Heftroman der

Woche

Download-Tipp

Der Welt-Detektiv Band 6

Neueste Kommentare
Archive
Folgt uns auch auf

Die Riffpiraten – Kapitel 15

Heinrich Klaenfoth
Die Riffpiraten
Verlag Albert Jaceo, Berlin, um 1851

Kapitel 15

Der Doktor Simon sondiert seine Leute

Die Wohnung des Doktor Simon war nur sehr bescheiden. Sie bestand aus einem kleinen Entrée mit einem Fenster vorn hinaus und aus zwei höchst einfach möblierten Zimmern, die das Gepräge einer echten Junggesellenwirtschaft an sich trugen.

In dem ersten Zimmer stand ein Sofa und mehrere Stühle, ein Tisch aus Bambus und an den Wänden hingen mehrere Kupferstiche, welche die Bildnisse lebender Glieder des spanischen Königshauses vorstellten. In diesem Zimmer verweilten die sogenannten Standespersonen, welche den Doktor sprechen wollten. Von hier aus führte eine Tür in das eigentliche Studierzimmer, worin er ebenfalls Klienten empfing.

Das ganze Zimmer war mit dem unentbehrlichen Ameublement versehen, an den Wänden hingen die Bildnisse berühmter Ärzte aus allen Jahrhunderten, welche Sammlung der Doktor mit einer wahren Passion vervollständigt zu haben schien. Außer diesen Gegenständen nahm ein Regal, in welchem die Bibliothek aufgestellt war, einen großen Teil der Wand ein, daneben stand ein Schreibepult, an dessen Seiten menschliche Gerippe ausgestellt waren. Auf verschiedenen kleinen Tischen befanden sich Instrumente, welche zu chemischen und physikalischen Experimenten dienten. Die Knochen eines gesprengten menschlichen Schädels sowie die Skelette einiger kleinen Tiere, an welchen er noch kurz zuvor präpariert hatte, lagen auf einem mit einer wollenen Decke behangenen und mit einem Wachstuch belegten runden Tisch, der vor einem Kanapee stand und auf welchem der Doktor Simon saß.

Wer die Prinzessin Judith kannte und den Besitzer dieser oberflächlich beschriebenen Wohnung sah, musste die frappante Ähnlichkeit anstaunen, die diese beiden Personen miteinander hatten, obwohl der Doktor Simon jedenfalls um ein Bedeutendes älter war.

Sein Anzug bestand gegenwärtig in einem gelbgeblümten Schlafrock, der bis zum Hals zugeknöpft war.

Eine kleine Stutzuhr auf der Kommode deutete eben die neunte Stunde an, als ein Diener erschien und die Ankunft der Frau Mercurian meldete.

»Bringe mir Licht und lass die Frau hereintreten«, sagte der Doktor.

Kurze Zeit darauf trat die Händlerin mit einem zierlichen Knicks ein.

Der Doktor sagte, nachdem der Diener auf Befehl seines Herrn die Rollos heruntergelassen und sich entfernt halte:  »Guten Abend, Frauchen. Setzen Sie sich. Sie sind durch einen Herrn, der Ihnen auf der Straße begegnete, hierher eingeladen.«

»Ja«, entgegnete bescheiden die Frau, während sie sich setzte, »ich überzeuge mich aber eben, dass Sie der Herr selbst sind, der mir die Adresse gab. Sie wünschen gewiss von meinen Toilettengegenständen.«

Der Doktor warf der ebenso vorsichtigen wie schlauen Frau einen scharfen Blick zu, tat, als hätte er ihre Bemerkung nicht gehört und fuhr fort: »Ihr Ruf, Ihre Gewandtheit und besonders Ihre Verschwiegenheit haben meine Aufmerksamkeit auf Sie gelenkt, umso mehr, da Sie mir von einem meiner Freunde dringend empfohlen sind.«

»Das ist sehr schmeichelhaft für mich«, entgegnete jene. »Ich habe schon manchem gedient. Machen Sie deshalb ohne alle Sorge keine Umschweife. Mein Ruf, mein Ich spricht für mich; was wünschen Sie?«

