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Allerhand Geister – Eine dunkle Macht – Teil 4

Allerhand Geister
Geschichten von Edmund Hoefer
Stuttgart. Verlag der I. G. Cotta’schen Buchhandlung. 1876

Eine dunkle Macht – Teil 4

Heute begegneten wir uns nicht mehr. Am nächsten Tag aber ging ich gegen Abend zu ihm. Die Sache war schon im vollen Gange und ich war bereits von zwanzig Seiten danach gefragt worden, da man, wie wir miteinander standen, allerdings meine Kenntnis voraussetzen durfte.

Da ich bei ihm eintrat, fand ich ihn wieder auf dem Sofa liegen und begegnete auch heute anfangs jenem halb schlaftrunkenen, halb abwesenden Blick, der mich erst nach einigen Sekunden wirklich zu erkennen schien. Dann sprang er auf, schüttelte mir die Hand und fing an, in seiner beliebten Weise durchs Zimmer zu laufen. Sein Anzug war unordentlich, sein Haar verwirrt, der Ausdruck in seinen Zügen, in seinem Blick war der ungleichmäßigste, bald voll Spott, bald fast düster. Kurz, alles erinnerte mich an den, welchen ich neulich vor mir gefunden hatte, und dennoch machte das Ganze heute einen um vieles anderen Eindruck auf mich.

»So, so«, sprach er nach einer Pause, die ich nicht stören mochte, endlich in einer gewissen sarkastischen Weise, »da der Berg nicht zu Moses kommt, bequemt Moses sich zum Berg! Du möchtest ein wenig Näheres erfahren …«

»Richtig«, unterbrach ich ihn kaltblütig. »Was man von dir sagt und was du selber sagst, sind bekanntlich verschiedene Dinge, mein Sohn.«

»Und mir zugleich ein wenig die Leviten lesen«, redete er im gleichen Ton und ohne meine Unterbrechung zu beachten weiter. In seinen braunen Augen schillerte es seltsam durcheinander. »Ja, ja, dass der Tollkopf da einmal einen eigenen Schritt riskiert und seinen alten Beichtiger umgeht – schauderhaft, gelt! Aber siehst du, mein Alter, so geht es zuweilen, wenn das Beichtkind auf taube Ohren stößt! Weise du den Windbeutel in Zukunft nicht zurück, wenn er einmal vernünftig sein möchte!«

»Also davon wolltest du zu mir reden, Eugen?«, fragte ich kopfschüttelnd. »Nun allerdings, an solchen Liebesschmerz und Liebesdrang habe ich bei dir nicht geglaubt.«

»Warum nicht?«, versetzte er mit einem sich verdunkelnden Blick. »Die Wahl zwischen meiner lustigen Freiheit und euren spießbürgerlichen Rosenketten ist nicht so leicht, wie man denkt. Bin ich fähig, die eine aufzugeben, die anderen zu tragen? Durfte so ein wildes und unberechenbares Geschöpf, wie ich, überhaupt es wagen, ein anderes gutes, schönes und liebes Menschenkind an seine Weise und seine Wege zu fesseln? Habe ich das Zeug, glücklich zu werden und glücklich zu machen, im Sinne der soliden Bürger?« Er wandte sich um und schritt durch das Gemach. »Ich bin doch nicht ganz so verloren, wie ihr von mir glaubt.«

»Gib mir die Hand, Eugen, du bist ein guter Kerl«, sagte ich, beinah ergriffen von dem, was ich eben vernommen hatte. Er hatte wohl recht – weder ich noch ein anderer hatte ihn bisher in dieser Weise kennen gelernt. Aber trotz dieser Bewegung konnte ich es doch nicht lassen, hinzuzufügen: »Und dennoch, Eugen, leugne es nicht, das war es nicht allein, was du mir neulich anvertrauen wolltest? Ich kenne dich.«

