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Elbsagen 69

Elbsagen
Die schönsten Sagen von der Elbe und den anliegenden Landschaften und Städten
Für die Jugend ausgewählt von Prof. Dr. Oskar Ebermann
Verlag Hegel & Schade, Leipzig

70. Der hungrige Wolf

Anderthalb Meilen von Magdeburg liegt nahe bei der Berliner Chaussee ein achtzehn bis zwanzig Morgen großes Torfmoor. Früher war an dieser Stelle eine ausgedehnte Waldung, die mit dem Biederitzer Forst in Verbindung stand. Diese Gegend heißt noch heute im Volksmund der hungrige Wolf Der Sage nach ist nun diese Benennung aus folgender Begebenheit hervorgegangen.

Gegen das Ende des Mittelalters drangen einst während eines sehr kalten Winters die wilden Tiere zuweilen sogar bis in die benachbarten Dörfer und Flecken und wagten sich nicht selten, wenn sie nicht in die wohlverwahrten Ställe dringen konnten, an Kinder oder gar Halberwachsene, die sie mit ihren scharfen Zähnen packten und in den nahen Wald entführten. Es war wunderbar, dass man, so oft und vielfach man auch nach den Überresten der Unglücklichen suchte und nicht selten dem Raubtier mit seiner Beute auf den Fersen war, nie einen Leichnam, nie ein Gebein davon, auch kein Kleidungsstück oder sonst eine Spur davon auffinden konnte. Fast immer war es ein eisgrauer, ungeheuer großer Wolf, den man mit solcher Verwegenheit sich den menschlichen Wohnungen nähern sah. Obwohl die Jäger und Bauern sich alle mögliche Mühe gaben, ihn zu umstellen und zu fangen oder wenigstens die Fährte seines Lagers zu finden, gelang es doch nie, seiner habhaft zu werden. Er überfiel gewöhnlich einen der am Saum des Waldes aufgestellten Jäger, riss ihn nieder und verschwand im Dickicht. Dadurch wurde aber die Gegend um den Wald so verrufen, dass kein Reisender allein oder bei anbrechender Dämmerung es mehr wagte, den gefährlichen Weg am Rande des Waldes zu betreten. Da geschah es eines Sonntagnachmittags, dass ein junger armer Schäfer aus Biederitz mit seiner Geliebten, einer ebenso armen Magd ans Külzau, eine Zusammenkunft in der Nähe jenes verrufenen Waldes verabredet hatte. Beide setzten sich unter einen am Saum des Holzes stehenden dichtbelaubten Baum und besprachen sich über ihre Zukunft. Während dessen weidete die Herde des Schäfers ruhig auf der vor dem Wald befindlichen Wiese. Auf einmal wurde das Liebespaar durch ein heftiges Hundegebell aufgeschreckt. Der Schäfer sprang in die Höhe und sah, wie sein Hund einen unbändig großen Wolf verfolgte, der eben einen Hammel fortschleppte. Furchtlos stürzte er sich ihm nach. Es gelang ihm auch bald, sich ihm zu nähern, da die Bestie wegen des Gewichts des Hammels nicht schnell genug laufen konnte. Mutig schlug der Schäfer mit seinem Stab auf den Wolf los. Dieser ließ auch wider Erwarten seine Beute fallen und eilte dem Wald zu. Erfreut hob der Schäfer das sonst nicht weiter beschädigte, aber furchtbar erschreckte Schaf auf und trug es zur Herde zurück, da er natürlich glaubte, den Wolf für immer versagt zu haben. Allein wie erschrak er, als er plötzlich ein klägliches Wehgeschrei vernahm! Die Bestie war umgekehrt, hatte das arglos sitzengebliebene Mädchen ergriffen und schleppte es dem Wald zu. Mochte nun dieses Mal die Entfernung größer oder die Jungfrau eine leichtere Bürde sein, genug, ehe der Schäfer zur Hilfe herbeieilen konnte, war der Wolf im Wald spurlos verschwunden. Zwar verfolgte der Schäfer mit seinem Hund, so gut es gehen wollte ungefähr die Richtung im Wald, die der Wolf eingeschlagen hatte, aber da es bald völlig finster wurde, musste er die Verfolgung aufgeben und zu der ihm anvertrauten Herde zurückkehren. Er trieb diese so schnell er konnte nach Biederitz zurück, erzählte, was ihm begegnet war, und brach dann sofort wieder mit seinem Hund auf, um seine Nachforschungen von Neuem in dem ungeheuren Wald zu beginnen. Freilich konnte er sich nur auf die gute Spürnase seines Hundes verlassen. Dieser eilte auch rastlos durch das dichte Gestrüpp und Unterholz. Sein Herr lief hinter ihm drein, ohne sich an ein ihm völlig unbekanntes Getöse, das klang, als ob das wilde Heer neben ihm herjage, zu kehren. Allein, als der Morgen graute, fand er, dass er förmlich im Kreis umhergelaufen war, denn er stand plötzlich an derselben Stelle, wo er des Nachmittags zuvor mit seinem Mädchen gesessen hatte. Zum Glück fand er seine am Vortag in der Eile dort vergessene Schäfertasche und darin etwas Brot und Milch, womit er seinen quälenden Hunger und Durst stillen konnte. Dann