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Der Welt-Detektiv Band 6

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Nick Carter – Carruthers, der Verbrecherkönig – Kapitel 1

Nick Carter
Carruthers, der Verbrecherkönig
oder: Lebendig begraben
Kapitel 1

Im Polizeipalast in der Mulberry Street

Im Privatzimmer des Chefs der New Yorker Kriminalpolizei, Inspektor McClusky, saß dieser in einem eifrigen Geplauder mit dem berühmten Detektiv Nick Carter, der sein intimer Freund war und dessen Beistandes er sich in all den schwierigen Fällen zu bedienen pflegte, wo es weder seinem eigenen Scharfsinn noch demjenigen seiner gewieftesten Beamten gelungen war, die Fährte irgendeines Kapitelverbrechers ausfindig zu machen, zumal die Verbrecherwelt der Hudsonmetropole nicht nur überaus zahlreich ist, sondern sich auch aus den gefährlichsten Elementen des ganzen Erdkreises zusammensetzt. Da ist fast keine Nation der Erde, welche nicht der zweitgrößten Stadt der Welt ihren Tribut durch Entsendung eines Bruchteils ihrer Bevölkerung entrichtete; in der Regel sind es aber nicht gerade die besten Elemente, welche sich auf diese Weise in New York einbürgern, sondern zumeist handelt es sich um schiffbrüchige Existenzen, welche in dem gerade hier doppelt aufreibenden und schwierigen Kampf ums Dasein bald den letzten sittlichen Halt verlieren, straucheln, sinken und zuletzt jener internationalen Verbrecherwelt zugezählt werden müssen, mit der die Polizei in unaufhörlichem Kampfe liegt.

Auch heute wieder war Inspektor McClusky mit seinem Latein zu Ende, wie er mit verdrießlicher Miene eingestand. Es handelte sich um eine Sache, an welcher auch die scharfsinnigsten und erfahrensten Beamten ihren Witz vergeblich versucht hatten.

Nicht ganz zwei Wochen zuvor hatte Nick Carter die Entlarvung eines Bankpräsidenten herbeigeführt. Dieser, Isaak Meadows mit Namen, der einer wohlhabenden Familie entstammte, war schon von frühester Jugend an ein Taugenichts gewesen. Nachdem er in seiner Vaterstadt San Francisco eines Bankraubes wegen fünf Jahre Zuchthaus hätte verbüßen müssen, hatte er sich nach Europa gewendet und dort unter dem Decknamen Bob Morgan mit einer Anzahl verbrecherischer Gesinnungsgenossen in den verschiedenen Großstädten Bankeinbrüche verübt. Die Kunde vom Tod seines Vaters und das dadurch an ihn gefallene große Erbe hatte Isaak Meadows anscheinend gebessert. Er hatte heimlich seine Kumpane verlassen, war nach New York gekommen. Hier war es ihm durch seinen Reichtum möglich geworden, einige andere Kapitalisten für die Gründung der Midland National Bank zu interessieren. Er war schließlich deren Präsident geworden. Alles wäre gut gegangen, hätten ihn nicht seine alten Kumpane aufgespürt und gebrandschatzt. Da waren in Meadows die verbrecherischen Instinkte wieder erwacht, und er hatte den kühnen Plan gefasst, aus seiner eigenen Bank 350.000 Dollar in Gold und Banknoten stehlen zu lassen, damit seine Bedränger abzufinden und sich dieser für alle Zeit zu entledigen. Sicherlich wäre der verbrecherische Anschlag, der bereits erfolgreich durchgeführt worden war, niemals entdeckt worden, hätte nicht Nick Carters Scharfsinn die fein gewobenen Fäden des mit größtem Raffinement ersonnenen Komplottes mit Leichtigkeit entwirrt und noch in vorgerückter Abendstunde desselben Tages, an welchem der fingierte Einbruch geschehen war, die Schuldigen zur Strecke gebracht.

Isaak Meadows war von Inspektor McClusky verhaftet und sofort in einer Zelle des Polizeihauptquartiers eingesperrt worden.

Als indessen der Verhaftete am nächsten Morgen zum Verhör vorgeführt werden sollte, stellte es sich heraus, dass er aus dem gut bewachten Gefängnis entflohen war. Mehr noch! Zwei Wärter wurden gleichfalls vermisst, und es war nur zu wahrscheinlich, dass sie, von dem Bankpräsidenten bestochen, diesem zur Flucht verhalfen.

