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Der Welt-Detektiv Band 6

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Nick Carter – Nick Carters beste Maske – Kapitel 3

Nick Carter
Nick Carters beste Maske

Kapitel 3

Ein unverhofftes Wiedersehen

Undine gehörte zu den allerelegantesten und kostspieligsten Apartmenthotels, welche für den ausschließlichen Gebrauch von begüterten Bachelors, wie man in New York ehescheue Junggesellen zu nennen pflegt, errichtet und mit jedem nur erdenklichen Komfort versehen werden. (Ein Apartment ist eine aus mehreren möblierten Zimmern und Innenkorridor bestehende Wohnung für eine einzelne Person.) Der zehnstöckige Bau lag unweit vom Centralpark und der stolzen 5th Avenue an einer Kreuzung der 50th Street.

Als Nick Carter an der Ecke der 5th Avenue stehen blieb und das schräg gegenüber auf der anderen Straßenseite liegende Apartmenthotel mit der marmornen Wassernixe über dem prächtigen Portal, welche dem Haus auch ihren Namen Undine verliehen hatte, betrachtete, stellte er zunächst fest, dass es an das noch höhere Eckhaus der 5th Avenue anstieß und auch das in der Seitenstraße gelegene Nachbargebäude noch um ein Stockwerk höher in die Lüfte ragte. In dieser übereleganten Wohnungslage der reichsten und exklusivsten Gesellschaftselemente der Riesenstadt grenzte ein Riesenpalast an den anderen, und die Mieten in diesen mit geradezu unglaublichem Luxus ausgestatteten marmornen Bauten steigen ins Unglaubliche.

Tausend Dollar jährlich und auch doppelt so viel werden für ein einziges Zimmer bezahlt.

Gelassen begab sich Nick Carter in die einen Wintergarten darstellende Empfangshalle des Undine. Bei seinem Erscheinen riss ein bereitstehender schwarzer Portier in geschmackvoller Uniform den aus einer einzigen Glasscheibe bestehenden Türflügel auf. Der Detektiv trat in den wohlig durchwärmten Riesenraum, von welchem aus die im Halbkreis angelegten Fahrstühle zu den verschiedenen Stockwerken führten.

Einer der Hotelangestellten in Frack und weißer Binde trat sofort auf Nick Carter zu und erkundige sich nach dessen Wünschen.

»Ich wünsche Mr. Morris Carruthers zu sprechen.«

»Mit Vergnügen. Wollen Sie mir freundlichst Ihre Karte geben, damit ich sie hinaufschicken kann?«

Der Detektiv blickte ziemlich erstaunt darein. »Meinen Sie wirklich, dass Mr. Carruthers zu Hause ist?«, fragte er mit leiser Ironie.

»Selbstverständlich«, bestätigte der Beamte mit einem Blick auf die kostbare Wanduhr. »Mr. Carruthers ist um diese Zeit immer anwesend. Es fragt sich nur, ob er schon empfängt … Es ist halb elf Uhr vormittags … Hallo, Sam«, unterbrach er sich und winkte einem uniformierten schwarzen Angestellten zu, der eben eilfertig aus dem Souterrain kam, eine Silberplatte mit allem möglichen Frühstücksgerät in beiden Händen. »Wohin?«

»In den zehnten Stock, Apartment 1000 … Mr. Carruthers«, lautete die Antwort.

»Well, dann ist Mr. Carruthers schon auf und hat Frühstück bestellt«, wendete sich der Hausbeamte wieder an Nick Carter. »Am besten fahren Sie gleich mit hinauf, der Porter kann Ihre Karte Mr. Carruthers überbringen.«

Der Detektiv war, wohl zum ersten Mal in seinem Leben, um eine Antwort verlegen. Schweigend nickte er und folgte dem Schwarzen zum Fahrstuhl.

