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Papa Denke 2. Akt

Papa Denke
Ein Drama in drei Akten um Pökelfleisch und Perversionen

2. Akt

Es war kurz vor Heiligabend, genauer gesagt, Sonntag, der 21. Dezember 1924, als der arbeits- und wohnungslose Steinhauer Vincenz Olivier gegen Mittag frierend und bettelnd durch die Straßen von Münsterberg zog.

Normalerweise war die Zeit vor dem Fest für einen wie ihn, der auf Almosen angewiesen war, immer eine dankbare Zeit, die Menschen zeigten sich barmherziger als sonst und auch spendierfreudiger. Aber nicht in diesen Tagen, nicht in dieser Zeit. Die Wunden, die der Krieg in das Land gerissen hatte, waren noch nicht verheilt und die wirtschaftlichen Rezessionen und die Inflation hatten Hunger und Armut über das Volk gebracht. Den meisten Menschen ging es selbst so schlecht, dass kaum jemand auch nur das Geringste an Essen oder Nahrung entbehren konnte.

Vincenz Olivier war deshalb umso überraschter, als ihm eine wildfremde, sichtlich wohlhabend gekleidete Frau auf dem Gehsteig entgegenkam, stehenblieb, ihn musterte und hernach ein paar Pfennige zusteckte.

»Ist leider nur eine Kleinigkeit, aber die Zeiten sind auch für unsereins hart.«

Vincenz nickte dennoch dankbar. »Ist trotzdem mehr, als die meisten geben. Gott soll es Ihnen danken, möge er auch weiterhin seine schützende Hand über Sie halten.«

Die Frau antwortete ihm mit einem freundlichen Lächeln. »Sie sind wohl nicht von hier?«

Der Steinhauer nickte.

»Hier in dieser Straße werden Sie nicht viel Glück haben, aber versuchen Sie es doch mal da vorne in der Teichstraße bei Papa Denke. Er wohnt im Haus Nummer 10. Er ist zwar auch nur ein armer Mann, der grad so über die Runden kommt, aber bei ihm kriegt trotzdem ein jeder, der an seine Tür klopft, etwas zu essen oder ein paar Pfennige für die Börse.«

Vincenz bedankte sich überschwänglich und machte sich sogleich voller Hoffnungen auf den Weg. Kurz darauf hatte er das Haus mit der Nummer 10 erreicht und klopfte an Denkes Tür.

Augenblicklich hörte er, wie drinnen jemand einen Stuhl zur Seite rückte. Gleich darauf näherten sich schlurfende Schritte.

Der Mann, der ihm einen Moment später die Tür öffnete, war etwa Mitte sechzig, hatte lichtes, ergrautes Haar und trug einen gepflegten Schnurrbart.

Als ihn Vincenz um eine milde Gabe bat, lächelte ihn der Mann zu seiner Überraschung nur an und machte eine einladende Handbewegung.

»Jetzt kommen Sie erstmal rein, bei dieser Kälte sollt niemand durch die Straßen laufen müssen.«

Die Wohnung sah zwar nicht sonderlich sauber aus, außerdem roch es dort ein wenig seltsam, aber der Steinhauer trat trotzdem ein. Er war viel zu durchgefroren, um dieses Angebot ausschlagen zu können, erst recht nicht, nachdem ihn Denke zum Essen einlud.

»Ich sitz grad am Mittagstisch, wollen Sie mitessen?«

»Gerne, aber …«

»Nichts aber, es ist genug Fleisch für uns beide da, außerdem schmeckt es in Gesellschaft gleich viel besser.«

Vincenz, dessen Magen allein schon bei dem Wort Fleisch anfing zu knurren, bedankte sich überschwänglich und setzte sich, am Küchentisch angelangt, voller Vorfreude auf jenen Stuhl, den der Mann ihm zugewiesen hatte. Während er sich neugierig umsah, hörte er Denke hinter sich in der Küche rumoren.