Mit eiserner Stirn hatte Meadows in früher Morgenstunde seine Schritte zur Midland National Band gelenkt, und dort war ihm die Tür natürlich ohne Weiteres von dem Angestellten geöffnet worden. Isaak Meadows, der sich darauf verlassen hatte, dass die Kunde von seiner Verhaftung noch nicht verbreitet sei, hatte sich in dieser Annahme nicht getäuscht. Er hatte nicht nur sein persönliches Eigentum aus dem in seinem Privatoffice stehenden Tresor entnehmen, sondern weitere 55.000 Dollar Bankgelder an sich nehmen und sein unbemerktes Entkommen bewerkstelligen können.

Diese unerhört freche Tat hatte die ganze Kriminalpolizei New Yorks auf die Fährte des Flüchtigen gesetzt, doch bisher ohne allen Erfolg. Isaak Meadows war und blieb wie von der Erdoberfläche verschwunden, obwohl gar nicht daran zu zweifeln war, dass er sich nach wie vor in New York aufhielt.

»Also, mein lieber Inspektor«, meinte Nick Carter eben nachdenklich, indem er sich im Sessel zurücklehnte, »alles, was ihr bisher herausbekommen habt, wurzelt in der Vermutung, dass ein gewisser Morris Carruthers die beiden Gefängniswärter bestochen und so dem sauberen Bankpräsidenten das Entkommen ermöglicht hat … und deine Leute schließen auch aus dem Umstand, dass ein bei dem Einbruch in die Midland National Bank Beteiligter von Meadows mit Morris angeredet wurde, auf die Beteiligung des Carruthers an dem besagten Verbrechen. Ebenso nehmen sie an, dass Morris Carruthers um den jetzigen Aufenthaltsort des so sehnlich gesuchten Isaak Meadows, alias Bob Morgan, weiß.«

»Das ist ganz sicher«, warf Inspektor McClusky ein. »Ich habe darum Paul Lafont auf die Fährte dieses Carruthers angesetzt.«

»Hm«, machte der Detektiv, indem er seiner Zigarre nachdenklich einige Züge entlockte. »Du hältst Lafont für den fähigsten Mann unter deinen Beamten?«

»Zweifellos!«, bestätigte der Inspektor, der mit umwölkter Stirn dasaß.

»Well, auch ich schätze Paul Lafont hoch – wenn ich dir auch freimütig sage, mein lieber George, dass ich diesen aalglatten Carruthers, der im Verdacht aller möglichen Verbrechen steht und doch noch nicht der geringsten Gesetzesübertretung überführt werden konnte, für einen Patron halte, der all deine Leute, Lafont mit eingeschlossen, überlistet … was hat denn Lafont inzwischen ausgerichtet? Er observiert ihn wohl schon über eine Woche?«

»Heute ist der zehnte Tag!«, brummte der Inspektor missvergnügt, nachdem er einen Blick in seinen Taschenkalender getan hatte.

»Und was hat Lafont ausgerichtet?«, fragte der Detektiv mit einem Lächeln.

»Nichts!«, versetzte der Inspektor misslaunig, mit der flachen Hand auf die Schreibtischplatte schlagend. »Alles, was wir wissen, ist, dass sich Carruthers jeden Nachmittag zu einer bestimmten Stunde zu einem an der Boston Road im Vorort Bronx gelegenen Haus begibt, dort eine bestimmte Zeit verweilt und sich dann wieder mit der Pünktlichkeit eines Uhrwerks zum vornehmen Hotel Garni Undine am oberen Broadway zurückbegibt, wo er ein kostspieliges Junggesellenquartier bewohnt.«

»Kurzum, er führt ein musterhaftes Leben!«, warf der Detektiv trocken ein. »Bei dem Mann, wie Carruthers einer ist, lässt das mit Bestimmtheit darauf schließen, dass er sich durch die Polizei beobachtet weiß und demzufolge seine Maßnahmen einrichtet.«

»Lafont ist es aufgefallen, dass er immer mit den Händen frei schlenkert, wenn er sich dem Haus in der Bronx nähert, und dass er die Hände beim Verlassen des Hauses tief in den Rocktaschen vergraben trägt.«

Nick Carter lachte kurz auf. »Die alte Wahrnehmung, welche man vor jedem Bankgeschäft machen kann. Leute, die Geld hinbringen, halten die Hand in der Tasche, wenn sie hineingehen, und beim Verlassen schlenkern sie mit den Armen, während Leute, die Geld holen wollen, es gerade umgekehrt machen …«

»Ein Zeichen also, dass dieser Carruthers irgendwelche Sachen aus dem Hause holt, welches sein Eigentum ist.«

