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Der Welt-Detektiv Band 6

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Elbsagen 54

Elbsagen
Die schönsten Sagen von der Elbe und den anliegenden Landschaften und Städten
Für die Jugend ausgewählt von Prof. Dr. Oskar Ebermann
Verlag Hegel & Schade, Leipzig

54. Der Knabe mit dem Brettspiel

Einst ging ein Seiler aus Torgau über Land. Es war in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Als er auf dem Heimweg war, da sah er einen fremden schönen Knaben am Weg sitzen, der ein Brettspiel mit schwarzen und weißen Steinen auf dem Schoß hielt und emsig an den Steinen schob und ordnete. Als der Seiler vorbeiging, stieß er aus Versehen an des Knaben Knie, sodass die Steine auf dem Brett sich verschoben und durcheinanderrollten. Erschrocken und zornig sprang der Knabe auf und schrie: »O weh, o Jammer, warum musstest du meine Steine stören! Warte nur, mein Vater soll dir den Dank dafür zahlen!« Dann setzte er sich nieder und versuchte seine Steine wieder zu ordnen. Als der Seiler weiterging, lief ein uraltes Männchen vor ihm her, das müde und schwach zu sein schien.

Als er es eingeholt hatte, rief es: »O, trage mich ein Stück, ich bin zu müde zum Weitergehen.«

Der Seiler lachte und meinte, dass dieses Verlangen zu stark sei; er sei kein Kamel, das einen Affen tragen wolle.

»Sollst doch tragen, tragen, tragen! Hast meinem Söhnchen sein Spiel verrückt!«, schrie das Männchen.

Und hopp, da saß der Alte dem Seiler auf dem Rücken, saß fest trotz Rütteln und Schütteln und war zentnerschwer, sodass der Seiler keuchte und stöhnte unter seiner Last. Am Stadttor fiel das Männchen von selbst von seines Trägers Rücken, plumpste auf die Erde auf und war fort. Der Seiler kam todmatt und elend nach Hause. Nach zehn Tagen lag er im Sarg.

Sein kleiner Sohn konnte sich über des Vaters Tod nicht trösten und weinte zum Erbarmen.

Da kam der fremde Knabe, der einst mit seinem Brettspiel am Wege gesessen hatte, zu ihm und sagte: »Sei still und weine und klage nicht mehr. Es ist gut, dass dein Vater gestorben ist. Du und deine Mutter, ihr sollt ihm bald folgen, und wohl euch dann! Denn meine Steine sind verrückt und mein Brettspiel ist gestört worden. Die gute Ordnung und die gute Zeit sind vorüber. Es wird schwere Zeit kommen, und niemandem wird wohler sein als den Toten.«

Bald starben der Sohn des Seilers und seine Mutter, und die schwere Zeit hob an. Kriegslärm erscholl, Waffengeklirr und mancherlei Nöte und Seuchen kamen über Deutschland. Es dauerte lange, lange, ehe Friede und Freude wiederkehrten und die Steine der Menschengeschicke wieder ruhig und in ihrer geregelten Ordnung standen.