legte er sich neben seinem Hund ins Gras, um etwas auszuruhen, denn er konnte vor Ermüdung nicht weiter. Schnell überkam ihn ein fester Schlaf, und erst am Nachmittag erwachte er wieder, hatte aber leider die Stimme seiner Mitknechte, die ihn gesucht und gerufen hatten, nicht gehört und fand sich abermals allein. Indessen machte er sich doch von Neuem auf, um die Spur seiner geraubten Geliebten zu suchen. Diesmal war er glücklicher als am Abend vorher. Er fand nämlich eine kleine Strecke weit im Wald, da, wo der Wolf durch das Gebüsch gekrochen war, ein Stück Brot, wie zufällig hingeworfen, bald darauf ein zweites und so in einzelnen größeren Zwischenräumen noch einige andere Brocken, die das Mädchen jedenfalls absichtlich weggeworfen hatte, damit sie bei etwaigen Nachforschungen gewissermaßen als Wegzeiger dienen sollten. Bald hörten jedoch auch diese schwachen Merkmale wieder auf, weil das Mädchen wahrscheinlich kein Brot mehr zum Verbrocken gehabt hatte. Schon wollte der arme Bursche wieder eine andere Richtung in seiner Verfolgung einschlagen, obwohl er kaum noch die Gegenstände um sich herum erkennen konnte, weil es wieder dunkel geworden war. Da sah er an einem Brombeerstrauch das rot und gelb gestreifte Tuch flattern, das sein Mädchen den Tag zuvor um den Kopf gebunden hatte. Es war dies unmittelbar am Fuße eines sich lang und steil hinziehenden Berges, sodass er entweder umkehren oder dort die Nacht bleiben musste, um nicht abermals die Spur zu verlieren. Er entschloss sich zu bleiben, setzte sich unter jenem Strauch nieder und entschlief auch sehr bald wieder aus völliger Ermüdung. Mitten in der Nacht wurde er aber durch das heftige Bellen seines Hundes geweckt und glaubte gleichwohl noch zu träumen, denn er befand sich nicht mehr in einem dunklen Wald, sondern dicht vor dem Tor einer alten Burg. An beiden Seiten des großen Eingangstores brannten lodernde Pechpfannen. In dem grauen Gestein über der Pforte spiegelte sich in der hellen Beleuchtung ein großes stattliches Wappen, in dessen Mitte ein Wolf, dessen Kopf mit einem Ritterhelm geziert war, aufrecht auf den Hinterfüßen stand. Sonst war alles totenstill. Sei es aus Neugierde, sei es aus Mitleid mit seinem Hund, für den er einige Nahrung im Schloss zu finden hoffte, drückte der Schäfer auf die gewaltige Klinke des Torschlusses. Das Tor sprang auf, aber ebenso schnell schloss es sich wieder hinter ihm, als er mit seinem Hund eingetreten war. Er befand sich in einer großen Eingangshalle, aus der eine breite Treppe ins obere Stockwerk führte. Allein er stand bald sprachlos vor Schrecken, denn aus einer Ecke trat eine ungeheure Wölfin mit fünf jungen Wölfen auf ihn los und machte Miene, auf ihn zuzuspringen. Zwar versuchte er die Pforte wieder zu öffnen, um zu entfliehen, allein vergebens, sie war verschlossen. Es blieb ihm nichts übrig, als an den Bestien vorbei zur Treppe zu eilen. Dies tat er auch, er sah sich ängstlich nach ihnen um, jeden Augenblick ihres Angriffes gewärtig, aber er blieb unangefochten. Zwar verfolgten sie ihn mit ihren glühenden Augen, aber sonst ließen sie ihn ruhig die Treppe hinaufsteigen. Oben ver­sperrte ihm abermals eine gewaltige Tür den Weg. Hier besann er sich jedoch nicht lange. Er drückte auf das Schloss, es öffnete sich auch, und die Tür fiel sofort hinter ihm zu, wodurch er denn auch von seiner gefährlichen Nachbarschaft getrennt wurde. In dem hohen Zimmer, das er nun betrat, war eine Tafel mit duftenden Speisen und Getränken gedeckt, aber kein Mensch war zu sehen. Erst wagte er allerdings nichts zu berühren. Als ihm aber eine starke freundliche Stimme zurief, er möge sich nicht fürchten, sondern nur dreist zulangen, da griff er beherzt zu und stärkte sich sowie seinen vierfüßigen Begleiter mit Speise und Trank. Hierauf ließ er sich auf ein nahestehendes Ruhebett nieder und sank bald in sanften Schlummer. Als er erwachte, befand er sich auf einmal in einer anderen Welt. Er selbst war in einen schön gekleideten Rittersmann verwandelt, neben ihm aber saß als seine Gemahlin, ebenfalls mit den schönsten Kleidern angetan, seine ehemalige Geliebte, die Bauernmagd. Sonst aber saßen noch viele schön gekleidete Herren und Damen an festlicher Tafel und außerdem auch ein alter Ritter mit langem Bart und dessen würdige Ehefrau. Von dieser erfuhr er, dass er wirklich nicht träume, sondern dass er es sei, der die Mutter seiner Geliebten und deren Vater nebst ihren Geschwistern von einem schlimmen Bann erlöst habe.

