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Die Sternkammer – Band 1 – Kapitel 4

William Harrison Ainsworth
Die Sternkammer – Band 1
Ein historischer Roman
Christian Ernst Kollmann Verlag, Leipzig, 1854

Ein Opfer der Sternkammer

Als sein Hunger ein wenig gestillt war, fand Sir Francis nun Muße, den jungen Mann zu betrachten, der sich so freundlich gegen ihn gezeigt hatte. Um die Unterhaltung zu befördern, begann er damit, sein Glas aus einer Flasche köstlichen Bordeauxwein zu füllen, in deren Besitz er sich gesetzt, ungeachtet Cyprien sich bemüht hatte, ihn daran zu verhindern. Der junge Mann erwiderte seine Höflichkeit mit einem Lächeln, rühmte den Wein und sprach seine Überraschung aus, über die große Verschiedenheit und Vortrefflichkeit des Mahles, worauf er, wie er sagte, durchaus nicht vorbereitet sei. Es war nicht die Art des Sir Francis, viel Interesse an Fremden zu nehmen. Er hegte Missfallen gegen junge Männer, besonders wenn sie schön waren, wie es bei seinem neuen Bekannten der Fall war. Aber der junge Mann hatte etwas an sich, was seine Aufmerksamkeit fesselte.

Aus der Einfachheit seiner Kleidung und einer gewissen ländlichen Miene schloss Sir Francis sogleich, dass er frisch vom Lande komme, aber er bemerkte auch an seinem Wesen und Benehmen, dass er ein junger Mann von Stand und Bildung sei. Der Jüngling hatte ein schönes, offenes Gesicht, ausgezeichnet durch männliche Schönheit und verständigen Ausdruck, und eine vollkommen proportionierte, athletische Figur. Sir Francis setzte voraus, dass er in allen körperlichen Übungen – im Klettern, Springen, Reiten und Lanzenwerfen – geschickt sei, und er irrte auch nicht. Er schloss auch, dass er die ländlichen Spiele liebe, und hatte recht in seiner Annahme. Er stellte sich ferner vor, der junge Mann sei in die Stadt gekommen, um sein Glück zu verbessern und um eine Stelle bei Hofe nachzusuchen. Auch darin war er nicht weit vom Ziel. Als der schlaue Ritter die schönen Züge seines Nachbarn, seine richtig gebildeten Glieder und seine symmetrische Figur betrachtete, da glaubte er, dass die Vorstellung eines so schönen Jünglings an einem Hof, wo die persönliche Erscheinung die erste Rücksicht war, unfehlbar von günstigem Erfolg begleitet sein müsse.

Ein hübscher junger Kerl, um sich die Gunst des Königs zu erwerben, dachte er. Und wenn ich ihn mit Mitteln versehe, reiche Kleider zu kaufen, und ihn vorstellen lasse, dürfte er einen guten Eindruck machen. Aber dafür will ich gute Sicherheit haben – ich weiß, was Dankbarkeit ist. Er muss der Lady Suffolk vorgestellt werden. Die wird schon wissen, was sie mit ihm anzufangen hat. Fürs Erste muss er seine ländliche Hülle ablegen. Dieses schlecht gemachte Wams von grünem Tuch muss gegen ein im venezianischen Stil mit Puffen besetztes, wie meins, ausgetauscht werden. Er muss Beinkleider tragen, die ausgestopft und gepolstert sind, wie es die Mode mit sich bringt. Seidene Strümpfe werden die zierlichen Proportionen seiner Beine zeigen, obwohl der junge Mann so wohlgebildete Glieder hat, dass selbst die gemeinen leinenen Strümpfe sie nicht entstellen können. Sein Haar ist von guter brauner Farbe, die dem König so sehr gefällt. Es scheint sich von Natur aus zu kräuseln, aber es muss nach der Mode geschnitten und zugerichtet werden, denn er gleicht einem jungen Füllen, frisch von der Weide. Wenn er auch noch nicht viel Bart am Kinn oder an der Oberlippe hat, so steht ihm doch der Bart, den er hat, sehr gut und wird ihm noch besser stehen, wenn er gehörig beschnitten und gekräuselt ist. Im Ganzen ist er ein so wackerer junger Kerl, wie man nur zu sehen wünschen kann. Als ob er Buckingham ausstechen sollte, wie Buckingham Somerset ausgestochen hatte? Der stolze Marquis möge sich vorsehen! Wir können noch seinen Sturz bewirken. Und nun will ich ihn befragen.