»Sagen Sie mal«, wendete er sich an den Mann, »irren Sie sich auch nicht? Es gilt nämlich eine Wette … Ich war mit Mr. Carruthers heute Morgen um 8 Uhr noch im Bronx zusammen, und …«

»No, Sir, das waren Sie nicht«, unterbrach ihn der Wollkopf grinsend. »Mr. Carruthers kam heute Nacht kurz vor 12 Uhr nach Hause. Ich fuhr ihn selbst hier im Fahrstuhl hinauf, weil der Liftman gerade nicht zur Hand war.«

»Well, das mag sein. Dann ist er wieder fortgegangen.«

»No, Sir«, grinste der Angestellte von Neuem. »Mr. Carruthers blieb in seiner Wohnung. Ich habe die Nachtwache gehabt.«

»Sie wollen also behaupten, dass Mr. Carruthers seit Mitternacht das Haus nicht wieder verlassen hat?«, fragte der Detektiv in großem Erstaunen.

»Ganz bestimmt, Sir, denn ich weiß es genau. Es ist ein guter Dienst hier im Hotel, wer ein- und auspassiert, muss am Office vorüber. Mr. Carruthers war zu Hause und hat geschlafen, wie immer, Sir, das ist die Wahrheit.«

»Und Sie bringen ihm nun das Frühstück?«

»Jawohl!«, lautete die lakonische Antwort.

Sie hatten inzwischen das oberste Stockwerk erreicht. Der Fahrstuhlführer öffnete die Tür, und Nick Carter trat mit dem Porter auf den teppichbelegten Gang. Sie schritten diesen bis zum Ende und blieben dann vor einer Korridortür stehen, welche die Nummer 1000 trug.

»Mr. Carruthers Apartment«, erläuterte der Hotelangestellte. »Sehr feiner Mann, Mistah. Die feinste Wohnung im ganzen Haus … vier Zimmer und Bad – soll ich eine Karte hineinbringen?«, erkundigte er sich abwartend, während er zugleich den elektrischen Klingelknopf neben der Tür in Bewegung setzte.

»Nicht nötig«, erklärte der Detektiv, dem vor unfassbarem Erstaunen die Gedanken wirr durcheinander tanzten. Er gewahrte, wie vom Wohnungsinneren aus die Tür geöffnet wurde, ohne dass jemand zum Vorschein kam.

»Mr. Carruthers ist im Speisezimmer«, erläuterte der Porter. »Er braucht nur vom Stuhl aus auf einen Knopf zu drücken, und die Korridortür geht auf – alles sehr fein eingerichtet.«

Ohne Weiteres wollte Nick Carter neben dem Zimmerkellner den Privatkorridor der Wohnung betreten.

»No, Sir, Ihre Karte, bitte«, flüsterte der Mann ängstlich. »Mr. Carruthers ist sehr eigen. Als ich kürzlich einen Gentleman ohne Karte eintreten ließ, drohte er mir, dafür zu sorgen, dass ich entlassen werden würde, falls dies nochmals vorkäme.«

»Well, ich kalkuliere, Sie werden diesmal nicht entlassen werden … aus dem Weg, Mann!«, setzte der Detektiv entschieden hinzu. »Ich komme vom Polizeihauptquartier und muss Mr. Carruthers sofort sehen!«

Damit schob er auch schon den vergeblich sich sträubenden Farbigen zur Seite und trat als Erster in den Privatkorridor ein. Drei Türen befanden sich in diesem.

»Well, Sir, die Tür geradeaus … doch Sie müssen es verantworten!«, meinte der Angestellte ängstlich.

Der Detektiv nickte nur. Im nächsten Moment hatte er die bezeichnete Tür geöffnet und sah sich nun in einem behaglich eingerichteten Speisezimmer demselben Mann gegenüber, welchen er kaum zwei Stunden zuvor in dem verlassenen Haus im Bronx unter unsäglichen Schwierigkeiten verhaftet und gefesselt und der seitdem seine Seele mit zwei neuen Mordtaten belastet und es verstanden hatte, in unerhört kühner Weise leise aus dem Patrolwagen zu fliehen.