»Ich werde Ihnen Gelegenheit geben, eine große Summe Geldes zu verdienen«, fuhr der Doktor fort, während seine Miene eisern wurde, »so groß, dass Sie für Ihre ganze Lebenszeit versorgt sind, wenn Sie mir dafür einen Gegendienst leisten. Aber wer bürgt mir für Ihre Verschwiegenheit?«

»Wie Sie eben selbst gesagt haben, mein Ruf und allenfalls ein Schwur.«

»Das sind keine Bürgschaften«, sagte der Arzt kalt. »Führen Sie den Ihnen übertragenen Auftrag pünktlich aus, so bekommen Sie auf Lebenszeit eine Pension von 50 Piastern monatlich, oder wenn Sie wollen, ein rundes Kapital von 10.000 Piastern, welche Sie an einer von Ihnen zu nennenden Bank sicher und nach Belieben erheben können.«

»Ist die Ausführung Ihres Auftrages mit Lebensgefahr verbunden?«

»Wenn Sie verschwiegen sind, ganz und gar nicht!«

»Hat er eine Tötung zum Gegenstand?«

»Eine körperliche nicht, aber eine bürgerliche, sodass das Factum, falls es zutage kommt, wiedergutzumachen, mithin minder strafbar ist«, sagte der Doktor nach einigem Bedenken. »Haben Sie nie im Leben ein Verbrechen begangen?«

»Wozu diese Frage, mein Herr?«

»Weil ich, vertrauten Sie mir ein solches Geheimnis an, Sie in Händen hätte und dieses mir gewissermaßen eine Bürgschaft sein könnte und sollte.«

»Und wer bürgt mir für Ihre Verschwiegenheit? Sie erlauben mir die Bemerkung, wer bürgt mir, dass Sie nicht ein Abgeordneter der Polizei sind?«, bemerkte Frau Mercurian nach einer Pause.

»Sie haben recht«, sagte der Doktor, »mit dem Verbrechen wäre es also nichts.«

Die Frau aber sagte schnell: »Wohl habe ich seinerzeit ein schweres Verbrechen begangen, wofür ich meine Strafe gelitten habe. Doch niemand sieht oder ahnt in mir die bestrafte Person.«

»Aber wie ist es denkbar, dass man Sie nicht wieder kennen sollte.«

»Das ist mein Geheimnis, niemand, selbst mein letzter Ehemann, der noch lebt, kennt mich«, sagte die merkwürdige Frau.

»Worin bestand die Strafe, die Sie erlitten haben?«

»Ich werde den ersten Schritt tun«, sagte Frau Mercurian, »in der Hoffnung, dass Sie mir folgen werden. Meine Strafe war die öffentliche Ausstellung an den Pranger.«

»Hm! Um welches Vergehen?«

»Ich hatte ein kleines Kind gestohlen, welches ich absichtlich verkrüppelte, um damit zu betteln.«

»Hm! Das wäre schon etwas«, sagte der Doktor nach einigem Nachdenken, »also dieses Weib ist es wirklich«, murmelte er und holte aus einer Kommode einen großen Beutel mit Geld und sagte: »Setzen Sie sich an diesen Tisch, Fran Mercurian.

Die Frau gehorchte.

Dann schüttete er einen Teil des Geldes, es waren lauter Escudos (spanische Halbpistolen) auf den Tisch, zählte fünfzig Stück vor die Händlerin hin, setzte sich dann auf seinen vorigen Platz und sagte, indem er die Frau durch seine Brille aufmerksam betrachtete:  »Diese fünfzig Goldstücke sind auf Abschlag die Ihren. Sie sehen, dass die Sache ernst ist. Es liegt nun bei Ihnen, ob Sie mir alle Fragen, die ich an Sie richten werde, wahr und ohne Rückhalt beantworten, doch so, dass Sie mir im Notfall die Aussage beweisen können. Dann werde ich Ihnen nach Maßgabe Ihrer Aufrichtigkeit immer mehr Nachzahlungen machen, und zwar jetzt, heute noch. Stecken Sie das Geld ein.«

»Ich verstehe nicht vollkommen, Herr Doktor«, sagte die Frau vorsichtig. »Dieses Geld, was Sie mir hier aufgezählt haben?«