Je eingehender sich Vincenz in der Wohnung umsah, umso stärker nahm er die Verwahrlosung, die hier herrschte, wahr. Alles wirkte irgendwie alt und verkommen. Die gesamte Einrichtung machte den Eindruck, als käme sie von einer Müllhalde, überall in den Ecken hingen Spinnweben und der Boden war mit seltsamen dunklen Flecken übersät. Die Luft war überheizt und abgestanden und außer dem Gestank von Schweiß und ungewaschenen Kleidern vermeinte Vincenz noch einen seltsamen kupfernen Geruch wahrzunehmen. Aber all seine Bedenken wurden schlagartig zur Makulatur, als Denke damit begann aufzutischen. Zwei Tellern mit Besteck folgten ein Kanten dunkles Hartbrot und eine große Schüssel, die bis zum Rand mit gekochtem Fleisch gefüllt war.

Als dem noch ein Glas mit eingelegten Gurken und eine weitere, noch größere Schüssel mit gepökeltem Fleisch folgte, kannte Vincenz Erstaunen keine Grenzen mehr. In diesen Zeiten waren Brot und Gurken an sich schon teuer, ein Kilo Fleisch aber, das durch die Inflation inzwischen fast eine Milliarde Mark kostete, beinahe unbezahlbar.

Der Steinhauer ließ sich deshalb kein zweites Mal auffordern zuzulangen, sondern aß, bis er vermeinte zu platzen.

Nachdem sie gegessen hatten, wartete Denke, bis sich das Ganze etwas gesetzt hatte und sich sein Gast genüsslich über den Bauch rieb.

»Und«, fragte er dann. »Satt geworden?«

»Und ob«, schnaufte Vincenz, der sich richtiggehend überfressen hatte.

»Gut«, sagte Denke und beugte sich vor. »Dann könnten Sie mir einen Gefallen tun.«

»Und der wäre?«, fragte Vincenz, der nach einem Blick in das jetzt ernste Gesicht seines Gastgebers hellhörig wurde.

»Ich hätt da einen Brief zu schreiben, aber mit meinem Gelenkrheuma kann ich das nicht. Da bring ich nur ein Gekritzel zu Papier, das keiner lesen kann. Wärst nicht so nett, anstelle meiner diesen Brief zu schreiben?«

Vincenz, der schon mit Schlimmerem gerechnet hatte, lachte vor Erleichterung auf.

»Ha«, sagte er und schob seinen Teller beiseite. »Natürlich, wenn’s denn weiter nichts ist.«

Denke erhob sich. »Dann wart geschwind«, sagte er und ging in die Küche. »Ich will nur schnell Papier und Stift holen.«

Bevor Vincenz darauf antworten konnte, war sein Gastgeber auch schon wieder zurück und legte ein weißes Blatt Papier und einen angespitzten Bleistift vor ihm auf den Tisch. Während sich Vincenz das Blatt zurechtlegte und den Stift in die Rechte nahm, begann Denke hinter ihm auf und ab zu wandern, als suche er nach den richtigen Worten.

Nach einigen Sekunden des Hin- und Herlaufens räusperte er sich schließlich und diktierte dem Steinhauer die ersten Worte.

»Adolf, du dicker Wanst …«

Vincenz, der gerade mit dem Schreiben beginnen wollte, verharrte und lachte lauthals los.

»Das ist wohl ein Scherz«, sagte er und drehte sich um.

Er ahnte in diesem Moment noch nicht, dass es diese plötzliche Bewegung war, der er letztendlich sein Leben zu verdanken hatte.

Statt ihm den Schädel zu spalten, streifte die Spitze der Hacke, mit der ihm der alte Denke den Garaus machen wollte, nur seine Schläfe. Obwohl die Wunde, wie der Amtsarzt vor Gericht später feststellte, nur acht Zentimeter lang und kaum mehr als fingerbreit war, blutete Vincenz wie ein abgestochenes Schwein.

Aber das war dem Steinhauer in diesem Moment egal. Er kämpfte um sein Leben. Obgleich er dem Alten an Größe und Gewicht überlegen war, hatte er Mühe, den nächsten Schlag zu verhindern. Denke war erfüllt von einer geradezu dämonischen Kraft. Vincenz gelang es, den Stiel der Hacke ebenfalls zu packen, und so rangen die beiden Männer für Minuten stumm und keuchend um die Spitzhacke. Schließlich obsiegte die Jugend und die damit einhergehende Kraft von Vincenz und es gelang ihm, Denke die Hacke zu entreißen.

Blutend und vor Angst und Schmerzen schreiend rannte Vincenz aus der Wohnung und die Stufen vom ersten Stock hinunter zur Eingangstür.