Morris Carruthers, ein bildschöner, kraftstrotzender Mann im Ausgang der 20er Jahre, dessen edle Gesichtsbildung an den Charakterkopf einer antiken Statue erinnerte, saß in eleganter, aus weißgestreiftem Flanell gefertigter Morgenkleidung in einem bequemen Armstuhl hinter dem sorglich gedeckten Frühstückstisch, rauchte behaglich eine Zigarette und schaute nun von einer Zeitung auf, in deren Lektüre er augenscheinlich vertieft gewesen war.

Kein Muskel zuckte in seinem ehernen Gesicht, als sein scharfer Blick sich nun auf den unvermuteten Eindringling heftete. Er schien diesen gar nicht zu kennen, sondern maß ihn vielmehr hochmütig von oben bis unten.

»Was soll das heißen, Sam?«, wendete er sich verweisend an den hinter Nick Carters breitem Rücken mit dem Frühstückstablett in den zitternden Händen auftauchenden Mann. »Wer ist der Herr, und wie kann er es wagen, unangemeldet hier ins Zimmer zu dringen?«

»Er sagt, er wäre vom Polizeihauptquartier«, stotterte der Schwarze kläglich. Er dränge sich an dem Detektiv vorbei und setzte die Silberplatte auf den Tisch.

Noch bis zu dem Moment, wo der Morris Carruthers persönlich gesehen und in ihm sofort wieder den ihm nur zu wohlbekannten Mann erkannt hatte, dessen Gefangennahme ihm in verflossener Nacht beinahe das eigene Leben gekostet hätte, hatte Nick Carter nicht an die alle Grenzen übersteigende Frechheit des Verbrecherkönigs glauben können, sich ruhig in seiner der Polizei wohlbekannten Wohnung aufzuhalten, während er nur zu gut wusste, dass in der nächsten Zeit ganz New York nach seinem Verbleib durchsucht wurde. Das war der Gipfel kaltblütiger Verschlagenheit, jedoch auch eine Riesendummheit, wie Morris Carruthers sofort zu seinem Schaden erfahren sollte – oder glaubte dieser gefährliche Mann etwa, sich auf Grund eines Alibibeweises über all die wider ihn vorliegenden Anklagen hinwegsetzen zu können?

Der Anblick seines Todfeindes gab Nick Carter seine ganze Kaltblütigkeit und Geistesgegenwart zurück. Blitzschnell hatte er einen Revolver gezogen und die Mündung auf den Verbrecher gerichtet.

»Das nenne ich ein unverhofft rasches Wiedersehen, Morris Carruthers. Wirklich, Ihre Frechheit übersteigt alle menschlichen Begriffe. Keinen Widerstand, oder ich schieße Sie nieder!«

Doch der also Bedrohte blieb mit aufgestützten Armen, ohne auch nur mit einer Wimper zu zucken, sitzen. »Wer sind sie eigentlich, Herr?«, fragte er kühl. »Was für eine Manier ist es, in mein Zimmer zu dringen und mich nach Banditenart zu bedrohen?«

»Keine Flausen gemacht, denn wir kennen einander!«, unterbrach ihn der Detektiv scharf. »Sie sind vor kaum zwei Stunden aus dem Patrolwagen entsprungen, nachdem Sie Ihren Mitschuldigen Isaak Meadows sowie einen Policeman ermordet haben.«

Doch Morris Carruthers unterbrach ihn lachend. »Well, das ist mir neu. So viel ich weiß, habe ich noch vor einer halben Stunde im Bett gelegen, und zwar seit Mitternacht. Ist dem nicht so, Sam?«

»Gewiss, Sir!«, stammelte der geängstigte Schwarze. »Sie lagen noch im Bett, als sie klingelten und das Frühstück bestellten.«

Doch mit einem Sprung war Nick Carter bei dem Verbrecher und hatte ihm, ehe dieser es verhindern konnte, den weiten Ärmel des Flanelljacketts zurückgestreift. Sein Blick fiel auf blutrünstige Streifen um das Handgelenk, wie die der Druck von stählernen Handfesseln hervorbringt.

