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Der Welt-Detektiv Band 6

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Die drei Musketiere 66

Alexander Dumas d. Ä.
Die drei Musketiere
7. bis 10. Bändchen
Historischer Roman, aus dem Französischen von August Zoller, Stuttgart 1844, überarbeitet nach der neuen deutschen Rechtschreibung

XXXIII.

Die Hinrichtung

Es war um die Mitternachtsstunde. Der in seiner Abnahme sichelförmige und durch die letzten Spuren des Gewitters blutig gefärbte Mond ging hinter dem Dorf Armentières auf, das in seinem bleichen Schimmer die düstere Silhouette seiner Häuser und das Skelett seines hohen, durchbrochenen Glockenturms hervorhob. Vorn wälzte die Lys, einem Fluss von geschmolzenem Zinn ähnlich, ihre Wasser, während man auf dem anderen Ufer das Profil einer schwarzen Masse von Bäumen auf einem stürmischen Himmel erblickte, dessen dicke, kupferrote Wolken mitten in der Nacht eine Art von Dämmerung hervorriefen. Zur Linken erhob sich eine alte verlassene Mühle mit unbeweglichen Flügeln, in deren Trümmern von Zeit zu Zeit eine Nachteule ihr monotones, schrilles Geschrei hören ließ. Da und dort erschienen in der Ebene rechts und links vom Weg, auf dem sich der traurige Zug bewegte, niedrige, untersetzte Bäume, welche wie missgestaltete Zwerge aussahen, die sich niedergekauert hätten, um in dieser finsteren Stunde Menschen aufzulauern.

Zuweilen öffnete ein mächtiger Blitz den Horizont in seiner ganzen Breite, schlängelte sich über die schwarze Masse der Bäume hin und trennte, wie ein furchtbarer Säbel, den Himmel und das Wasser in zwei Teile. Nicht der leiseste Wind bewegte die schwerfällige Atmosphäre. Eine Totenstille lastete auf der ganzen Natur, der Boden war feucht und schlüpfrig von dem gefallenen Regen und die wiederbelebten Gräser und Kräuter ergossen ihre Wohlgerüche mit neuer Kraft.

Zwei Bediente schleppten Mylady, welche jeder von ihnen an einem Arm hielt. Der Henker ging hinter ihr. Lord Winter, d’Artagnan, Athos, Porthos und Aramis gingen hinter dem Henker.

Planchet und Bazin kamen zuletzt.

Die zwei Diener führten Mylady zum Fluss. Ihr Mund war stumm, aber ihre Augen sprachen mit jener unaussprechlichen Beredsamkeit und flehten abwechselnd zu jedem, den sie anschaute.

Als sie sich einige Schritte voraussah, sagte sie zu den Bedienten: »Tausend Pistolen für jeden von Euch, wenn ihr meine Flucht begünstigt. Wenn Ihr mich aber Euren Messieurs ausliefert, so habe ich hier in meiner Nähe Rächer, die Euch meinen Tod teuer bezahlen lassen.«

Grimaud zögerte, Mousqueton zitterte an allen Gliedern.

Athos, der die Stimme Myladys gehört hatte, näherte sich rasch. Lord Winter tat dasselbe.

»Schickt diese Bedienten weg«, sagte er, »sie hat mit ihnen gesprochen, sie sind nicht mehr sicher.«

Man rief Planchet und Bazin, welche die Stelle von Grimaud und Mousqueton einnahmen.

An den Rand des Wassers gelangt, trat der Henker zu Mylady und band ihre Hände und Füße.

Da brach sie das Schweigen und rief: »Ihr seid feige, elende Mörder. Ihr erhebt Euch zu zehnt, um eine Frau umzubringen. Nehmt Euch in Acht, wenn man mir auch keine Hilfe bringt, so wird man mich doch rächen! …«

»Ihr seid kein Frau«, sprach Athos kalt, »Ihr gehört nicht dem Menschengeschlecht an. Ihr seid ein der Hölle entsprungener Teufel, den wir wieder dahin zurückschicken werden.«

»Oh! Meine tugendhaften Messieurs«, sprach Mylady, gebt wohl Acht, dass derjenige von Euch, welcher ein Haar von meinem Haupt berührt, nicht auch ein Mörder ist.«

»Der Henker kann töten, ohne darum ein Mörder zu sein, Madame«, sprach der Rotmantel und klopfte dabei an sein breites Schwert. »Er ist der Nachrichter, der letzte Richter und nichts anderes.«

Während er sie band und diese Worte sprach, stieß Mylady wiederholt ein Geschrei aus, das gar düster und seltsam klang, als es durch die Nacht hinflog und sich in der Tiefe des Waldes verlor.

»Wenn ich schuldig bin, wenn ich die Verbrechen begangen habe, deren Ihr mich bezichtigt«, heulte Mylady, »so führt mich vor ein Tribunal. Ihr seid nicht die Richter, die mich verdammen können.«

»Ich habe Euch Tyburn vorgeschlagen«, entgegnete Lord Winter, »warum habt Ihr es nicht angenommen?«

»Weil ich nicht sterben will«, rief Mylady, gegen den Henker sich sträubend, »weil ich zu jung bin, um zu sterben.«

»Die Frau, welche Ihr in Bethune vergiftet habt, war noch jünger als Ihr, und ist dennoch gestorben«, sagte d’Artagnan.

»Ich werde in ein Kloster eintreten, ich werde den Schleier nehmen«, rief Mylady.

»Ihr wart in einem Kloster«, sprach der Henker, »und Ihr habt es verlassen, um meinen Bruder zu verderben.«

Mylady stieß abermals ein Angstgeschrei aus und fiel auf die Knie.

Der Henker hob sie bei den Armen auf und wollte sie zum Nachen tragen.

