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Die Riffpiraten – Kapitel 18

Heinrich Klaenfoth
Die Riffpiraten
Verlag Albert Jaceo, Berlin, um 1851

Kapitel 18

Die Nachtrose

Das Getümmel hatte sich auf der Straße erhoben, die beiden Flügeltüren des Arbeitshauses wurden durch den Portier aufgestoßen und herein wälzten sich mehrere Personen.

Zwei Männer ohne Kopfbedeckung führten ein anscheinend betrunkenes Frauenzimmer zwischen sich. Hinterher gingen zwei Polizei-Personen mit schleppenden Gabeln, die von Zeit zu Zeit, wenn das Frauenzimmer sich gegen das Fortschreiten sträubte, durch Nachschieben einige Tätigkeit entwickelten.

»Ach, Nachtrose!«, riefen die Arbeitshäuslerinnen in froher Überraschung und Nachtrose brüllte: »Vivat! Es lebe die Liebe und der Inspektor!«

Die Nachtrose, dies war ihr alter, herkömmlicher Spitzname, stand in diesem Augenblick auf beiden Hacken und lehnte in schräger Richtung nach hinten, ihren beiden nächsten Führern, die ein paar Arbeitsleute zu sein schienen, in ihren kräftigen Armen. Die genannte Person gewährte einen widerlichen Anblick. Sie war entweder durch mangelhafte Nahrung, durch schlechte Luft oder durch Krankheit bis zum Skelett abgemagert.

Eine schlaffe und fahle, ins Gelbliche spielende Haut umgab ihren Körper. Sie ging auf den Strümpfen, deren einer ihr auf dem Knöchel hing. Ein Kattunkleid, woran die ursprüngliche Farbe nicht zu erkennen war, wurde um den Leib durch einen strickförmig zusammengedrehten alten Schal zusammengehalten. Auf der Brust war diese Bekleidung bis an den Gürtel aufgerissen und dadurch die Fetzen eines schmutzigen Hemdes zu erkennen. Stellenweise sah man die zusammengeschrumpfte Haut widerlichem Ansehen durchschimmern. Das noch volle Haar der Nachtrose hing gänzlich aufgelöst herab, sodass sie das Ansehen einer Wilden hatte.

Ihr Gesicht, das früher vielleicht schön gewesen sein mochte, war ebenfalls mit einer erdfarbigen Haut überzogen, unter der die Backenknochen hervorragten. Das eine Auge war ganz mit Blut unterlaufen und entzündet, während das andere matt und glanzlos mit einem blauen Ring umgeben war.

Sie wurde im schnellen Tritt über den Flur in das Gesellschaftszimmer gestoßen und somit war sie dann der Obhut der Arbeitshäuslerinnen überlassen, die sie teils mit neugierigen Fragen überhäuften, teils sich sonst um sie zu schaffen suchten.

Die Nachtrose fuhr vor Jahren als Geliebte eines reichen Granden in glänzenden Karossen. Nach und nach sank sie bis zu der Stufe, insbesondere durch den Trunk, dem sie leidenschaftlich ergeben war, körperlich heruntergekommen, auf der wir sie nun sahen.

Sie wurde, da sie unter den Händen ihrer Schwestern erschöpft zusammensank, auf ein Lager gelegt, wo sie unter schrecklichen Delirien endlich in eine lange anhaltende wilde Raserei und Tobsucht verfiel.

Dies war schon das dritte Mal, dass die Nachtrose diese Anstalt durch ihre Gegenwart verschönerte.

 

*

 

Frau Mercurian hatte eine Pause gemacht, als der Doktor Simon sagte: »Und nun, was erlebten Sie in St. Bethlehem?«

»Ach!«, antwortete sie, »gar mancherlei, denn hier fing meine Schule, mein Unterricht erst an. Ich wurde klug, ich begriff meine Umstände allmählich, meine fortschreitende körperliche Reife, woraus ich Vorteil ziehen lernte«, antwortete die Frau.

