Heftroman der

Woche

Neueste Kommentare
Archive
Folgt uns auch auf

Im Zauberbann des Harzgebirges – Teil 16

Im Zauberbann des Harzgebirges
Sagen und Geschichten, gesammelt von Marie Kutschmann

Die Zwerge von Wernigerode

Rings um Wernigerode wohnten Hunderte von Zwergen. In den Bergen, im Tiergarten, ja selbst in den Teichen hatten sie ihre Schlupfwinkel. Dort, wo sich der Teichdamm befindet, war ehemals ein wirklicher Teich. Die Zwerge aber, die denselben bewohnten, nannte man Nickel. Waren sie auf dem Land gewesen und wollten wieder hinab in ihre Behausung, so schlugen die Kleinen mit einer Rute auf das Wasser. Sofort teilte sich dasselbe und tat sich wieder zu, wenn die Zwerge hindurchgeschritten waren.

Oft nahmen die Nickel auch Kinder mit in ihre Höhlen, welche unter dem Teich lagen und von Gold und Silber strotzten. Darum fürchteten die Bewohner von Wernigerode sich sehr vor ihnen.

Eine Frau, die in Nöschenrode wohnte, hatte ein kleines Kind, welches gar nicht gedeihen wollte. Anfangs war es rund und voll gewesen, hatte ein niedliches Gesichtchen gehabt, plötzlich aber wurde es grau und mager. Nur der Kopf nahm an Stärke zu, ja, er wurde ungestaltet dick. Die Mutter härmte sich über die Verwandlung, die mit ihrem Liebling vorgegangen war, und fragte alle um Rat, aber keiner konnte ihr helfen.

Als nun das Kind sechs Wochen alt war, nahm es die Frau, um mit ihm in die Kirche zu gehen und es einsegnen zu lassen, wie das damals Brauch war.

Kaum aber hatte sie die große Brücke betreten, die nach Wernigerode führte, als aus dem Wasser heraus eine grobe Stimme rief: »Kuhlkropf, wo willst du hin?«

Wie erschrak aber die gute Frau, als ihr kleines, sechs Wochen altes Kind mit kräftiger Stimme entgegnete:

Ich will nach der Lieben Frauen
und mich lassen weihen,
dass ich mag gedeihen.

Auf einmal wurde es ihr klar, dass sie einen Nickel anstatt ihres eigenen Kindes gehegt und gepflegt hatte, und laut aufschreiend warf sie das kleine Geschöpf ins Wasser. Die Fluten teilten sich und der Zwerg war verschwunden. Als aber die Frau klagend und jammernd über den Verlust ihres geliebten Kindes zu Hause wieder anlangte, da, zu ihrer größten Freude, lag das kleine Wesen so rosig und lieblich wie nie zuvor in seiner Wiege und schlummerte.

Auch die Zwerge vom Kreuzberg hatten einer Mutter ihr Kind vertauscht und diese merkte es lange nicht. Endlich kam sie hinter den Betrug. Um sich aber vollends zu überzeugen, holte sie eine halbe Eierschale und kochte Wasser darin.

Wie dies das Kind sah, fragte es: »Mutter, wat wutte da maken?«

»Dik Tee inne kooken«, war die Antwort.

Da blickte das kleine Geschöpfchen verwundert auf und rief:

Sau bin ick doch sau oolt
wie de Schimmelvoolt.
Dreimal e hacket un dreimal e koolt,
und häwwe noch nich eseihn in de Eierschal Water kooken.

Kaum hatte das Zwergkind sich durch diese Worte verraten, als es auch verschwunden war und an seiner Stelle das richtige Söhnchen der Leute stand. Der Knabe erzählte seinen Eltern viel von den Zwergen, bei denen er gewohnt hatte, dass sie immer gut und freundlich zu ihm gewesen seien, dass er dort von Gold und Silber gegessen hätte und des Nachts in einer Mütze geschlafen habe, aber so weich und schön wie in seinem Bett. Hatte er beim Spielen sein Zeug zerrissen, so hätte ein Zwerg nur darübergestrichen und es sei wieder heil gewesen. Ebenso hätten sie jede Wunde, die er durch Fallen oder Stoßen sich zugezogen hatte, nur durch einfaches Handauflegen geheilt. Der Zwerg, der ihn hierhergebracht hatte, habe ihm auch gesagt, er solle den nächsten Sonntag allein vor die Höhle kommen und ihn rufen.