»Well, Sir, das genügt!«, versetzte er. »Behaupten Sie, was Sie wollen. Hier sind noch die Spuren der Ihnen von mir heute früh selbst angelegten Stahlspangen. Und nun die Hände auf den Rücken; schnell, Morris Carruthers … Sie haben diesmal allzu keck gespielt und nun verloren!«

Damit hatte er, mit der Rechten den Verbrecher durch den Revolver in Schach haltend, ein blinkendes Paar Handschellen aus der Tasche gezogen.

»Die Hände auf den Rücken!«, kommandierte er.

Was nun geschah, spielte sich im Bruchteil einer Sekunde ab.

Scheinbar sich ins Unabänderliche fügend, gab sich Morris Carruthers den Anschein, als wollte er die Hände vom Tische nehmen; doch im selben Moment hatte er auch schon das schwere Silbertablett samt den Kannen und Tassen gefasst und schleuderte es gegen den Detektiv.

Sofort schoss Nick Carter. Doch der ihm die Hand verbrühende heiße Kaffee ließ seine Muskeln zucken, und der Schuss ging in die Decke. Augenblicklich hatte Morris Carruthers auch schon den vor Furcht lauf aufschreienden Farbigen um die Hüfte gefasst und schleuderte diesen gleich einem Gummiball gegen den Detektiv, ehe dieser mit dem Revolver ein zweites Mal schießen konnte.

Ein Wutschrei entrang sich den Lippen des so Übertrumpften. Doch er konnte es nicht verhindern, dass die Last des auf ihn fallenden Schwarzen ihn in die Knie riss. Ehe er den Burschen von sich abgeschüttelt hatte, verstrichen weitere kostbare Sekunden.

Inzwischen war es Morris Carruthers bereits gelungen, die Tür zum Nebenraum aufzureißen, hindurch zu schlüpfen und sie wieder hinter sich ins Schloss zu werfen.

Gerade als Nick Carter ebenfalls die Tür erreichte, rasselte von der anderen Seite der Schlüssel im Schloss, der Riegel wurde klirrend vorgeschoben, und von dem Nebenzimmer ertönte ein lautes, spöttisches Lachen. In ohnmächtiger Wut rüttelte Nick Carter an der Klinke. Er warf sich mit voller Körperkraft gegen die Tür, um sie einzudrücken; jedoch vergeblich, sie wich und wankte nicht aus ihren Angeln.

»Aber was geht denn hier vor?«, rief der Geschäftsführer, welcher mit anderen Bediensteten in atemloser Hast herbeigeeilt kam, denn natürlich hatte der dumpfe Widerhall des Schusses die ganze Hausbewohnerschaft in hellen Aufruhr versetzt.

»Das sollen Sie sofort hören!«, rief der vor Anstrengung dunkelrot im Gesicht gewordene Detektiv. »Ihr sauberer Morris Carruthers ist ein wegen verschiedener Mordtaten verfolgter Verbrecher. Ich bin der Ihnen wohl dem Namen nach bekannte Detektiv Nick Carter und gekommen, um ihn zu verhaften. Hier ist meine Marke!«

Damit wies er den entsetzt dreinschauenden seine Legitimation vor. »Doch es ist absolut keine Zeit zu verlieren!«, sagte er hastig. »Der Mensch ist durch diese Tür entwichen. Schnell ein Beil herbei, ich muss ihm nach!«