»Mein lieber George, du vergisst ganz, dass dieser Carruthers der gewiefteste Galgenstrick in diesem gesegneten Land und mindestens so durchtrieben ist wie einer von uns!«, warf der große Detektiv lächelnd ein. »Mit anderen Worten, Carruthers hat dieselben Wahrnehmungen wie wir gemacht. Selbstredend macht er es nun umgekehrt, schlenkert mit den Armen, wenn er die Taschen voll hat, und lässt in diesen die Hände stecken, wenn nichts darin ist – er bringt also etwas in das Haus hinein!«, setzte er mit erhobener Stimme hinzu. »Und was sollte dies anderes sein als Nahrungsmittel für seinen Freund Isaak Meadows, der sich in dem Haus verborgen hält.«

Der Inspektor schüttelte mit dem Kopf. »Deinen Scharfsinn in Ehren, mein lieber Nick!«, meinte er gedehnt. »Doch ich habe von unserem Handwerk immerhin auch eine gewisse Ahnung und habe das Haus persönlich am hellen Tag mit meinen erfahrensten Leuten vom Keller bis zum Dach durchsucht, ohne auch nur das Geringste entdecken zu können – in dem Gebäude befindet sich kaum eine Maus, geschweige denn eine solch gewichtige Persönlichkeit wie dieser verflossene Bankpräsident!«

»Hm, das entspricht nur meiner Auffassung von Carruthers Verschlagenheit!«

»Ich bin anderer Meinung! Fast will es mir so erscheinen, als hätten wir jemanden observiert, der sich zwar ein Vergnügen daraus macht, unsere Geheimen an der Nase herumzuführen, in Wirklichkeit aber gar nichts zu verbergen hat!«

Der Detektiv schüttelte mit dem Kopf. »Lehre mich diesen Carruthers nicht kennen! Er ist ein mindestens ebenso gefährlicher Halunke wie sein Bruder Livingstone … Du erinnerst dich wohl noch, dieser war der gefährlichste und erfolgreichste Schmuggler von Goldwaren und Diamanten über die kanadische Grenze, und er schädigte die Regierung der Vereinigten Staaten um viele Hunderttausende, bis man mich endlich auf seine Spur hetzte … damals stand ich hundertmal in Lebensgefahr … und dass schließlich dieser Verbrecher statt meiner ins Gras beißen musste, lag nur an einer Viertelsekunde, die meine Rechte weniger brauchte, um einen Revolver abzufeuern … doch das ist augenblicklich nebensächlich, denn hier haben wir es mit dem Bruder zu tun … und dieser Morris, der schon der vertraute Freund von Isaak Meadows gewesen, als dieser noch Präsident der Midland National Bank war, hat die Hand im Spiel – er und nur er hält Isaak Meadows versteckt und bringt ihm täglich Nahrungsmittel!«

»Wenn ich dir aber sage, dass ich mit Lafont, McGuire, Sharp und Mullen persönlich jeden Winkel im Haus abgesucht und nichts entdeckt habe …«

»So wird mich dies mit deiner gütigen Erlaubnis nur dazu anspornen, diesem rätselhaften Haus heute Nacht gleichfalls einen Besuch abzustatten!«, fiel Nick Carter lächelnd ein. »Wer weiß, ob ich nicht doch etwas entdecke … Meadows muss ja nicht im Haus selbst stecken … aber der Weg zu seinem Versteck geht durch jenes Haus, dabei bleibe ich!«

Inspektor McClusky schaute den Freund überrascht an. »Holla, das ist mal wieder eine echt Nick Cartersche Idee!«, warf er ein. »Er steckt nicht im Haus, doch der Weg zum Versteck führt durch das Haus!« Er lachte etwas gezwungen auf, denn bei aller neidlosen Anerkennung der genialen Veranlagung seines berühmten Freundes wurmte es den tüchtigen Beamten immerhin, dass dieser ihm in allem überlegen war und anscheinend mühelos, spielend vollbrachte, was er selbst mit dem Aufgebot seines ganzen Scharfsinnes nicht zu erreichen vermochte.

»Ich wünschte dir jedenfalls Glück und bin auf deine Entdeckungen wirklich begierig!«, meinte McClusky schließlich.

»Abgemacht also, ich nehme die Sache in die Hand«, entschied Nick Carter. »Doch nur unter der Bedingung, dass du deine eigenen Leute von der Fährte zurückziehst …«

»Warum das?«, meinte der Inspektor erstaunt.