»Oh! Mein Gott, mein Gott!«, rief sie. »Wollt Ihr mich denn ertränken?«

Dieses Geschrei hatte etwas so Herzzerreißendes, dass d’Artagnan, der anfangs der erbittertste Verfolger Myladys war, sich auf einen Baumstumpf niederließ, das Haupt neigte und die Ohren mit seinen flachen Händen zuhielt; aber dennoch hörte er sie schreien und drohen.

D’Artagnan war der Jüngste von allen diesen Männern; sein Herz erweichte sich.

»Oh! Ich kann dieses furchtbare Schauspiel nicht ansehen«, sagte er,»ich kann nicht zugeben, dass diese Frau so stirbt.«

Mylady hatte die letzten Worte gehört und gab sich wieder einem Strahl der Hoffnung hin.

»D’Artagnan! D’Artagnan!«, rief sie, »erinnerst du dich, dass ich dich geliebt habe?«

Der junge Mann stand auf und machte einen Schritt gegen sie.

Athos stand ebenfalls auf, zog seinen Degen und stellte sich ihm in den Weg.

»Wenn Ihr noch einen Schritt macht, d’Artagnan«, sprach er, »so mögen sich unsere Schwerter kreuzen.«

D’Artagnan fiel auf die Knie und betete.

»Auf!«, fuhr Athos fort, »Henker, tue deine Pflicht.«

»Gern, gnädiger Monsieur«, antwortete der Henker, »denn so wahr ich ein guter Katholik bin, glaube ich, dass ich gerecht handle, wenn ich mein Geschäft an dieser Frau vollziehe.«

Athos trat näher zu Mylady und sprach: »Ich vergebe Euch das Böse, was Ihr mir zugefügt habt. Ich vergebe Euch meine zertrümmerte Zukunft, meine verlorene Ehre, meine befleckte Liebe und mein für immer durch die Verzweiflung, in die Ihr mich gestürzt habt, zu Grunde gerichtetes Glück. Sterbt im Frieden!«

Lord Winter kam ebenfalls heran und sagte: »Ich vergebe Euch die Vergiftung meines Bruders, die Ermordung Seiner Herrlichkeit, des Lord Buckingham. Ich vergebe Euch den Tod des armen Felton. Ich vergebe Euch, was Ihr gegen meine Person versucht habt. Sterbt im Frieden!«

»Was mich betrifft«, sprach d’Artagnan, »so vergebt mir, Madame, dass ich durch einen eines Edelmannes unwürdigen Betrug Euren Zorn hervorgerufen habe, und dagegen vergebe ich Euch die Ermordung meiner armen Freundin und die grausame Rache, die Ihr an mir verübt habt. Sterbt im Frieden!«

»I am lost!«, murmelte Mylady auf Englisch, »I must die!« [Ich bin verloren! Ich muss sterben!]

Dann erhob sie sich und warf einen jener leuchtenden Blicke um sich, die aus einem Flammenauge hervorzuspringen schienen.

Sie sah nichts. Sie horchte, sie hörte nichts.

Sie hatte nur Feinde um sich her.

»Wo soll ich sterben?«, fragte sie.

»Auf dem anderen Ufer«, antwortete der Henker.

Dann ließ er sie in seine Barke eintreten. Als er den Fuß auf diese setzte, um ihr zu folgen, überreichte ihm Athos eine Summe Geldes.

»Nehmt«, sprach er, »hier ist der Lohn der Hinrichtung, damit man sehe, dass wir als Richter handeln.«

»Gut«, versetzte der Henker, »diese Frau soll nun erfahren, dass ich nicht mein Gewerbe betreibe, sondern meine Pflicht erfülle.«

Und er warf das Geld in den Fluss.

»Seht«, sagte Athos, »diese Frau hat ein Kind, und dennoch hat sie kein Wort von ihrem Kind gesprochen.«

Der Nachen entfernte sich zum linken Ufer der Lys, die Schuldige und den Nachrichter mit sich tragend. Die anderen blieben auf dem rechten Ufer und waren niedergekniet.

Der Nachen glitt langsam den Strick der Fähre entlang unter dem Widerschein einer bleichen Wolke, welche in diesem Augenblick über dem Wasser schwebte.

Man sah ihn am anderen Ufer landen. Die Personen zeichneten sich schwarz an dem rötlichen Horizont ab. Mylady hatte während der Überfahrt den Strick an ihren Füßen loszumachen gewusst. Als sie sich nahe am Ufer befand, sprang sie leicht zu Boden und ergriff die Flucht.

Aber der Boden war feucht: Oben auf der Böschung angelangt, glitt sie aus und fiel auf ihre Knie nieder.

Ein abergläubischer Gedanke berührte sie ohne Zweifel. Sie sah ein, dass der Himmel ihr seinen Beistand versagte, und verharrte gebeugten Hauptes und mit gefalteten Händen in der Stellung, worin sie sich befand.

Da sah man vom anderen Ufer den Henker langsam seine Arme erheben. Ein Strahl des Mondes spiegelte sich auf der Klinge seines breiten Schwertes. Die beiden Arme fielen nieder, man hörte das Zischen des Schwertes und eine verstümmelte Masse wälzte sich unter dem Streich.

Dann nahm der Henker seinen roten Mantel ab, legte den Körper darauf, warf den Kopf dazu, knüpfte den Mantel an seinen vier Enden zusammen, lud ihn auf seine Schulter und stieg wieder in den Nachen.

Als er die Mitte der Lys erreicht hatte, hielt er die Barke an, hob seine Last über den Fluss und rief: »Gottes Gerechtigkeit mag walten!«

Und er schleuderte den Leichnam in die Tiefe des Wassers, das sich über demselben schloss.