»Ist Ihr Eigentum für die einzige Entdeckung, die Sie mir gemacht haben«, sagte der Doktor, »nehmen Sie es an sich.«

Die Frau nahm das gelbe, reizende Gold mit zitternder Hand. Eine feurige Glut schoss über ihre Wangen, das Auge leuchtete und blitzte zu dem Geldbeutel, sie stieß einen heißen, schnellen Atemzug aus und sagte dann, indem sie das Geld in eine Börse tat und diese in ihren Korb gleiten ließ: »Was wünschen Sie zu wissen?«

»Einige Momente aus Ihrem Leben. Fangen Sie mit Ihrer Kindheit an. Ich werde sodann aus einigen Skizzen Ihres Lebens ermessen, ob ich Ihnen die zugedachte Stelle anvertrauen kann oder nicht«, sagte der Arzt und fragte weiter: »Wer waren Ihre Eltern und in welchen Verhältnissen lebten Sie in Ihrer Kindheit?«

»Meinen natürlichen Vater und meine Mutter habe ich nie gekannt«, begann Frau Mercurian, »mein Pflegevater war ein alter Hospitalit in Veracruz. Er war ein großer Angler und hat mich mit seiner Angelrute aus einem Gewässer unter eigener Lebensgefahr herausgefischt, als er gerade seinem Lieblingsgeschäft oblag. Die kleine Kanaille, pflegte der gute Mann zu erzählen, kam angeschwommen wie damals Moses. Als ich meinen Fang hatte, ließ ich angeln angeln sein, wärmte das kleine Wesen wieder auf, indem ich das Kind in die warmen Sonnenstrahlen legte, warf die wenigen nassen Kleider weg, die es umgaben, knüpfte nun den Fund unter meine Weste und eilte auf die Polizei, um die Neuigkeit anzuzeigen. Dieses war, wie schon bemerkt, in Veracruz. Nun wurde ein Protokoll aufgenommen, insbesondere wie der alte Hospitalit sagte, um meine Eltern und meine Mutter auszuforschen und sie wegen der beabsichtigten Ermordung meiner zur Bestrafung zu ziehen. Das war so weit gut, doch bekam mich der alte Mann dabei nicht vom Arm, weshalb er sehr naiv fragte: »Aber was wird nun aus diesem kleinen Wurm? Ich kann das Kind Ihnen doch nicht hier hinlegen?« Woraus der Alte den Befehl erhielt, mich zum Maire zu bringen. Der Maire ließ sich auf die dringende Anmeldung, dass er ein kleines hungerndes, nacktes Kind, welches vor einigen Stunden aus dem Wasser gezogen und für welches von Polizeiwegen ein Begleitzettel beigegeben worden war – nicht sprechen, da es zurzeit seine Sprechstunde nicht sei.

Der alte Angler zog unter der größten Bestürzung wieder ab und ich weinte heftig. Er wusste nichts mit mir zu beginnen. Eine gute Frau, die eben vor einem Keller saß und ihren Säugling nährte, erbarmte sich meiner. Nachdem mein Pflegevater ihr die traurigen Umstände, unter denen er mich gefunden, benannt hatte, gab sie mir die übrige Nahrung. Er ließ sich hierauf von der Kellerfrau eine gründliche Anweisung geben, wie man ein kleines Kind zu behandeln habe, weil er einsah, dass er mich sonst nicht los werden konnte, und nahm mich vorläufig mit in sein Hospital, wo er, beiläufig gesagt, noch viel Mühe hatte, mich in seine Zelle einzuführen, weil der Aufenthalt kleiner Kinder wegen Störung der nachbarlichen Hospitaliten gegen die Statuten war. In seiner Zelle kochte er für mich und fütterte mich, wie eine umsichtige Mutter. Da die Verfügung mit allen Formalitäten seitens des Maires, trotz der Dringlichkeit der Umstände acht volle Tage dauerte, so sprach er täglich, indem er mit mir durch die Straßen ging, das Mitleid gutmütiger Mütter an, die sich dann hin und wieder entschlossen, mir die Brust zu reichen.