Als der Sonntag gekommen war, ging der Knabe hinaus zum Kreuzberg. Auf sein Rufen erschien sofort einer der Zwerge, der war aber gar nicht so freundlich wie gewöhnlich, sondern schalt den Kleinen, dass er so vieles ausgeschwatzt habe. Dann gab er ihm hundert Taler und bestimmte, wem davon abgegeben werden solle. Als Bedingung aber forderte er, dass Fritz fernerhin verschwiegen sei. Außerdem solle jeden Morgen auf dem Fensterbrett Geld für ihn und seine Eltern liegen, doch jedes Mal, bevor er es herabhole, müsse er sich ja waschen und dürfe auch nicht den seinen verraten, woher er das Geld nähme. Nachdem alles genugsam beredet war, ging der Knabe nach Hause, wo seine Eltern schon ängstlich auf ihn warteten, denn seine Abwesenheit hatte nicht, wie Fritz glaubte, nur einen Tag, sondern volle drei Tage gewährt. Vor der Höhle war es aber gar nicht dunkel geworden, und daher meinte der Knabe, dass die Nacht noch nicht hereingebrochen sei.

So wie der Zwerg gesagt hatte, geschah es: Jeden Morgen lagen mehrere Groschen, gerade so viel, wie der Tageslohn der Eltern betrug, auf dem Fensterbrett. Fritz brachte es allemal, wenn er sich gewaschen hatte, seinen Eltern.

Diese waren neugierig genug, zu erfahren, woher wohl der Knabe immer das Geld nähme. Eines Morgens schlich deshalb die Mutter heimlich dem Kleinen nach. So wie sie sich aber vorbeugte, da bekam sie einen heftigen Nasenstüber. Gleichzeitig rief es: »So neugierig, wie du, sind alle Frauensleute!« Die Schmerzen in der Nase wurden aber bald so heftig, dass die Frau zum Arzt schicken musste. Da sie sich aber schämte, dem Doktor den Ursprung der Krankheit zu sagen, konnte dieser ihr nicht helfen, und die Anschwellung wurde immer schlimmer.

Als nun der Sonntag kam und der Knabe wieder zur Zwerghöhle ging, gab ihm einer der Zwerge einen Topf mit einer Salbe darin und bedeutete ihn, davon etwas auf die Nase seiner Mutter zu schmieren, auch sonst den Inhalt bei Krankheiten zu gebrauchen, allemal würde diese Salbe helfen. Glücklich brachte Fritz das Töpfchen heim und befreite seine Mutter sofort von ihrer Qual.

Später mussten die Zwerge fortziehen auf den Rammelsberg zum Kaiser Otto, wie sie sagten. Da haben sie Fritz so überreich mit Schätzen bedacht, dass er Ritter von der Harburg wurde und angesehen und glücklich dort noch viele Jahre lebte.

Der Hauptaufenthalt der Zwerge war aber in der Heidemühle; denn dort wohnte Trultram, ihr Befehlshaber. Sie liehen ihr Silbergeschirr zu Hochzeiten und Kindtaufen aus und bekamen dann zum Dank ein wenig von der Festspeise darin zurückgeschickt. Einige Leute glaubten, sie könnten die wertvollen Schüsseln ungestraft behalten, und brachten diese den kleinen Eigentümern nicht wieder; aber da hatten sie sich denn doch arg getäuscht, denn wohin sie die Schüsseln auch stecken mochten, dieselben verschwanden jedes Mal.

Einst feierte der Sohn des Grafen von der Harburg seine Hochzeit. Da viele Gäste zu dem Fest geladen waren, bat man die Zwerge in der Heidemühle um ihre Schüsseln und erhielt sie auch. Pruttam, ein Knappe des Grafen, ein streitsüchtiger, boshafter Mensch, schickte dem kleinen Volk aber statt der Speisereste nur Unrat. Diese Handlungsweise empörte die Zwerge, sie verfolgten und peinigten die Diener, wo sie nur irgend konnten, und diese wieder versuchten sich an den Kleinen zu rächen. So entspann sich eine Fehde zwischen ihnen, und eines Abends lauerten die Knappen in der Heidemühle dem Völkchen auf. Um elf Uhr erschienen die Zwerge. Sofort fielen die Burschen über sie her, aber die gewandten Kleinen entwischten durch eine Falltür, die von der Mühle aus in ihre Höhle führte. Nur der kleine dicke Trultram fiel in die Hände seiner Feinde. Die Knappen jedoch wollten die ganze Schar, welche die Mühle bewohnte, in ihrer Gewalt sehen und ließen deshalb das Wasser in die Höhle hinab. Nun war den Zwergen ihr Schlupfwinkel genommen. Wohl oder übel mussten sie zum Vorschein kommen und sich ergeben. In drei Wagen wurden die Kleinen mit ihrem Befehlshaber zur Harburg gefahren und hatten lange dort im Kerker schmachten müssen.

Als die Zwerge später wieder befreit wurden, sind sie fortgezogen, und nur wenige sind in Wernigerode zurückgeblieben.