Er zog die Hand, die er in die meine gelegt hatte, zurück, schaute mich eine Sekunde lang nachdenklich an, wandte sich um und nahm seinen Gang wieder auf. »Möglich!«, redete er dabei abgebrochen. »Ein Mensch wie ich hat anderes zu überlegen und zu fragen als ihr. Sein Leben ist nicht so glatt wie das eure. Er braucht nicht bloß um sich her und nach vorn zu sehen, sondern muss auch nach rückwärts blicken. Bei euch liegt alles Vergangene hinter einem festen Tor. Bei Unsereinem guckt es wohl einmal noch dreist um die Ecke. Aber was soll all dies dumme Gerede!«, brach er ab. »Kurz, ich will es mit Vernunft und Glück einmal auf eure Weise probieren. Geht es nicht«, fügte er mit einem seltsamen, halb scharfen, halb leichtfertigen Auflachen hinzu, »so ist die Schuld dein, mein Lieber, denn du hättest mich davor bewahren können. Und nun kein Wort mehr. Wir sitzen in einer Stunde im Wille’schen Garten. Du bist hiermit feierlich eingeladen, deine Glückwünsche abzustatten und Zeuge unseres jungen Glücks zu sein.«

Dass ich auf solche Reden keine eigentliche Erwiderung hatte, brauche ich kaum noch zu sagen: Wo sich das Vertrauen eines Freundes uns so entschieden entzieht, können fernere Fragen und Forschungen nur die sich plötzlich zeigende Kluft erweitern. Und so verließ ich mit ihm, nachdem er seinen Anzug geordnet hatte, das Haus, um noch ein paar Besuche zu machen, während er zu Rudnecks wollte. Er war auch heute wieder ein lustiger Begleiter, wenn auch nicht so ausgelassen wie neulich. »Schau, wie sie mich an- und mir nachgucken!«, sagte er lachend. »Es ist doch auch eine Art von Vergnügen, wenn man einmal das Wundertier der Stadt ist!«

Da ich nach unserer Trennung an der Post vorüberkam, war gerade der große Eilwagen angelangt – von Eisenbahnen war dazumal bei uns noch keine Rede, – zahlreiche Passagiere, eine Menge von Begrüßenden und Neugierigen standen und drängten sich umher, hie und da ging auch schon einer mit seinem Gepäck davon.

Ein Bekannter trat auf mich zu. „Sieh da, Doktor«, sagte er mich begrüßend, »ist es wirklich wahr, dass der wilde Eugen Heine sich mit der kleinen Rudneck verlobt hat? Nun, nun, Geschmack hat er bei all seiner Ausgelassenheit immer bewiesen. Es ist ein hübsches und lustiges Kind. Soll mich wundern, wie die miteinander auskommen!«

Indessen, während ich eine gleichgültige Antwort gab, ging eine Dame, muss ich ihrer eleganten Erscheinung nach wohl sagen, an uns vorüber und streifte uns beide mit einem auffällig festen und prüfenden Blick der großen dunklen Augen. Das schöne, wenn auch schon etwas verblühte Gesicht erhielt durch den erwähnten Blick und fest geschlossene Lippen einen merkwürdig gespannten Ausdruck.

»Wer ist denn das?«, fragte ich, als sie vorüber war. »Sie erinnert mich an jemand, den ich früher gekannt, aber …«

»Natürlich haben Sie sie früher gekannt«, unterbrach mich der Bekannte lächelnd. »Es ist ja die Tochter des alten Gerichtsdieners Menzel, die Schönheit der Stadt, und jetzt unsere erste Putzmacherin. Ein braves Mädchen, von dem man nur nicht recht versteht, warum es allein geblieben ist. An Anträgen hat es ihr nicht gefehlt, wie ich von einer ihrer Kundinnen hörte. Aber sie scheint ihren eigenen Kopf zu haben.«

»Seltsam«, bemerkte ich, »dass ich bisher nie wieder etwas von ihr hörte oder sah! Lieber Gott, wie schwärmten wir für sie, als wir Gymnasiasten waren! Ich bin in meinem Leben nicht wieder so oft in die Mondgasse gekommen, wie damals. Eugen und ich machten täglich wenigstens einmal den Umweg und waren glücklich, wenn wir einen Blick von ihr erhaschen konnten! Und nun das alles zu Ende!«

»So fangen Sie wieder an, Doktor«, meinte der Bekannte scherzend. »Vielleicht hat Friederike Sie nicht so ganz vergessen, sondern wartet noch auf Sie – wer weiß! Sie finden sie sogar noch immer in der Mondgasse, im alten Häuschen, zum Verdruss der vornehmen Kundschaft, die natürlich einen Laden auf der Hauptstraße vorzöge. Aber sie hat einen harten Kopf, scheint es. Doch genug geplaudert, wir müssen beide weiter. Sehen Sie den Staatsanwalt …« Das war Eugen. »… früher als ich, so sprechen Sie ihm meinen Glückwunsch aus.«

Wir trennten uns und ich setzte meinen Weg fort, voll von halb heiteren, halb schwermütigen Gedanken an jene gute und doch so närrische Zeit; an das reizende, maifrische, fröhliche und schüchterne, junge Kind; an den blöden Knaben mit seiner ersten, zitternden Herzensregung; an die folgenden Jahre mit ihren so unendlich verschiedenen Interessen, mit ihrem Ringen und Kämpfen, ihren Wechseln und Wandlungen, bis zum völligen Vergessen alles Früheren. Und nun mit einem Mal, da guckte, nach Eugens Ausdruck, auch hinter mir die Vergangenheit noch einmal um die Ecke!