»Hilfe, ein Verrückter will mich erschlagen! Hilfe, so hilft mir doch jemand!«

Zwei junge Männer, Nachbarn, eilten herbei.

»Um Gottes willen, was ist passiert? Sie bluten ja gar grausig.«

»Er wollt mich totschlagen, dieser alte Zausel«, keuchte Vincenz Olivier und streckte den Männern die Hacke mit der blutverschmierten Spitze entgegen.

»Hier, damit wollt er mich totschlagen.«

»Wer?«, fragte einer der jungen Männer.

Zitternd, immer noch unter dem Eindruck des soeben Geschehenen stehend, deutete Vincenz nach oben. »Dieser Denke, dieser Verrückte.«

»Das kann nicht sein«, sagte einer der Männer.

»Du musst dich irren«, sagte der andere.

Fassungslos starrte Olivier die beiden an.

Waren die Männer blind, sahen sie nicht, wie es um ihn stand?

Zornig hob er die Hacke und schüttelte sie.

»Seh ich aus wie ein Lügner? Ist das Blut an meinem Schädel und an dieser Hacke auch eine Lüge?«

Die beiden Männer sahen sich betreten an.

»Also gut«, sagte von ihnen schließlich. »Gehen wir hoch und fragen Papa Denke.«

Vincenz schüttelte angstvoll den Kopf. »Nein, da geh ich nimmer hoch. Nachher erschlägt mich der Verrückte doch noch.«

»Keine Angst, wir gehen alle zusammen hoch, gegen uns drei kommt Papa Denke nicht an«, sagte der Ältere der Männer. »Obwohl ich mir immer noch nicht vorstellen kann, was da passiert ist.«

Dabei sah er den Steinhauer misstrauisch an.

»Oder verschweigen Sie uns da gar was?«

Vincenz wurde allmählich klar, dass dieser Denke, den alle nur Papa nannten, ziemlich beliebt zu sein schien, während er hingegen, ein arbeitsloser, umherziehender Wandersbursche, ein Fremder war, dem man im Moment nur Misstrauen entgegenbrachte. Dennoch folgte er den beiden bis vor Denkes Wohnung. Dort klopfte einer der Männer gegen das rissige Holz der Eingangstür, und als diese sich öffnete, trat Vincenz instinktiv zwei Schritte zurück.

Denkes seltsam verzerrtes Antlitz verwandelte sich augenblicklich in eine freundliche und gutmütige Miene, als er die beiden Männer erkannte, die da vor seiner Tür standen.

»Grüß Gott, was führt euch denn zu mir?«

Statt einer Antwort deutete einer der Männer auf Vincenz.

»Hallo Papa Denke, entschuldige die Störung, aber sag, kennst du diesen Mann? Er behauptet nämlich, dass du ihm mit der Hacke da den Schädel hast einschlagen wollen.«

Denkes Augen glitzerten seltsam, als er seinen Blick auf den Steinhauer richtete.

»Natürlich kenn ich diesen Hundsfott, diesen elenden. Heuchelt mir was von Armut und Hunger vor, und als ich ihn in meine Kammer einlass und ihm obendrein noch was zu essen geb, versucht er mich auszurauben. Was hätt ich denn tun sollen? Er ist doch viel jünger, größer und stärker als ich, also hab ich nach der Hacke gelangt und mich gewehrt. Als er gemerkt hat, dass er kein leichtes Spiel mit mir hat, ist er davongelaufen.«

Die Gesichter der Männer verfinsterten sich zusehends, als sie sich umdrehten. Als sie dann auch noch feststellten, dass der Steinhauer nicht mehr neben ihnen, sondern jetzt zwei Schritte hinter ihnen stand, war für sie alles klar.

Bevor Vincenz Olivier wusste, wie ihm geschah, hatten ihn die beiden Männer gepackt und schleiften ihn die Treppe hinunter zur örtlichen Polizeistation. Auch dort schenkte man seinen Worten keinen Glauben. Im Gegenteil, Olivier wurde des Bettelns und der Landstreicherei angeklagt und ins hiesige Gefängnis gesteckt, das sich im Rathaus befand.

Ludwigsburg im November 2020

G. Schulz

Der 3. Akt folgt in Kürze …

Quellenhinweis:

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