»Nur nicht so aufgeregt, Mr. Carter«, versuchte der weltgewandte Manager den Detektiv zu beruhigen. »Bitte nehmen sie gefälligst Rücksicht auf den Ruf dieses Hauses. Wenn Mr. Carruthers wirklich ein Verbrecher sein sollte, was ich indessen nicht glauben kann, zumal der Herr schon seit Jahren im Haus wohnt und einen geradezu exemplarischen Lebenswandel führt, so kann er ihnen nicht entrinnen, denn diese Tür hier bildet die einzige Verbindung mit dem Schlafzimmer, in das er sich geflüchtet hat; aus diesem gibt es keinen weiteren Ausgang.«

»Pah, der Mann ist zu allem fähig!«, rief Nick Carter, der ans Fenster geeilt war, sich hinausgelehnt und sofort wahrgenommen hatte, dass das anstoßende Schlafzimmer nur ein Fenster, das letzte in der Reihe, besaß und mit der Längswand an die Brandmauer des unmittelbar angrenzenden Eckhauses an der 5th Avenue stoßen musste. Zu seiner Beruhigung nahm er ferner wahr, dass das Schlafzimmerfenster geschlossen war. Eine Flucht durch dieses schien auch nicht möglich zu sein, da keine Feuernotleiter oder dergleichen nahebei, auch der Steinsims darunter so schmal war, dass kaum ein Vogel sich darauf festhalten konnte, geschweige ein Mensch.

»Well«, entschied der Detektiv, indem er Sam heranwinkte. »Hier, nehmen Sie am Fenster Aufstellung und behalten Sie das anstoßende Schlafzimmerfenster im Auge. Sobald Sie etwas wahrnehmen, rufen Sie mich sofort.«

Er schritt zur Tür zurück und entnahm schon auf dem Weg dorthin seinen Taschen einige blinkende Instrumente. »Ich werde die Tür beschädigen müssen«, erklärte er dem Hotelmanager, der immer noch mit gerungenen Händen stand.

»Aber ist es auch wirklich kein Irrtum, verehrter Mr. Carter?«, rief er entsetzt. »Wie mir der Porter eben mitteilte, soll Mr. Carruthers sich heute Morgen schwerer Verbrechen schuldig gemacht haben – das erscheint mir aber ganz ausgeschlossen, denn ich selbst sah ihn kurz vor Mitternacht nach Hause kommen. Unsere Portale sind von 12 Uhr nachts ab verschlossen. Keiner unserer Mieter hat einen Schlüssel, sondern Ein- und Auslass geschieht durch den Nachtportier.«

»Ja, das sagte mir schon Ihr Sam, der versah wohl diese Nacht den Posten eines solchen«, bemerkte Nick Carter, der schon eifrig bei der Arbeit, die Tür zu öffnen, war. »Doch es ist vergebliche Mühe, lieber Herr, denn ich bin meiner Sache sicher. Sind Sie auch gewiss«, setzte er hinzu, nachdem er einige Sekunden angestrengt gelauscht hatte, »dass das Schlafzimmer keinen anderen Ausgang hat?«

»Keinen«, versicherte der Manager. »Das Schlafzimmer nebenan ist nur ein großer Alkoven mit einem einzigen Fenster. Es hat nur diese Tür und sonst nur massive Wände.«

»Dann muss also der Bursche im Zimmer stecken«, meinte der unablässig weiter arbeitende Detektiv.

»Unter allen Umständen!«

In großer Erregung presste der Manager den Mund an den Türspalt. »Mr. Carruthers, bitte, öffnen Sie doch!«, rief er erregt. »Ich bin es … Mr. Robinson. Es kann sich nur um ein unglückliches Missverständnis handeln, das sich aufklären muss. Wir alle im Hotel können Ihr Alibi nachweisen.«

Doch er mochte noch so eindringlich bitten, er predigte tauben Ohren. Wenigstens ließ sich aus dem Nebenzimmer nicht das geringste Geräusch vernehmen.

