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Die Riffpiraten – Kapitel 16

Heinrich Klaenfoth
Die Riffpiraten
Verlag Albert Jaceo, Berlin, um 1851

Kapitel 16

Der Philanthrop

In der Nähe der Stadt angekommen, kroch ich anfangs in ein Gestrüpp. Ich fasste, nachdem ich meine Lage noch einmal überflog, den Plan, mich zu töten, und versuchte diese Idee durch Erhängen auszuführen, als ein Mann hinzutrat, mich abschnitt und mich in seinen Schutz nahm.

»Wer war dieser Mann?«, fragte der Doktor.

»Er nannte sich Pastor Möserich.«

»Kind«, sagte mein Retter, »was machst du hier?«

Ich sah den Mann mit großen Augen an und bezeugte große Lust, wieder davonzulaufen, weil ich ihn für einen meiner Verfolger hielt.

Als der fremde Mann meine Furcht bemerkte, sagte er, indem er meine zitternde Hand nahm, denn ich zitterte vor Hunger und Durst:  »Fürchte dich nicht, mein Kind, ich bin der alte gute Möserich, der alle Menschen und besonders die armen Kinder liebt. Wie kalt du bist, gerade wie Eis. Du gehst barfuß und dein kurzes, elendes Röckchen, es reicht ja nicht über die Knie!«

Dann fragte er mich nach meinen Familienverhältnissen. Aber ich hütete mich wohl, ihm Richtiges hierüber zu sagen, weil ich die Entdeckung meines verübten Straßenraubes fürchtete. Wir gingen der Stadt zu, während er meine Hand freundlich gefasst hielt; allein ich entriss sie ihm bald darauf wieder und floh von dannen.

Nach vielem Umherirren kam ich endlich in einem Hafen an. Ein Matrose eines einsam liegenden Schiffes trug gerade ein dampfendes Seemannsgericht über das Deck zu der Kajüte. Mein Appetit darauf, da der kräftige Geruch desselben mir in die Nase zog, war unbezähmbar. Ich ging an Bord und bat flehentlich um ein Abendessen. Der gutmütige Matrose, den ich deshalb ansprach, willfahrte mir in reichlichen Maß; ich aß nach Herzenslust.

Dann bat ich ihn, mich gänzlich auf dem Schiff zu behalten.

»Das wird der Kapitän nicht erlauben, Närrin!«, antwortete er mir, »wenn du ein Junge wärst, ja dann wohl.«

»Gib mir Jungenkleider«, sagte ich, »und ich bin es.«

»Warte«, sprach der Matrose, ging in eine Koje und brachte mir Jacke und Hosen, wonach er sagte: »Das tue an und ich will dir helfen.«

Wir traten hinter den Küchenverschlag, er streifte mir meinen erbärmlichen Plunder ab und ich warf ihn über Bord; dann zog ich die dargereichten Kleider an.

»Aber die Haare müssen herunter!«, sagte ich.

»Auch dafür ist Rat«, erwiderte er, ergriff eine Schere und stutzte durch ein paar Schnitte mein ganzes Haupthaar.

»So und hier ist der Hut!« Mit diesen Worten drückte er mir den seinen in die Augen und der Matrosenjunge war fertig.

Der Schiffskapitän, dem mein Freund und ich Vorstellung über mein Engagement machten, wollte aber von mir nichts wissen, da ich mich über gewisse Fragen nicht ausweisen konnte, und der Matrose bedauerte, für mich nun natürlich nichts weiter tun zu können.

»Im Übrigen gehen wir heute Abend schon in See«, setzte er hinzu.

Ein Gedanke schoss mir durch den Kopf.

»Willst du mir später noch einmal zu essen geben?« fragte ich.

»Sehr gern, indessen hier nimm«, sagte er, »weil du uns später nicht mehr treffen wirst.« Er schob mir ein halbes Brot und eine Menge Speck in den Arm, dann reichte er mir zum Abschied die Hand und ging ab. Ich, ohne mich weiter zu besinnen, schlüpfte durch die Luke und war im Schiffsraum, wo ich mich unter der Ladung verbarg.

An der Bewegung des Schiffes merkte ich bald, dass es in See ging. Meine Freude, dass ich der Justiz entgangen, war groß. Da ich meinen Mundvorrat bei meinem guten Appetit bald aufgezehrt hatte, so trieb mich der Hunger endlich hervor. Ich wurde vom Kapitän entdeckt und bekam zur Strafe und zum Empfang einige zwanzig Hiebe mit dem Tauende. Bald darauf, da der Matrose geplaudert hatte, entdeckte man auch mein Geschlecht. Von nun an wurde mir der Kapitän gewogener. In Ermangelung von Frauenkleidern behielt ich meinen Anzug bei.

Unsere Fahrt ging lange fort. Ich leistete aus Langerweile in der Takelage Dienste und war bei meiner Kühnheit im Klettern bald so geschickt, wie nur einer der Matrosen.