»Weil ich bei Carruthers den Eindruck hervorzurufen wünsche, als sei es mit der ›Observierung‹ zu Ende«, fiel Nick Carter im Ton großer Bestimmtheit ein. »Also nochmals, du rufst deine Leute ab und überträgst ihnen ungesäumt andere Aufgaben, sodass Morris Carruthers, der seine Wächter zweifellos gleichfalls im Auge behält, zu der Überzeugung gelangt, dass das Hauptquartier endgültig die Streife hinter ihm als eine verlorene aufgegeben hat. Selbstverständlich werde dafür ich unermüdlich hinter ihm her sein und nicht rasten, bis ich ihn zur Strecke gebracht haben werde … Ihr vom Hauptquartier könnt dann Halali blasen!«

Er lachte belustigt, als er die grimmige Miene seines sonst so jovialen Freundes sah.

»Well, es soll nach deinem Willen geschehen, Nick!«, versetzt der Inspektor. »Aber eins muss ich dir sagen … ich weiß nicht, über was ich mich mehr ärgern soll … über diese waghalsige Flucht des verflossenen Bankpräsidenten, über die kolossale Frechheit dieses Carruthers, der uns nun schon seit Jahr und Tag an der Nase herumführt und überhaupt nicht angreifbar erscheint, oder über dein Selbstbewusstsein, mit welchem du erklärtest, eine Sache, an der sich das ganze Hauptquartier die Zähne ausgebissen hat, ohne jegliche Beihilfe lösen zu wollen …«

»Hand aufs Herz, George … das ist nicht zum ersten Mal … ich denke, wir kennen uns!«

»Ja, ich glaube aber auch, diesen Carruthers zu kennen!«, fiel der Inspektor brummig ein. »Ich habe so eine Ahnung, als ob mein genialer Freund Nick Carter da mit einem ebenbürtigen Gegner zusammentrifft, und es würde mich nicht wundern, sollte bei dieser Gelegenheit die Sache einmal ganz anders ausgehen, als wir vermuten.«

Nick lachte gutmütig dazu und schlug dem Freund scherzend auf die Schulter. »Gib der Wahrheit die Ehre, George, es würde dich sogar herzlich freuen, bleibt doch des Menschen reine Freude die Schadenfreude … aber ich will dir was sagen, ein Teil meiner Erfolge liegt in dem Umstand begründet, dass ich nie etwas unternehme, was ich nicht zum glücklichen Ende führen kann … wie gerade diese Geschichte. Es reizt mich, den Kampf mit einem Menschen aufzunehmen, den ich wegen seiner Verschlagenheit, List und Gewandtheit als den Verbrecherkönig bezeichnen möchte … mit ihm all meine Kräfte und Fähigkeiten zu messen, mich überlisten zu lassen und dann wieder ihn zu überlisten, bis ich ihn schließlich, all seiner Ränke und Schwänke ungeachtet, doch zur Strecke bringe, das ist mir Lust und Freude. Es ist das Spielen mit der Gefahr, das ich zu meinem Wohlbefinden benötige wie der Fisch das Wasser!«

Trotz seines Ärgers musste Inspektor McClusky bewundernd zu dem Freund aufschauen.

»Weiß der Himmel, ich bin froh, dass wir dich haben, Nick!«, versetzte er. »Fängt einer diesem Carruthers den Wind ab, so bist du es … also abgemacht!« Sie wechselten einen Händedruck, und dann erkundigte sich der Inspektor, wann Nick zu beginnen gedachte.

»Sobald du deinen Lafont abberufen haben wirst. Er wird sich jedenfalls telefonisch bei dir melden, dann befiehl ihm, sofort nach dem Hauptquartier zurückzukehren, gib ihm etwas anderes zu tun – und überlasse die ganze Geschichte ruhig mir allein!«

»Du kannst Lafont schon als abberufen betrachten«, erklärte der Inspektor. »Nach deinem Wunsch soll es geschehen … weder ich noch meine Leute werden uns um diesen Carruthers bekümmern, und wenn wir über ihn stolpern müssten!«

Nick lachte. »So bequem macht er es euch schon nicht. Was mich anbetrifft, so werde ich heute Abend bereits seine Fährte aufnehmen und nicht von dieser lassen, bevor ich diesen Carruthers und seinen Schützling Meadows zur Strecke gebracht haben werde … gelingt es mir nicht, mein lieber George, so magst du mich ein altes Waschweib nennen, und ich verlasse einen Beruf, in dem ich doch nur Stümper sein konnte.« Er lachte kurz auf. »Ich habe schon eine gewisse Ahnung, als ob mich die ganze Angelegenheit gar nicht so lang in Anspruch nehmen würde … well, sagen wir bis morgen früh, es ist leicht möglich, dass ich dir dann Bericht erstatten werde – und nun good bye

Ein letzter Händedruck wurde ausgetauscht, und dann trennten sich die Freunde.