Nachdem er sein Glas wieder gefüllt hatte, wandte sich Sir Francis in seinen schmeichelhaftesten Tönen und mit dem angenehmsten Wesen an seinen jugendlichen Nachbar.

»Für einen Fremden in der Stadt, wofür ich Euch halte, junger Mann«, sagte er, »habt Ihr es sehr glücklich getroffen, gerade heute hierherzukommen, da Ihr ein besseres Mittagessen erhalten habt als ich, der ich beständig diese französische Wirtstafel besuche, hier je servieren sah, obwohl die Aufwartung sehr schlecht ist und jener verdammte Cyprien ausgepeitscht zu werden verdiente. Aber Eure Höflichkeit und Eure guten Sitten haben Euch mit mir bekannt gemacht. Ich kann Euch ohne Anmaßung versichern, dass ich den Willen und die Fähigkeit habe, Euch zu dienen, wenn Ihr mir nur andeuten wollt, auf welche Weise.«

»Ihr seid zu freundlich, würdiger Herr«, versetzte der junge Mann bescheiden. »Ich habe nichts getan, um Eure gute Meinung zu verdienen, obwohl es mich sehr glücklich macht, sie gewonnen zu haben. Es freut mich, dass der Zufall mir so weit günstig gewesen ist, mich zu dieser festlichen Gelegenheit hierhergeführt zu haben. Und es freut mich noch mehr, dass ich mit einem so würdigen Herrn, wie Ihr seid, bekannt geworden bin, dem meine ländlichen Manieren nicht unangenehm sind. Ich habe zu wenig Freunde, um die zu vernachlässigen, die der Zufall mir entgegenführt. Da ich mir meinen Weg durch die Welt bahnen und mir eine Stellung verschaffen muss, nehme ich freudig jede Hand an, die sich ausstreckt, um mir bei dem Kampf zu helfen.«

Gerade wie ich es wünschte, dachte Sir Francis, derselbe Mann, für den ich ihn hielt. »So wahr ich ein wahrer Gentleman bin, an meinem Beistand soll es nicht fehlen, mein guter junger Mann«, fügte er laut mit scheinbarer Herzlichkeit hinzu, indem er sich stellte, als sehe er den anderen mit großem Interesse an. »Und wenn ich die besondere Richtung kennen lerne, in welcher Ihr Euren Weg wählen wollt, so werde ich umso besser imstande sein, Euch zu raten und zu leiten. Es gibt viele Wege zum Glück.«

»Der meine sollte der Kürzeste sein, wenn es von meiner Wahl abhängig wäre«, versetzte der junge Mann lächelnd.

»Ganz richtig«, entgegnete der schlaue Ritter. »Alle Menschen würden jenen Weg einschlagen, wenn sie ihn finden könnten. Aber für einige würde der kürzeste Weg nicht der sicherste sein. In Eurem Fall, denke ich, dürfte es anders sein. Ihr habt ein ziemlich gutes Aussehen und eine ganz gute Figur, um Euch anstatt anderer Vorteile zu bedienen.«

»Eure schöne Rede würde mich eingebildet machen, würdiger Herr«, entgegnete der junge Mann mit wohlgefälliger Miene. »Wäre ich mir nicht zu sehr meines Mangels an Verdienst bewusst, um nicht das, was Ihr sagt, der Gutmütigkeit oder der Schmeichelei zuzuschreiben.«

»Da tut Ihr mir unrecht, mein guter junger Freund – auf mein Wort, das tut Ihr. Wenn ich Schmeichelei anwenden wollte, so müsste ich Ausdrücke suchen, die meiner Meinung von Eurem guten Aussehen entsprechen. Was meine freundliche Neigung zu Euch betrifft, so habe ich schon gesagt, dass Ihr sie durch Eure Aufmerksamkeiten gewonnen habt, sodass die bloße Gutmütigkeit mir nicht meine Worte eingibt. Ich spreche von Euch, wie ich denke. Darf ich ohne Zudringlichkeit fragen, aus welchem Teil des Landes Ihr kommt?«

»Ich bin aus Norfolk, würdiger Herr«, antwortete der junge Mann, »wo ich mein Leben unter wilden und ungebildeten Menschen zugebracht habe, welche die Jagd lieben, gleich den Bogenschützen von Sherwood, wovon wir in den Balladen lesen. Ich bin der Sohn eines heruntergekommenen Edelmannes, des Oberhauptes eines gefallenen Hauses. Von fünfzig Dienern, die mein Vater hielt, ist mir nur ein alter Diener übrig, und von den vielen tausend Morgen, die mir entrissen worden sind, besitze ich kaum noch hundert. Noch jage ich in den Wäldern meines Vaters, töte meines Vaters Wild und fische in den Seen meines Vaters, da niemand mich belästigt. Ich erhalte die kleine Kirche in der Nähe der verfallenen Halle, worin die Gräber meiner Vorfahren sich befinden und wo mein Vater begraben liegt. Die Pächter kommen noch sonntags dorthin, obwohl ich nicht mehr ihr Herr bin. Meines Vaters alter Kaplan, Sir Oliver, predigt noch dort, obwohl meines Vaters Sohn ihn nicht mehr besolden kann.«