Ich bekam dann endlich vonseiten des Maires eine Pflegemutter, die mich aber trotz aller Aufsicht des Hospitaliten, meines großmütigen Beschützers, der mich täglich besuchte, in dem Grad verkümmern ließ, dass der alte Herr, diesen Jammer, wie er sich ausdrückte, nicht mehr mit ansehen konnte und mich endlich als ein etwa einjähriges Kind gänzlich bei sich aufnahm.

Hier lebte ich bei dem alten Mann bis zu meinem achten Lebensjahr und hatte es gut.

Der alte Hospitalit widmete mir sein ganzes Leben, hätschelte mich, wenn er nicht angeln war, und tat und gab mir alles, was ich wünschte. Bei seiner Abwesenheit, die oft ganze Tage dauerte, trieb und tummelte ich mich mit den wilden Kindern der Nachbarschaft herum, machte dumme Streiche. Wenn Klagen bei meinem Pflegevater einliefen, so lachte er jedes Mal, und wenn es sich um etwas Bedeutendes handelte, so zog er mit großer Gleichmütigkeit seinen Beutel und zahlte mit lachendem Mund, was die Leute verlangten. Geld hatte er im Überfluss und wenn mein Pflegevater mir welches gab und es nicht ausreichte, so stahl ich ihm während seines Mittagsschläfchens sehr oft ganze Summen aus seinen Taschen, um mir Naschereien zu kaufen, womit ich sodann meine Gespielen mit der größten Freigebigkeit traktierte, wenn ich nicht mehr mochte.

Dann starb mein alter braver Hospitalit. Während seines Verscheidens hatte ich seine Kasse ausgeräumt und entfloh mit einer bedeutenden Summe Geldes, weil ich mir eines Unrechts bewusst war und mich vor Verfolgungen fürchtete.

Ich hatte nämlich bereits seit einer Woche vor dieser Begebenheit eine Bekanntschaft mit einem feinen jungen Herrn, der mich im Felde getroffen hatte und sehr freundlich mit mir tat, mich küsste, mich sein kleines Mädchen nannte und versprach, mir so viel Spielsachen, wie ich nur wollte, mitzubringen, wenn ich alle Tage an einem gewissen Plätzchen außerhalb der Stadt mich mit ihm treffen und niemandem etwas von unserer Verabredung sagen wollte. Weil mir sein Umgang gefiel, so traf ich mich oft mit meinem Freund, wie er sich nannte – und …«

»Ich verstehe, verstehe!«, sagte der Doktor, der freundlicher geworden war, »nur weiter!«

»Ich floh also mit meinem Geld an den Ort, wo ich mich täglich mit meinem unbekannten Freund getroffen hatte. Er erschien auch bald. Ich entdeckte ihm meinen Diebstahl und er versprach mir, das bewusste Geld an sich zu nehmen, nahm es wirklich zu sich und ich habe ihn nie wieder gesehen.

Schon denselben Abend fiel ich der Polizei als Vagabundin in die Hände. Man gab mir ein Quartier im Gefängnis und nachdem man sich wahrscheinlich nach meinen Verhältnissen erkundigt hatte, wurde ich von dem Maire einem alten Weib zur Erziehung übergeben.

Mit der Einmischung des Maire nahmen meine Leiden ihren Anfang. Meine nunmehrige Pflegemutter war ein trunksüchtiges altes Weib und ich kam im Schmutz fast um. Ich bekam eine elende Kost, Brot und Wasser und dies nicht immer, musste auf einem Strohsack unter dem Ziegeldach liegen und bekam, je nachdem die Alte bei guter Laune war, nur ihren Unterrock als Decke und oft auch nicht. Die Kleidungsstücke, die für mich von dem Maire geliefert wurden, verkaufte und vertrank das Weib. Ich ging in ekelhaften Kleidern umher.