Es war eine sehr heitere Gesellschaft, die ich, eine Stunde später, draußen im Garten, wieder wie neulich um den Tisch in der Nähe des großen Rasenplatzes gereiht traf. Die alten Freunde riefen mir ihren frohen Gruß entgegen, die neuen Bekannten nahmen mich wie einen alten Vertrauten auf. Margarethe empfahl sich mir lachend zu besonderer Freundschaft, sie verdiene dieselbe weit eher als der Wildfang Eugen, und brauche ebenso gut gelegentlich einen Mentor. Jedenfalls werde ich sie fügsamer finden als den übermütigen Herrn. Das sei die Historie vom Splitter und Balken, meinte er dagegen; in Acht nehmen möge ich mich ernstlich, denn an gelegentlichem Durchgehen werde es nicht fehlen. Die Alten stimmten launig ein, wir kamen nicht aus dem Lachen, dem Scherzen und Necken. Die Einfälle jagten einander, die Kinder machten den Lärm noch größer. Vom Wege schauten die Vorübergehenden lachend auf uns, hie und da klang von ihnen auch wohl ein lustiger Gruß herüber. Alle Welt kannte einander.

Eugen war der Fröhlichste von uns allen. Wie ich es schon neulich Abend ihm nachzurühmen hatte, war es auch heute: Alles sprudelte, funkelte und blitzte an ihm und aus ihm hervor, und dabei war sein ganzes Wesen, sein Ton, jeder Blick und jedes Wort, hätte man sagen mögen, so gehoben, voll so viel Frische und Originalität, voll so viel harmloser Lust und so viel glänzendem Geist, dass man seine helle Freude an ihm haben musste und sich jeder ihm zu eigen fühlte. Nur ein einziges Mal trat in diesem glänzenden Feuerwerk von Geist und Laune eine kleine Pause ein: Als die Windlichter schon auf unserem Tisch brannten, ging auf dem Fußsteig, der vom breiten Weg her, hart neben uns vorbei, durchs Gebüsch einem hinteren Pfad zuführte, eine Dame an uns vorüber, eine große, fest in einen dunklen Shawl gehüllte Gestalt, einen gleichfalls dunklen Schleier vor dem Gesicht, sodass bei der unsicheren Beleuchtung und da wir sie erst bemerkten, als sie schon halb vorbei war, von einem Erkennen keine Rede sein konnte.

Es war ein augenblickliches Schweigen eingetreten, denn wir alle fanden uns von dieser – sage ich – allzu großen Neugier überrascht. Eugen war mitten in der Rede verstummt, die Arme bequem auf den Tisch gelegt, den Kopf leicht vornüber geneigt, saß er wie erstarrt. Seine Augen folgten der Gestalt ins Dunkel hinein mit finsterem Blick, und die gefaltete Stirn, die niedergezogenen Brauen verliehen seinem Gesicht einen Ausdruck von so überraschender Härte, dass Margarethe scherzend bemerkte, er scheine ja ordentlich erzürnt zu sein. Da hob er den Kopf, blickte zu ihr hinüber und im Kreis umher, strich mit der Hand über Stirn und Augen und versetzte: »Das bin ich auch, Gretchen! Ich bin selber ein rücksichtsloses Menschenkind, aber eine solche Neugier heiße ich nicht mehr rücksichtslos, sondern unverschämt. Kannte sie einer von euch? Es muss eine Fremde gewesen sein.«

Das Intermezzo war vorüber, die gute Laune gewann wieder die Oberhand, und auch Eugen gab sich, wenn das möglich gewesen wäre, noch lustiger als bisher. Doch durfte ich nur noch eine kurze Zeit an der Gesellschaft teilnehmen, da ich gleich darauf zu einem meiner Patienten abgerufen wurde, dessen Krankheit, wie es schien, eine üble Wendung genommen hatte.