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Im Zauberbann des Harzgebirges – Teil 8

Im Zauberbann des Harzgebirges
Sagen und Geschichten, gesammelt von Marie Kutschmann

Die Schäfertürme zu Quedlinburg

Zwei Schäfer aus Quedlinburg, Vater und Sohn, trieben einst ihre Herde auf die vor der Stadt gelegene Weide. Beide streckten sich im Schatten der am Wiesensaum wachsenden Bäume nieder und überließen es ihren treuen Hunden, die Schafe zu bewachen.

Da gewahrten sie zu ihrem größten Erstaunen, dass die Hunde sich plötzlich von der Herde entfernten und mit wilden Sätzen in den Wald hineinsprangen, der jenseits der Wiese lag.

Die Schäfer pfiffen, riefen, doch nichts lockte die Hunde zurück. Unaufhaltsam stürmten sie weiter und waren bald im Dickicht verschwunden.

Verwundert blickten sich Vater und Sohn an, denn so etwas war ihnen noch nie vorgekommen. Noch niemals hatten die Hunde es gewagt, sich auch nur um einige Schritte von der Herde zu entfernen.

Schnell liefen deshalb beide den Tieren nach, deren Spur sie im Wald im hohen Gras leicht entdecken konnten. Der junge Schäfer verfolgte dieselbe, indessen der Alte am Wiesenrand stehen blieb, damit die Herde nicht unbewacht bleibe und nicht etwa ein Wolf die günstige Gelegenheit wahrnähme, sich einen Morgenimbiss zu holen. Nach wenigen Minuten hörte der Alte das laute Bellen seiner Hunde. Kurz darauf rief ihn sein Sohn, und zwar, wie es dem Schäfer schien, mit ängstlicher Stimme. In der Furcht, demselben könnte ein Unglück zugestoßen sein, drang er schnell vorwärts. Aber er war hoch erstaunt, als er nach wenigen Schritten den Wald ganz verändert fand. Anstatt der jungen Stämmchen erhoben sich riesige, alte Eichen und Buchen und dazwischen hindurch schimmerte ihm das graue Gemäuer einer verfallenen Kirche entgegen. Vor der Ruine fand der Alte seinen Sohn, der unschlüssig war, ob er der Fährte der Hunde noch weiter folgen sollte, denn dieselbe führte geradezu in das Gebäude hinein. Auch er hatte, so oft er in den Wald ging, noch nie diese alten Bäume, nie diesen wunderbaren, verfallenen Bau gesehen. Bald waren die beiden jedoch entschlossen, den Hunden nachzugehen, und bahnten sich mühsam einen Weg in die Kapelle durch dichte Schlingpflanzen und Gestrüpp, welche das Gemäuer so fest umwanden, dass es für Menschen fast unmöglich war, den Eingang zu erzwingen.

Nur ein schwacher Lichtstrahl erhellte die Kapelle, sodass die Schäfer wenig deutlich einen Wirrwarr von Trümmern und Steinblöcken unterscheiden konnten, jedoch wurde ihnen bald klar, dass hier eine gewaltsame Zerstörung stattgefunden haben musste.

Hinter den Altartrümmern fanden sie endlich die Hunde, welche mit solchem Eifer dort die Erde aufkratzten, dass sie ihre Herren gar nicht zu sehen schienen. In der Öffnung aber, welche die Tiere gescharrt hatten, erblickten die Schäfer eine eiserne Kiste. Als dieselbe oberhalb von der Erde befreit war, hörten die Hunde auf zu graben und sprangen wedelnd und bellend an ihren Herren hinauf. Diese hoben das schwere Behältnis heraus, öffneten dasselbe und fanden eine Menge Gold- und Silbermünzen darin, die ein altes, fremdartiges Gepräge trugen.

Unterdessen waren die Hunde schon wieder zu der Öffnung zurückgesprungen und scharrten emsig weiter. Bald wurde denn auch eine zweite Kiste sichtbar. Als die Schäfer auch diese herausgehoben und geöffnet hatten, fanden sich darin die wertvollsten goldenen Leuchter und Becher.

Nun waren die Hunde plötzlich beruhigt und rannten eilig zu der verlassenen Herde zurück. Die Schäfer folgten ihnen langsam, erst eine und dann die andere Kiste mühsam dahintragend.

Nun waren die beiden armen Hirten auf einmal reiche Leute geworden und wussten nicht, was sie mit all dem Gold beginnen sollten. Sie sannen lange hin und her. Dann aber kam ihnen ein guter Gedanke, wie sie ihren Schatz am besten verwenden könnten.

In der Neustadt war ein Gotteshaus erbaut, das aber voraussichtlich noch lange ohne Türme und Glocken bleiben musste, da das Geld zum Weiterbau fehlte. Dieser Bau sollte durch den Schatz vollendet werden. So hatten es die beiden Hirten beschlossen.

Sie gingen zu der Äbtissin des Klosters St. Servatii, teilten derselben alles mit, was ihnen begegnet war und schlossen mit der Bitte, dass man von dem vielen Gold die Türme der neu erbauten Nikolaikirche ausführen möge.

Mit Freuden wurde der Vorschlag angenommen. Schnell erhoben sich die Türme des Gotteshauses, dessen Glocken bald weithin ertönten und die Andächtigen zum Gottesdienst riefen.

Kaum war aber in Quedlinburg die Begebenheit mit dem Schatze bekannt geworden, da zogen viele in den Wald, um die Kirche zu sehen, aber keiner hat dieselbe erblickt. Nicht einmal die Schäfer konnten sie wiederfinden.

Aus Dankbarkeit ließ man die Gestalten der beiden Hirten mit ihren Hunden in Stein hauen und auf die Mauern der Türme setzen. Ihre Schafpelze und andere Kleidungsstücke wurden in der Sakristei der Nikolaikirche aufbewahrt.