»Sie bereuen vielleicht irgendetwas?«

»Nichts bereue ich«, sagte die Händlerin und lachte wild, »nichts, Herr Doktor, denn die Menschen sind alle meine Feinde, da sie mich, selbst von der Epoche meiner Geburt an, schon ausgestoßen haben. In der Anstalt verblieb ich ein ganzes Jahr, bis ich sechzehn und ein halbes Jahr alt war. Die gute Kost, vor allen Dingen aber die Ruhe und die feste Gewissheit, dass ich alle meine Jugendfatalitäten usw. hinter mir hatte, äußerten bei meiner riesenfesten Gesundheit einen vorteilhaften Einfluss auf die Entwicklung meines Körpers. Die Beschäftigungen waren zu ertragen. Ich wurde anfangs mit leichteren, späterhin zwar mit etwas schwereren Arbeiten, jedoch auch nicht einmal anhaltend beschäftigt. Unter ihre Obhut hatte mich eine gefürchtete Person genommen, jene bereits erwähnte Priesterin, der die übrigen Arbeitshäuslerinnen unbedingten Gehorsam leisteten. Auch der Lehre und der Unterweisung einer zweiten Person, der ebenfalls schon genannten Nachtrose, die anfangs sehr und lange krank war, endlich aber wieder genas, hatte ich vieles hinsichtlich meiner Aufklärung zu verdanken. Die Nachtrose war nicht so gefürchtet wie die Priesterin, doch hörte man gern auf sie und ihre Reden, weil sie gebildet zu nennen war.

Eines Tages zog sie mich, während wir uns im Garten zur Erholung befanden, an sich heran und sagte mit einer Art mütterlicher Zutraulichkeit: ›Es tut mir leid um dich, armes Tierchen, wenn ich dich so auf und nieder gehen sehe, dass dein schöner Körper hier in diesem dumpfen Haus verkümmern soll, während du ihn in der Welt auf eine ganz andere Weise verwerten kannst. Denn ich bin auch jung gewesen und habe das Leben in meiner Weise genossen, nun will es mit uns Alten, der Priesterin geht es ebenso, nicht mehr recht fort; aber für dich geht erst der Himmel auf.‹

›Wieso?‹, fragte ich neugierig, da ich sie nicht vollkommen verstand.

›Wenn du auf meinen Rat hörst, kannst du wie die erste Dame in seidenen Kleidern umhergehen, wie eine Königin leben und in den ersten Häusern gesucht werden, ebenso wie ich, als ich noch jung und schön war.‹

Ich horchte hoch auf und sagte: ›Nun, das möchte ich schon, wenn ich es nur anzufangen wüsste.‹

›Auch für die Negerin aus Porte au Prince werde ich ebenso wie für dich sorgen, versteht sich, dass ihr nicht undankbar seid und mir für meine Bemühungen eine Gratifikation zukommen lasst, meine sonstigen Gebühren werde ich anderweitig schon einziehen.‹

›Von Herzen gern, was mich betrifft‹, bemerkte ich, ›wenn ich nur aus diesem Joch heraus wäre.‹

›Die Negerin meint es ebenso‹, fuhr jene fort, ›da sie nun keinen Dienst als Mädchen wieder bekommen wird, weil ihr Aufenthalt hier bekannt werden muss und eine Herrschaft nie zu ihr wieder Zutrauen haben wird. Ebenso würde es dir auch gehen, da du überdies noch nie gedient hast. Im Übrigen, wer wird sich als Lasttier durch die Launen anderer quälen lassen, wenn man selbst von einer Magd bedient werden kann.‹

›Du spannst meine Neugierde auf das Äußerste‹, sagte ich, ›handle für mich, sobald du kannst.‹

›Ich habe Bekanntschaften«, fuhr die Nachtrose fort, ›und werde auf der Stelle für dich und die Negerin handeln, denn ihr sollt zusammen fort.‹

›Ach, wie würde ich mich freuen, gute Nachtrose‹, sagte ich, ›wenn ich endlich auf freien Füßen wäre.‹

Ich flog über den Antrag und über die vortreffliche Aussicht vergnügt zu der Negerin, die überdies schon lange meine Freundin geworden war, und wir sprachen über unsere Zukunft.

›Mir soll es ganz gleich sein‹, schloss endlich das gute schwarze Mädchen, ›was aus mir wird, wenn ich nur aus diesen ekelhaften Räumen komme, wo diese gemeinen, gotteslästerlichen Reden geführt werden.‹

›Und ich will froh sein, wenn ich endlich einmal hübsche Kleider tragen darf, wonach ich mich in meiner ganzen Lebenszeit leider vergeblich gesehnt habe.‹«