»Wahrlich eine traurige Veränderung«, sagte Sir Francis im Ton der Teilnahme, »und ich fürchte, sie ist der Ausschweifung und Verschwendung vonseiten Eures Vaters zuzuschreiben, der seinen Sohn zum Bettler gemacht hat.«

»Nicht so, mein Herr«, entgegnete der Jüngling ernsthaft, »mein Vater war ein sehr ehrenvoller Mann und er würde niemanden Unrecht getan haben, viel weniger dem Sohn, den er zärtlich liebte. Auch war er nicht verschwenderisch, sondern lebte nur gut und freigebig, wie ein Landedelmann mit einer großen Besitzung es sollte. Die Ursache seines Unterganges war, dass er in die Klauen jenes alles verzehrenden Ungeheuers geriet, welches das Vermögen so vieler Familien verschlungen hat, sodass unser Vaterland vom Verderben bedroht wird. Mein Vater wurde von jenem Gerichtshof zu Grunde gerichtet, der mit dem Schein der Gerechtigkeit die Menschen ihres Namens, ihres guten Rufes, ihrer Ländereien und ihres Vermögens beraubt, der den Gang der Gerechtigkeit verkehrt und die Grundsätze der Billigkeit untergräbt, der den Schurken begünstigt und den redlichen Mann unterdrückt, der die Erpressung und Plünderung begünstigt und unterstützt, der die gerechten Urteile widerruft und seine eigene ungerechte Oberhoheit behauptet, der vermöge seiner Kommissionäre seine hundert Arme über das ganze Land ausbreitet, um zu plündern und zu zerstören, sodass niemand, so fern er sei, sich außer seinem Bereich halten oder seiner Aufsicht entziehen kann, und welcher, wenn er nicht mit der Wurzel ausgerottet wird, am Ende das Königreich zu Grunde richten muss. Ich darf wohl nicht erst sagen, dass mein Vater von der Sternkammer zu Grunde gerichtet wurde.«

»Still! Still! Mein guter junger Herr«, rief Sir Francis, nachdem er vergebens versucht hatte, die zornige Rede seines Nachbarn zu unterbrechen. »Gebe der Himmel, dass Eure Worte keine anderen Ohren als die meinen erreicht haben mögen! Von der Sternkammer zu sprechen, wie Ihr gesprochen habt, ist ärger als Verräterei. Mancher Mann hat seine Ohren verloren und ist vor der Stirn gebrandmarkt worden, der noch nicht halb so viel gesagt hatte, wie Ihr.«

»Ist die freie Rede verboten in diesem freien Land?« rief der junge Mann erstaunt. »Muss man schweres Unrecht leiden, ohne sich beklagen zu dürfen?«

»Gewiss, Ihr dürft keinen Tadel über die Sternkammer aussprechen, ohne Euch der Rache derselben auszusetzen«, entgegnete Sir Francis in leisem Ton. »Kein Gerichtshof in England ist so eifersüchtig auf seine Vorrechte, noch auch so strenge in der Bestrafung seiner Tadler. Er will keine üble Nachrede über sein Verfahren noch seine Urteile infrage ziehen hören.«

»Aus dem einfachen Grund, weil er weiß, dass sie die Untersuchung und Beurteilung nicht ertragen können. So ist es mit jedem willkürlichen und despotischen Verfahren. Aber werden sich die Engländer einer solchen Tyrannei unterwerfen?«

»Ich muss Euch noch einmal raten, Eurer Zunge einen Zaum anzulegen, mein junger Herr. Solche Dinge sind nicht an öffentlichen Tafeln, kaum in Privatkreisen zu besprechen. Es ist gut, dass Ihr Euch an jemand gewendet habt, der Euch nicht verraten wird. Die Sternkammer hat überall ihre Spione. Mischt Euch nicht in die Sache, wenn Ihr Eure Freiheit schätzt. Ein leichtes Vergehen reizt den Zorn dieses Gerichts, und einmal aufgeregt, ist seine Wut vernichtend.«