheit
Erster Teil
Neunte Erzählung

Das Clubgespenst zu Wardbridge

In der kleinen englischen Stadt Wardbridge hatte sich vor mehreren Jahren nach dem Beispiel aller größeren Städte ein Club gebildet. Er bestand aus vierundzwanzig Personen, die wöchentlich einmal zusammenkamen, um bei einer Flasche Punsch und einer Pfeife Tabak über politische und andere Gegenstände des Tages zu schwatzen. Jedes Mitglied hatte seinen eigenen ihm angewiesenen Stuhl; der Präsident aber einen höher stehenden. Ein Glied aus dieser Gesellschaft lag schon eine Zeit lang tödlich krank; daher stand der Stuhl dieses Abwesenden leer.

Als eines Abends der Club sich wie gewöhnlich versammelte und man sich nach dem Befinden des kranken Mitgliedes erkundigt hatte, ging einer von den vertrautesten Freunden desselben, zumal da der Kranke in der Nähe wohnte, zu ihm, und von ihm selbst oder doch in seiner Behausung die beste Auskunft zu erhalten. Er brachte indessen die traurige Nachricht zurück, dass der Kranke aller Wahrscheinlichkeit nach noch in dieser Nacht sterben werde. Der fröhliche Geist des Clubs verschwand. An seine Stelle trat melancholischer Trübsinn, und alle Bemühungen, die Unterredung von dem schwermütigen Gegenstand abzulenken, waren vergebens.

Nun schlug die Stunde der Mitternacht und plötzlich öffnete sich des Versammlungssaales Tür. Eine weiße Gestalt, die Gestalt des Sterbenden oder vielmehr toten Mannes, trat in das Zimmer und nahm den ihm gehörigen Platz ein. Schweigend saß sie da, und schweigend starrte die heftig erschrockene Gesellschaft sie an. Die Erscheinung verweilte gerade lange genug, um alle Anwesenden von der Wirklichkeit des Spuks zu überzeugen. Dann erhob sie sich langsam, wankte zur Tür, öffnete sie, ging hinaus und machte sie wieder zu.

Lange herrschte stummes Erstaunen. Endlich brach einer aus der Gesellschaft das Schweigen.

»Ich würde«, sagte er, »meinen eigenen Augen nicht getraut haben, wenn nur ich allein die Erscheinung gesehen hätte. Nun aber ist es unmöglich, dass dreiundzwanzig sehende, nüchterne Menschen betrogen werden können. Es gibt«, setzte er mit dem Nachdruck der Überzeugung hinzu, »es gibt also dennoch Gespenster!«

Allmählich bekam die Gesellschaft ihre Sprache wieder. Sie unterhielt sich, wie man leicht denken kann, von nichts anderen als von dem schauerlichen Gegenstand, der sich soeben ihren Blicken gezeigt hatte. Endlich brach sie auf und ging.

Am anderen Morgen fragte man gleich nach dem Kranken und erfuhr, dass er gerade in der Stunde seine Erscheinung im Club gestorben sei. Wenn vielleicht vorher irgendein Zweifel hätte stattfinden können, ob man auch recht gesehen habe, so war man doch nun über die Wirklichkeit des gesehenen Gespenstes völlig gewiss.

Natürlich verbreitete sich die Geschichte durch das Land und machte selbst die hellsten Köpfe irre. Was konnten auch alle Vernunftgründe gegen eine Begebenheit ausrichten, die von dreiundzwanzig glaubhaften Männern bezeugt wurde.

So verflossen Jahre und die Gespenstergeschichte beschäftigte schon nicht mehr die Aufmerksamkeit. Nur dann geschah ihrer noch Erwähnung, als ob ein hartnäckiger Leugner aller geistigen Erscheinungen zum Schweigen gebracht werden sollte.

Einst wurde ein Glied des Clubs, der Apotheker des Orts, als Arzt zu einer alten Frau gerufen, die bisher als Wärterin und Pflegerin der Kranken ihr Brot verdient hatte.

»Herr«, sagte sie, »ich würde die Welt mit ruhigem Gewissen verlassen können, wenn mir nicht eine Sache auf dem Herzen läge. Erinnern Sie sich noch«, fuhr sie fort, »des Herrn Y., dessen Erscheinung im Club ein so großes Aufsehen machte? Ich war damals seine Wärterin. In der Nacht, in welcher er starb, verließ ich, weil ich etwas Nötiges zu besorgen hatte, das Krankenzimmer. Ich war nur kurze Zeit abwesend; allein bei meiner Rückkehr fand ich das Bett ohne meinen Kranken vor. Da er vorher heftig fantasierte, fürchtete ich, dass er sich aus dem Fenster gestürzt habe. Vor Schrecken stand ich unbeweglich da. Auf einmal trat er zu meinem Erstaunen zitternd und zähneklappernd in die Kammer, legte sich nieder und starb. Ich hielt mich für die Ursache seines Todes. Aus Furcht, dass die Bekanntmachung meiner Nachlässigkeit mir in meiner Nahrung schaden könnte, bewahrte ich den Vorfall als ein mir wichtiges Geheimnis. Ich wagte es daher nicht, der Gespenstergeschichte zu widersprechen, wiewohl ich es konnte. Ich allein wusste nur zu gut die Ursache, dass er selbst leibhaftig im Club erschienen war, wahrscheinlich, weil er gerade damals an seine eben versammelten Club Freunde sich lebhaft erinnern mochte. Möge mir Gott, mögen mir die Freunde des unglücklichen Mannes die Vernachlässigung desselben vergeben; dann sterbe ich ruhig.«

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