Heftroman der

Woche

Download-Tipp

Der Welt-Detektiv Band 6

Neueste Kommentare
Archive
Folgt uns auch auf

Die Erben Abaddons – Nimmerland

Die Erben Abaddons – Nimmerland

Was fasziniert uns am Weltuntergang? Warum zieht es uns zu diesen dunklen Geschichten des apokalyptischen Chaos? Vielleicht liegt es daran, dass wir uns immer fragen: Was passiert als Nächstes?

Wenn die Welt, wie wir sie kennen, zusammenbricht, wenn Regierungen und Zivilisationen fallen, wenn eine neue Eiszeit anbricht oder ganze Bevölkerungsschichten sterben…. Wohin werden wir uns wenden? Diese Tatsache macht für Geschichtenerzähler den Weg für ein bisher unerschlossenes Terrain frei. Plötzlich haben wir eine Erde, auf der sich die ganze Geschichte, wie wir sie kennen, ereignet hat, aber die Oberfläche für etwas Neues und Außergewöhnliches freigemacht wurde. Regeln, Gesetze, Beziehungen, Verhaltensweisen, Gewohnheiten – alles in der Gesellschaft kann von Grund auf neu gestaltet werden.

Es ist per Definition eine spekulative Fiktion, denn es gibt keine Präzedenzfälle in der Menschheitsgeschichte, auf die sich Schriftsteller stützen können, wenn sie darüber nachdenken, was passieren könnte, wenn eine technologisch fortschrittliche, weitgehend demokratische Welt auseinanderbricht. Alles, was sie tun können, ist, den aktuellen Zustand der Welt, die Denkweise der Kultur und die Trends der Gesellschaft zu betrachten und diese Dinge zu einem logischen – wenn auch extremen – Ergebnis zu führen.

Das Autoren-Trio Thomas Lohwasser, Vanessa Kaiser und Thomas Karg greifen mit dem hebräischen Wort אבאד (abad, Abaddon) die Bibel-Offenbarung 9 auf, in welcher mit der Bezeichnung Abaddon Satans personifizierter Charakter betont werden soll. Während der 5. Posaune wird dem Satan der Schlüssel zum Abgrund überreicht und ihm damit von Jahuwhah, dem Vater und Schöpfer alles Lebens, Macht gegeben, um die Erde und deren gottlose Bewohner in einen Zustand der Verwirrung und der Finsternis zu stürzen. Wer solche Art von Literatur mag, wird mit Die Erben Abaddons sehr gut unterhalten.

Das Buch

Thomas Lohwasser, Vanessa Kaiser, Thomas Karg
Die Erben Abaddons Band 1
Nimmerland

Postapokalypse, Science-Fiction, Adventure, Taschenbuch, Verlag Torsten Low, Meitingen/Erlingen, Juni 2019, 156 Seiten, 8,90 Euro, ISBN: 9783966290005, Illustrationen, Karte und Umschlaggestaltung: Christian Günther

Synopsis:
2303.
Hundertfünfzig Jahre nach der Apokalypse. Für die Nachfahren der wenigen Überlebenden ist die Welt von harten Kontrasten geprägt. Reste alter Hochtechnologie treffen auf primitive Verhältnisse, Hunger ringt mit Machtgier, verruchte Städte werfen ihre Schatten über verlassene Ruinen, Nomaden streifen durch offene Ebenen, andere Gemeinschaften isolieren sich in verborgenen Siedlungen.
So wie die der neunzehnjährigen Wendy.
Sei niemals von oben sichtbar – so lautet das Gebot der Schluchtsiedlung. Wendy hält sich nicht daran. Ein fataler Fehler: Ihr kleiner Bruder und dessen Freund werden von Fremden in einem Zeppelin entführt. In der verzweifelten Hoffnung, sie wiederzufinden, verlässt sie die Fels-Enklave und wagt sich in die große Einöde. Schon bald erkennt sie, dass die Welt »da draußen« noch gefährlicher ist, als die Siedlungsältesten immer behauptet haben. Und dass sie für die Rettung der verlorenen Kinder über ihre Grenzen gehen muss …

Leseprobe

»Das Leben und der Tod liegen nah beieinander. Viel zu nah. Dies zu begreifen, unterscheidet das Kind vom Erwachsenen, Wendira, merke dir das gut.«

»Und wenn ich nicht erwachsen werden will?«

1

Geh nach Nimmerland

Große Einöde, heute, im Jahre 2303

Der Koloss rannte auf sie zu, wollte sie zermalmen. Sie spürte sein schnelles Stampfen bis hinauf in die Brust. Er war jetzt nahe genug, dass sie weit oben sein Gesicht erken­nen konnte. Sein Gesicht unter den wehenden, goldblon­den Haaren. Es war Yori.

