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Im Zauberbann des Harzgebirges – Teil 50

Im Zauberbann des Harzgebirges
Sagen und Geschichten, gesammelt von Marie Kutschmann

Mägdesprung

Auf den Bergen und in den Felsen hausten die Riesen. So erzählt die Sage von diesen mächtigen Gesellen, die von den Menschen ihrer Größe und Kraft halber gefürchtet, aber auch wieder geschätzt wurden, weil sie die Erde von Drachen, Lindwürmern und allerlei Ungetümen säuberten. Manche seltsame Steinbildung, die, einer menschlichen Gestalt ähnlich, aus den Tropfstein- oder Granitfelsen hervorragt, erklärt die Sage für versteinerte Riesen; denn ihrer ganzen Natur nach hängen sie mit dem Steinreich zusammen. Sie sind entweder belebte Steinmassen oder versteinerte, früher lebendige Geschöpfe. Steine und Felsen sind auch des Riesengeschlechtes Waffen. Sie schwingen Steinkeulen, keine Schwerter, und schirmen sich mit steinernen Schilden. Auch schnitt kein Eisenschwert auf die Riefen ein. Nur mit dem Schwertknauf oder mit der Faust konnten sie erschlagen werden.

Mächtige Felsburgen wurden von dem Riesengeschlecht errichtet, und noch heute werden große Hügel als Riesengräber oder als Hünenbetten bezeichnet. Mit Leichtigkeit warfen sie ganze Felsblöcke meilenweit ins Land hinein oder auch ins Meer, aus dem dieselben als riesige Klippen oder Inseln hervortauchen. Auch scheuten sie sich nicht, Dörfer oder Täler zu überspringen, und sie taten dies mit solcher Wucht, dass die Spuren ihrer Füße sich in das harte Gestein drückten.

Von einem solchen Sprung erzählt uns auch ein Ort im Harz, wo auf hohem, felsigem Berg zwei Vertiefungen eingegraben sind, welche Ähnlichkeit mit der Form riesiger Fußstapfen haben. Das ist die Magdtrappe, und der Berg, worauf sich diese befindet, sowie der am Fuße desselben liegende Ort werden danach Mägdesprung genannt.

Als auf den Bergen des Harzes noch die mächtigen Riesenburgen zum Himmel aufragten, war dort, wo heute Güntersberge liegt, ein Steinschloss, das von einer Riesenjungfrau bewohnt wurde. Täglich wanderte diese in

den Wäldern umher und traf dann oft mit ihrer Freundin zusammen, die am Thüringer Wald lebte und mit ihren Riesenschritten dem Riesenfräulein im Harz entgegenkam. Einstmals hatte diese lange nach der Freundin ausgespäht, ohne sie zu treffen, und war schon auf dem Heimweg begriffen, als sie plötzlich den Ruf der Freundin vernahm. Gern wäre die Jungfrau zu ihr geeilt, aber das Selketal trennte die beiden, und der Berg, auf dem das Fräulein stand, war zu steil, um hinabklimmen zu können. Aber die Riesenjungfrau aus Thüringen drang in die Gespielin, doch herüberzukommen, da sie ihr eine wichtige Mitteilung zu machen habe und nach dem weiten Weg, den sie zurückgelegt hatte, zu ermüdet sei, um selbst den Sprung machen zu können.

Die Neugier erwachte im Herzen der Riesin. Sie wollte hinüber; dennoch wagte sie nicht, das Tal zu überspringen. Vielmehr schaute sie umher, um eine minder gefährliche Stelle zum Hinabklimmen zu finden. Da hörte sie plötzlich eine Stimme hinter sich.

»Haha, sie ist so groß und hat doch Furcht, hinüberzuspringen!«

Diese Rede verdross die Riesin; sie sah sich um und gewahrte hinter sich ein Bäuerlein, das soeben mit seinem holzbeladenen Wagen den Berg heraufgekommen war und lachend hinter ihr stand.

Aber ehe er es gedacht hatte, nahm die beleidigte Riesin ihr Obergewand auf, erfasste den Bauern mitsamt seinem Wagen und den Pferden, tat die ganze Bescherung hinein und sprang dann mit einem riesigen Satz über das Selketal hinüber.

Hier setzte sie den höchst erschrockenen Bauern auf den Boden. Die ganze Wagenladung war durcheinander geschüttelt, ihm selbst Arme und Beine tüchtig gequetscht, und das Schlimmste war, dass er nicht wusste, auf welche Weise er wieder den anderen Talrand erreichen sollte.

Die Riesenjungfrau ging hohnlachend mit ihrer Freundin weiter. Ihre Fußstapfen aber hatten sich bei dem weiten Sprung so tief in den Felsen gedrückt, dass sie noch heute zu sehen sind.