Oft, wenn ich wohlgekleidete Kinder sah, wandelte mich die Lust an, sie niederzureißen, ihnen die Kleider vom Leib zu zerren und sie mir anzuziehen, ein unendliches Vergnügen wähnte ich im Besitz hübscher Kleider. Ich schwor in mir, glühende Rache an den Kindern wohlhabender Leute zu nehmen und habe sie auch später ausgeführt. Verschiedene Male entfloh ich der Alten, wurde jedes Mal aufgegriffen und kam vor die Zuchtpolizei. Der Maire referierte über mich, lachte über meine Klagen, ich wurde ausgehauen und meiner Pflegemutter wieder übergeben, ohne dass mein beklagenswerter Zustand untersucht wurde und ohne dem Übel abzuhelfen.«

»Gingen Sie nicht in die Schule?«, fragte der Arzt.

»Nie«, sagte Frau Mercurian, »ich war fünfundzwanzig Jahre alt, als ich die Buchstaben lernte.«

»Das ist unwahrscheinlich, weil seit langer Zeit die schulpflichtigen Kinder in Veracruz kontrolliert werden, wie ich kürzlich gelesen habe.«

»Erlauben Sie, bester Herr, hören Sie nur, wie meine Pflegemutter es machte. Sie gab mich für blödsinnig aus, für unfähig, irgendeine Lehranstalt zu besuchen.«

»Aber der Arzt?«, fragte Simon.

»Eines Tages kam der Arzt, mich zu untersuchen. Die sonst immer stark betrunkene Alte, die davon in Kenntnis gesetzt zu sein schien, war an diesem Tag nüchtern geblieben und sagte vorher zu mir: »Siehe, Mädchen, wie gut ich dir bin, nun pass auf. Ich werde dir einmal etwas zurechtmachen und dann sollst du deine Freude haben.« Dann ging sie vor eine alte Servante und brachte mir einen Teller mit einer Flüssigkeit und einen Löffel dazu. » Siehst du, mein Kind«, fuhr sie fort, »dies ist ein feines Gericht, was nur ganz, ganz vornehme Leute essen können. Koste einmal und dann iss nach Herzenslust.« Was meinen Sie, lieber Herr, das Gericht war nichts mehr und nichts weniger, als Branntwein von der gemeinsten Sorte mit Zucker versüßt. Mir schmeckte das Gericht vortrefflich. Ich aß unter Liebkosungen der alten Frau, bis ich betrunken in ihre Arme sank. Dann warf sie mich in meine Dachkammer.

Bald darauf trat der Arzt ein, meine Pflegemutter stellte mich ihm vor, ich konnte kaum auf den Beinen stehen und gab auf seine Fragen Antworten, wie eine Wahnsinnige.

»Ist sie immer so?«, fragte der Arzt.

Meine Pflegemutter antwortete:  »Nicht immer, Herr Medicus, aber einige Mal den Tag über bekommt sie solche Anfälle.«

»Aber sie riecht nach Branntwein.«

»Möglich, Herr«, erwiderte meine Pflegemutter, »dass das Kind aus meinem Fläschchen genascht hat, denn nach Branntwein ist sie außerordentlich begierig. «

»Doch wie kommt sie zu dem Branntwein?«, fragte der Arzt.

»Ich muss mir leider einen kleinen Vorrat halten, um mir meinen lahmen Arm damit von Zeit zu Zeit zu waschen«, antwortete die Alte.

»Ja«, sagte der Arzt, »sie ist vollständig blödsinnig, Sie sollen überdies Ihre nachgesuchte Zulage haben.« Mit diesen Worten verschwand er.

»Ich wollte etwas sagen, die Alte anklagen; aber meine Pflegemutter drohte mir mit der geballten Faust und warf mir einen Blick zu, dass mir das Blut erstarrte.«

»Wie lange blieben Sie bei Ihrer Pflegemutter?«, fragte der Doktor Simon.