Nick Carter hatte schon das Türschloss abgeschraubt. Nun war er dabei, mit einem sehr exakt und schnell arbeitenden Instrument ein Loch in die Türfüllung zu schneiden, um mit der Hand durchlangen und den Riegel zurückschieben zu können.

Darüber vergingen kostbare Minuten. Dann griff Nick Carter durch das entstandene Loch, schob den Riegel zurück, und die Tür brauchte nur noch aufgestoßen zu werden.

»Vorsicht!«, befahl Nick Carter. »Wir haben es mit einem verzweifelten Verbrecher zu tun, dem es auf einen weiteren Mord nicht ankommt. Sein ruhiges Verhalten lässt auf neue Schandtaten schließen. Er mag schießen oder eine Bombe werfen, was weiß ich!«

Seine Worte dienten nicht gerade zur Beruhigung des Hotelpersonals. Dieses drängte eilig zum Privatkorridor. Einige Mädchen hielten sich entsetzt die Ohren zu, und auch dem Manager schien ziemlich unbehaglich zumute zu sein.

Von der Seite her, um nicht von einem Schuss getroffen werden zu können, dabei die eigene Waffe kampfbereit in der Rechten, stieß Nick Carter nun die Verbindungstür auf.

»Herausspaziert, Mr. Carruthers«, sagte er kaltblütig. »Sie sehen, es ist um Ihren letzten Zufluchtsort geschehen!«

Keine Antwort. Es blieb so still im Zimmer, als ob in diesem sich niemand aufhielte.

Jeden Augenblick gewärtig, angeschossen zu werden, beugte der Detektiv sich vor, um Einblick in den Schlafraum zu gewinnen, während die im Hintergrund stehenden Angestellten sich furchtsam aneinander klammerten und den Eintritt irgendeiner schrecklichen Katastrophe befürchteten.

Doch alles blieb still. Als nun Nick Carter sich aufrichtete und in den Nebenraum schaute, da fand er ihn zu seiner unaussprechlichen Enttäuschung leer – der Vogel war ausgeflogen.

Mit einem Fluch auf den Lippen stürmte der Detektiv nun in das leere Gemach. Suchend glitten seine Blicke über die Einrichtungsgegenstände; eine kostbare Messingbettstelle, ein dreiteiliger Ankleideschrank mit hoher Spiegelscheibe, eine Ottomane, Tische und Stühle, an der Längswand eine Anzahl Wandschränke – das war alles, aber von dem Flüchtigen keine Spur.

»Aber wie ist das nur möglich?«, meinte der Manager erstaunt, sich vor Verwunderung die Augen reibend. »Das geht nicht mit rechten Dingen zu – ich wiederhole, das Zimmer hat keinen anderen Ausgang. Ich muss es doch wissen, ich leite das Hotel schon seit zehn Jahren!«

Nick Carter hörte kaum auf ihn. Voll unbeschreiblicher Wut eilte er suchend und spürend im Zimmer umher. Er schaute unter das Bett, er riss die Decken auseinander, öffnete die mit eleganten Garderobenstücken dicht vollgehängten Schränke und durchtastete diese nach einem etwa versteckten Menschenkörper. Er eilte endlich zum Fenster und schob die noch von der Nacht herzugezogenen Doppelvorhänge zur Seite.

Alles blieb umsonst. Von Morris Carruthers war keine Spur zu entdecken.

»Das grenzt an Hexerei!«, stöhnte der Manager; »es gibt keinen anderen Ausgang als die Tür.«

»Es muss einen anderen Ausgang geben!«, unterbrach ihn Nick Carter barsch. Dann stand er minutenlang fast gänzlich unbeweglich, um nachzudenken und vor allem Dingen, um wieder seine gewohnte Kaltblütigkeit und Ruhe zurückzugewinnen. Der Gedanke daran, dass er den gesuchten Verbrecher schon wieder unter den Händen gehabt und dieser dennoch vermocht hatte, sich seinem Griff erneut zu entziehen, machte ihn förmlich rasend.

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