Eines Tages entdeckte ich von einem Mastkorb aus, wo ich mich in der Regel bei Tag am liebsten aufhielt, ein fremdes Schiff. Es kam gerade auf uns zu. Ich hatte dieses nicht sobald wahrgenommen, als ich dem Kapitän Mitteilung davon machte. Er betrachtete es längere Zeit durch das Fernrohr, dann sagte er:  »Jungen, setzt die Kanonen in Bereitschaft. Wir werden einen Kampf zu bestehen haben, es sind Riffpiraten, die Jagd auf uns machen. Indessen wollen wir versuchen, ihnen den Wind abzuschneiden.«

Jedoch nach Verlauf von vier Stunden hatten uns die Piraten eingeholt. Sie riefen uns durch ein Sprachrohr zu, uns zu ergeben. Wir legten jedoch nicht bei.

Die Seeräuber fingen nun mit ihren langen Röhren, die auf dem Vorderteil lagen, an, uns zu bombardieren und verfolgten uns fortwährend. Da sie gute Kanoniere waren und fast jede Kugel in unser Fahrzeug einschlug, so waren wir genötigt, uns in einen Kampf mit ihnen einzulassen. Wir wurden von ihnen überwältigt. Sie plünderten unser Schiff und da ich aus Sucht nach Abenteuern ihnen mein Geschlecht mitteilte, so nahmen sie mich zu sich an Bord.

Ich hatte den Vorzug, dass mich der Piratenanführer sofort ins Auge fasste. Da noch mehrere Frauen an Bord waren, so fand sich Garderobe für mich und ich bekam einen weiblichen Anzug. Meine Lage hatte eine andere Wendung genommen. Ich wurde mit den übrigen Frauen zugleich zu den Mahlzeiten des Anführers gezogen, welche entweder in einem Saal oder bei schönem Wetter auf dem Deck unter einem überspannten Segel stattfanden, und lebte mit dem Kapitän anfangs in jenem vertraulichen Verhältnis, wodurch er sein vollständiges Wohlwollen und seine zärtliche Zuneigung gegen mich ausdrückte. Doch dieses Feuer legte sich mit dem Reiz der Neuheit und er setzte mich in der Folge seinen anderen Damen hinten an. Ich wurde eifersüchtig. Nachdem ich alles Mögliche versucht hatte, um ihn für mich wieder zu gewinnen und ich meine Zärtlichkeit gegen ihn zurückgewiesen fand, nahm ich Rache an ihn, aber eine fürchterliche.

Wir hatten einen Anker aus Kupfer auf dem Schiff, welcher reichlich mit Oxid überzogen war. Von diesem kratzte ich von Zeit zu Zeit ungesehen, selbst in der Nacht, kleine Vorräte, welche ich in Pülverchen teilte, und wovon ich nach und nach meinem Patron in die Schokolade oder zwischen seine Getränke mischte, so oft ich konnte. Er erkrankte und bald war er hinüber. Ich half den Piratenanführer des Schiffes mit eigener Hand auf das Brett zu binden und begrub ihn mit in den Wellen.

Der Steuermann, dessen Geliebte ich bereits geworden war, übernahm das Kommando. Er erzählte mir, dass wir aus der Rückfahrt nach Afrika begriffen seien, und dass er, ein kundiger Seemann, ein geborener Spanier, sich im Dienst der Riffpiraten wohl befinde. Ich bekam bald Überdruss an dem eintönigen Seeleben, hielt einen fürchterlichen, dreitägigen Sturm mit aus, wodurch ich viele Zerstreuung hatte, erlebte es, dass wir einen Ostindienfahrer unter tapferer Gegenwehr als Prise nahmen und ausbeuteten. Endlich aber wurden wir von einem englischen Kriegsschiff, welchem wir nicht Rede stehen wollten, angegriffen. Die Riffpiraten flüchteten, da sie sich nicht stark genug fühlten, bis sie nach einer zweitägigen Fahrt in ihrem Schlupfwinkel an der afrikanischen Küste ankamen und gerettet waren. Wir stiegen an Land.

Eine bedeutende Schar dieser Küstenbewohner versammelte sich am Strand, indem sie eine feindselige Miene machten. Sie hatten als Waffen kleine Gewehre und einige leichte Feldgeschütze, welche sie am Strand aufstellten.

Da das englische Wachtschiff wahrscheinlich zum beobachten zwei Boote aussandte, die sich uns auf Flintenschussweite näherten, so erwirkte ich durch Vermittlung des Steuermanns die Erlaubnis, mich ihnen schwimmend nähern zu dürfen, stürzte in die Fluten und wurde in eins der genannten Boote aufgenommen.

Dieses englische Schiff übergab mich auf mein besonderes Bitten einem Kauffahrerschiff, welches nach Texas ging, und ich lief nach einer angemessenen Zeit in Galveston ein, von wo ich endlich nach längerem, für mich höchst langweiligen Aufenthalt Gelegenheit fand, mit einem Reisenden, der die Kosten für mich ebenfalls bestritt, die Reise zur Hauptstadt Mexiko zu machen, wo ich mich in meiner jugendlichen Unerfahrenheit so lange umhertrieb, bis ich endlich nahrungs- und geschäftslos als Vagabundin in das Beschäftigungshaus St. Bethlehem gesteckt wurde.