»Bis in mein sechzehntes Jahr, wie ich später ausgerechnet habe.«

»Und welches waren die Veranlassungen Ihrer Trennung von dieser Frau?«

»Ich habe Ihnen schon erzählt, dass sie mich auf aller unbarmherzige Weise bei fast jeder Gelegenheit prügelte und mich mit Füßen stieß. In dem Maß, wie ich an Alter zunahm, nahmen auch meine Kräfte zu, und das alte Weib ersann eine List, mich zu bändigen. Sie ließ mir nämlich von einem alten, dem Trank ergebenen Pferdedoktor ein Haarseil an den Hals legen. Da ich mich der Schmerzen wegen bei dieser Operation sträubte, so stopfte man mir ein Tuch in den Mund. Die Alte lag mir auf den Füßen und hielt mir die Arme, der Operateur saß auf meiner Brust und so wurde denn seine Kunst unter fürchterlichen Schmerzen ausgeführt. Der durchgezogene wollene Faden war vollständig zu einem Henkel zusammengeschürzt und die Entzündung mittelst einer ätzenden Flüssigkeit stets und sorgfältig unterhalten.

In diesen Henkel griff sodann die alte betrunkene Frau, wenn sie mich züchtigen wollte, und ich war wegen der ungeheuren Schmerzen, die sie mir hierdurch verursachte, nicht mehr imstande, mich gegen sie aufzulehnen, sondern tat alles unter der größten Angst, was sie mir hieß.

Der Nutzen, den sie durch mich hatte, war wirklich nicht unbedeutend, weil man mir aus Mitleid wegen meiner Wunde manchen Vorteil zufließen ließ oder mir oft geradewegs Almosen gab, und alles, was ich gewann, brachte ich der Alten, damit sie sich nur zufrieden gab.

Das ertrug ich gegen sechs Monate. Dann kam ich zu dem Entschluss, mich dieser Last zu entledigen. Ich schnitt den wollenen Faden durch, zog ihn aus der Hohlwunde und warf ihn von mir.

Auf diese Weise ohne Zaum und Gebiss, trat ich triumphierend bei meiner Pflegemutter eines Tages ein, indem ich mich auf meine eigene Körperkraft, deren ich mir bewusst war, verließ.

»Gib das Geld her«, kreischte mir die Alte nach einer Weile zu.

»Ich habe nichts für Sie!«, war meine Antwort.

»Willst du nicht täglich, stündlich essen?«, fragte sie.

»Mir ekelt vor Ihrem Brot und Wasser.«

»Verstehst du schon von Ekel zu reden?

»Gerade verstehe ich das!«, rief ich.

Dies war das Signal zum Angriff. Die Alte fuhr mir an den Hals, ihren gewohnten Griff. Ich lachte sie aus. Wir rangen zusammen, die Alte wurde so giftig, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Bei diesem Balgen griff sie mir in die Augen und in den Mund. Ich fühlte einen Finger zwischen meinen Zähnen, ein Druck meiner kräftigen Kinnlade – ab war er!

»Lass nach, lass nach, mein Herzchen«, erinnerte sie, »Du hast mich arg gebissen.« Ich ließ nach, sie griff nach einem Beil, das zufällig in der Nähe stand und ich entfloh aus der Tür, in diesem Augenblick traf mich ein Schlag ins Genick, dass ich betäubt auf den Flur stürzte.

Zu meinem Glück, sonst wäre ich ermordet worden, nahmen sich die Nachbarn meiner an und gegen die Wut der Alten in Schutz.

Nachdem ich zu mir gekommen war, verfügte ich mich auf den wohl meinenden Rat dieser Leute zum Maire.

Ich traf zuerst das Dienstmädchen dieses Mannes. Ich klagte ihr auf meine Weise mit beredten Worten meine Not. Das Mädchen maß mich von unten bis oben mit misstrauischem Blick.

»Was willst du denn?«, fragte dasselbe.

»Ich will den Herrn Maire sprechen, um von meiner Pflegemutter fortzukommen«, sagte ich.

»Der Herr wird sich von dir nicht sprechen lassen«, sagte das Mädchen.

»Lass nur gut sein«, hörte ich durch die Tür den Maire sagen, »das ist das blödsinnige Mädchen.«

Mit diesen Worten öffnete der Mann seine Stubentür und sagte: »Warte, Kanaille, willst du gleich fort!«

Zugleich fiel sein Hund über mich her, biss mich und indem sein Herr ihn anhetzte, trieb der Mann mich aus seinem Haus hinaus.