Einst hatte nämlich der alte Ritter von Wolfseck seinen einzigen Sohn mit einem Ritterfräulein verheiraten wollen, sein Sohn aber hatte heimlich eine Liebschaft mit einer gewöhnlichen Bauerndirne angefangen. Als er die ihm von seinem Vater bestimmte Braut zurückwies, hatte er sich sogar heimlich mit seiner Geliebten trauen lassen und ihr ein tief im Wald gelegenes Jagdschloss, wo sein Vater niemals einkehrte, zum Wohnsitz eingeräumt. Da besuchte er sie oft, und sie bekamen nach und nach fünf Kinder. Da fügte es sich, dass einst der vielen Wölfe wegen, die dort hausten, eine große Jagd angestellt wurde, an der sich auch sein Vater beteiligte. Bei dieser Gelegenheit kam er auch zufällig auf jenes Schloss und fand dort die Gemahlin seines Sohnes mit ihren fünf Kindern. Er verlangte nun zuerst von seinem Sohn, er sollte sich augenblicklich von dieser seinen Stand so sehr erniedrigenden Gattin trennen und ihre Kinder verstoßen. Als der Sohn das nicht tun wollte, sprach er den furchtbaren Fluch aus, er solle so lange als hungriger Wolf der Schrecken des Volkes und sein Weib mit ihrer Brut so lange eine gefürchtete Wölfin sein, bis ein frommer Jüngling in der grausen Mitternachtsstunde vor der Wolfsburg erscheinen und Einlass begehren werde.

Diesen Bann hatte nun der arme Schäfer gelöst, denn seine Geliebte war die Tochter des alten Ritters Wolf von Wolfseck. Der graue Wolf aber, der solange die umliegenden Dörfer in Schrecken gesetzt hatte, war ihr Bruder, den der Vater im Zorn verwünscht hatte. Die Wölfin mit den fünf Jungen war niemand anders als die Gattin des jungen Ritters mit ihren Kindern. Bald stellte sich zudem noch heraus, dass der junge Retter kein armer Schäfer, sondern der Sohn eines Ritters von Schwarzenfels war. Dieser hatte sich mit dem Edelfräulein verheiratet, das der Ritter von Wolfseck einst seinem Sohn zugedacht hatte, und war mit ihr weit fortgezogen. Zuvor aber hatten sie ihr kleines Söhnchen einem Schäfer zur Pflege anvertraut. Da nun aber seine Eltern nie zurückkehrten, hatte der Schäfer den jungen Pflegling als seinen eignen Sohn aufgezogen, und erst jetzt erfuhr dieser von seinem Pflegevater die Geschichte seiner Herkunft. Der junge Ritter ließ nun die Wolfsburg als den Sitz eines so unheimlichen Geheimnisses niederreißen. Was mit seinen Schwiegereltern und ihren Kindern geworden ist, darüber schweigt die Sage. Er zog mit all den seinen ins Böhmerland, wo er vom König Ottokar II. eine schöne Burg erhalten und dort das Geschlecht der Edlen von Schwarzenfels begründet haben soll.