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Deutsche Märchen und Sagen 80

Johannes Wilhelm Wolf
Deutsche Märchen und Sagen
Leipzig, F. A. Brockhaus, 1845

94. Reissenstein

Auf dem Reissenstein oder Riesenstein wohnte ehedem ein gewaltiger Riese. Der wollte sich eine Burg bauen und rief am Ende eine Anzahl Werkleute zusammen, denen er befahl, oben auf dem Berg ein Schloss aufzurichten. Als das Werk fast vollendet war und nur der letzte Nagel am obersten Fenster noch fehlte, die Werkleute aber zaghaft dastanden, indem diese Arbeit eine gar gefährliche war, da fasste der Riese plötzlich einen der Knechte beim Kragen und hielt ihn vor das Fenster.

»Da, schlag den Nagel nur ein«, sprach er, »meine Hand ist fest, zu fallen sorge nicht.«

Der Knecht fasste Mut und hämmerte keck drauf los, bis der Nagel fest saß. Da nahm der Riese ihn wieder herein und sprach lächelnd: »Zwerglein, das hast du gut gemacht.«

Wenn dieser Riese von einem Berge zum anderen wollte, so brauchte er nur einen einzigen Schritt zu tun. Noch wacht sein Geist in einer Höhle des Reissensteines über einem ungeheuren Schatz.

 

95. Todesriese zu Efferdingen

Als ich zu Efferdingen in Oberösterreich war, hat eine Frau dort mir erzählt und eidlich befestigt, was ich nun erzählen werde.

»Kaum siebzehn Jahr alt«, sagte sie, »kam ich einmal mit einer Schürze voll Äpfel von einem nahen Dorf und wollte nach Hause. Nicht weit vom Dorf ab begegnete mir ein Totengerippe, so groß wie ein Riese, das schaute mich mit schrecklichen Blicken an, fasste mich alsdann und hob mich vom Boden hoch auf. Ich rief in meiner Angst um Hilfe. Da ließ es mich wieder fallen, ohne dass ich den geringsten Schaden genommen, ja selbst ohne dass ich auch nur einen einzigen Apfel aus meiner Schürze verloren hätte. Als ich nun es wagte, noch einmal ein Auge nach ihm aufzuschlagen, da nahm es mich und hob mich zum zweiten und zum dritten Mal auf.

Ich rief aber: ›O, lieber Herr Jesus, komm mir zu Hilfe, anders muss ich hier sterben!‹

Da schaute das Gerippe mich wieder schrecklich an, schüttelte erzürnt mit dem Kopf und warf mich auf die Erde, doch nahm ich wieder nicht den kleinsten Schaden. Als ich mich nach ihm umsah, bemerkte ich, dass es mit großen Schritten dem Dorf zuging, wo es am anderen Tage drei Leichen gab. Nach Hause gekommen, fragte meine Mutter mich, warum ich so bleich aussähe? Da erzählte ich ihr die ganze Geschichte. Auf der Lippe, mit der ich im Fallen die Erde berührt hatte, bekam ich die Gestalt eines Pfennigs, fiel nach einigen Tagen in eine schwere Krankheit, woran ich ein Jahr lang lag.

Die Bauern in der Gegend erzählen, dass sie sehr oft solche Spuke sahen und unterscheiden selbst deren Geschlecht, denn sie nennen die einen Tod, die anderen Todin.