Ich trug einen alten zerrissenen Rock, ein durch den heftigen Kampf mit meiner Pflegemutter ganz von den Schultern gerissenes Hemd, und beide waren voller Schmutz. Dann hing mir ein großer Wald von durch Sonne und Luft verblichenen Haaren um den Kopf, mein Gesicht war blutrünstig. Die Augen waren braun und blau geschlagen und am Hals hatte ich eine frisch blutende Wunde, welche mir der Hund gebissen hatte. Ich ging barfuß, bis an die Knie reichte mein armseliger Rock nur.

Ich verfluchte den Maire und schwor, Rache an der ganzen Menschheit zu nehmen, und habe es in meiner Weise redlich getan.

Unter einer Begleitung von mehreren Menschen und besonders von Straßenbuben, die mich mit Hohn und Spott verfolgten, ging ich zum nächsten Brunnen, wusch meine Wunden und lief dann, um meine lästige Begleitung los zu werden, schnell, denn ich war ein kräftiges, rüstiges Mädchen, aus einem Tor hinaus und gelangte so aufs freie Feld.«

Die Frau hielt einen Moment inne.

»Von nun an verließen Sie Ihre Pflegemutter?«, fragte der Doktor.

»Jetzt verließ ich sie aus reiner Furcht vor ihren mörderischen Angriffen«, fuhr die Frau fort. »Ich schlief zwei Nächte in einem Graben im Feld und ging am Tage in die Stadt, um für das wenige Geld, was ich der alten Frau nicht gegeben hatte, etwas Brot zu kaufen; mein Geld war sehr bald aufgezehrt. Gegen Abend des dritten Tages begegnete mir auf meinem Feldweg ein Mädchen, es war wahrscheinlich in der Stadt in der Schule gewesen. Das Mädchen war etwa von meinem Alter, und gut gekleidet. Eine unnennbare Lust nach dem Besitz ihrer Kleidungsstücke wandelte mich an. Ich brauchte Gewalt und beraubte sie. In Todesangst gab sie mir alles, was ich haben wollte.

Das ersehnte Tuch, ihren Hut, Schuhe und Strümpfe; dann ließ ich die Beraubte laufen.

Der Doktor Simon machte ein freundliches Gesicht und sagte:

»Sind Sie für diese Tat bestraft worden?«

»Nein!«

»Wie alt waren Sie damals?«

»Wie gesagt, im sechzehnten Jahr.«

»Hm! Fahren Sie fort.«

»Mein Wonnegefühl bei der Todesangst dieses Kindes wohlhabender Eltern war unbeschreiblich. Ich eilte mit meiner Beute eine ziemliche Strecke davon; dann ließ ich mich in einer Vertiefung nieder, um die geraubten Sachen anzulegen.

Zuerst nahm ich das Tuch um. Ach, dieses behagliche Gefühl! Wie sind doch die Reichen so glücklich, dachte ich. Hätte ich einen Spiegel gehabt, ich hätte mich stundenlang beschaut; ein solches Verlangen hatte ich, mich zu sehen.

Dann wurde Toilette gemacht und der Hut aufgesetzt, ich hatte noch in meinem Leben keinen Hut auf dem Kopf gehabt und endlich ging es an die Strümpfe und Schuhe.

Ich war im Ganzen zu unaufmerksam und zu sorglos gewesen. Statt mit meinem Raub, was die Klugheit gebot, so weit wie möglich fortzugehen, blieb ich der Nähe meiner Tat.

Zwei Männer, die in verschiedenen Richtungen herbeikamen, sahen und verfolgten mich, und zwar infolge der Anzeige des beraubten Mädchens.

Ich ließ alles liegen, warf Hut und Tuch von mir, floh in großer Schnelligkeit und entkam, von der allmählich eintretenden Finsternis so begünstigt, meinen Verfolgern dadurch, dass ich ein kleines Gehölz erreichte, in dem ich mich verbarg. Am anderen Tag gegen Abend wagte ich mich endlich hervor, mein Hunger war unbeschreiblich. Meine Lage in Anbetracht des vollführten Straßenraubes und der Furcht vor einem Ergreifen der Polizei war zum Verzweifeln. Ich verzweifelte wirklich!«