Sie riss die Augen auf. Tageslicht flutete in ihren Schädel. Das Stampfen in der Brust war noch da – ihr hämmerndes Herz. Es pumpte die Angst in eisigen Wellen durch ihre Adern.

Nur ein Albtraum, dachte sie. Doch sie wusste, dass das nicht stimmte. Die Wahrheit war, dass sie aus einem furcht­baren Albtraum in etwas noch viel Schlimmeres geflohen war, etwas, aus dem es kein Entrinnen gab: die Wirklich­keit.

Ihre Muskeln waren steif vor Angst. Sie konnte sich nicht bewegen, wollte sich nicht bewegen, denn das härte bedeu­tet, sich dem Schrecken zu stellen, in den sie durch ihr Auf­wachen zurückgekehrt war.

Der Blick, mit dem ihr kleiner Bruder Yori sie in dem Traum angesehen hatte, in dem er sie hatte zertreten wollen wie ein wertloses Insekt, war so eindeutig gewesen. Hatte sich wie ein glühendes Messer in ihr Herz gebohrt.

»Du hast mich verraten«, sagte dieser Blick. »Du hast mich im Stich gelassen, hast zugelassen, dass sie mich mit­nehmen. Jetzt fürchte ich mich zu Tode, Wendy, und du bist schuld!«

Mit einem Ruck setzte sie sich auf, presste die Hände auf die Ohren. Sie wollte das nicht hören!

Ich wünschte, du hättest mich zertreten, Yori. Ich wäre nie wieder aufgewacht. Nichts anderes verdiene ich.

Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie in das grelle Morgenlicht der Einöde. Etwas bewegte sich in ihrem Au­genwinkel. Ohne den Kopf zu drehen, sah sie hin. Es war eine Eidechse, grün schillernd, handspannenlang. Ein fetter Brocken.

Wie auf Kommando knurrte ihr Magen. Sie lauschte darauf. Ihr war übel vor Hunger. Ein harmloses, ein norma­les Gefühl. Begierig griff sie nach diesem Gefühl, es drängte die Schrecken in den Hintergrund.

Behutsam nahm sie die Hand vom rechten Ohr, löste ih­re Luftdruckpistole vom Gürtel und legte sie auf den Ober­schenkel. Dann tastete sie nach ihrem Hüftbeutel und fingerte einen Stein heraus. Sie brauchte nicht hinzusehen, um ihn in der Abschusskammer zu platzieren. Den Kolben zog sie mit den Fingerspitzen Stück für Stück heraus, wäh­rend sie die Waffe mit der Handfläche auf ihren Ober­schenkel drückte.

Die Eidechse saß reglos da, schien Wendys andere Hand zu beobachten, die noch immer auf das linke Ohr gepresst war. Als wollte sie sagen: »Was machst du da? Tut dir was weh?«

Ja, mir tut etwas weh. Mein Herz tut mir weh. Es fühlt sich an wie ein blutiger Klumpen.

Wendy biss sich auf die Lippe, um sich durch den kör­perlichen Schmerz vom seelischen abzulenken.

Konzentrier dich!

Sie hob die Waffe. Kurz zuckte die Zungenspitze des Tie­res hervor, der Kopf ruckte eine Winzigkeit herum. Wendy stoppte in der Bewegung. Langsam. Ganz langsam weiter. Bis vor die Augen. Sie kniff eines zu, mit dem anderen starrte sie durch die Zielvorrichtung. Die Eidechse schillerte im Son­nenlicht.

Kimme.

Korn.

Wendy atmete aus. Ihre Hand war jetzt vollkommen ru­hig.

Schuss.

Swifff! Der Luftdruckkolben zischte, als der Stein abge­schossen wurde. Der Kopf der Eidechse prallte zurück, das Tier brach zusammen.

»Guten Morgen, Wendy, Frühstück!«, hörte sie die war­me Stimme ihrer Mutter in Gedanken sagen. Dann brach sie in Tränen aus.

 

Hitze flirrte über dem hartgebackenen Sand der Einöde, nur hier und da krallten sich trockene Büsche in die Risse im Boden, gaben dem Auge Halt und vermittelten die Illu­sion von Lebendigkeit. Genau genommen gab es zwischen den Büschen Leben, aber es war spärlich und rau wie die Landschaft. Hier draußen war es anders als zu Hause in der Schluchtsiedlung. Zwar wurde diese ebenfalls von Schmirgelsand beherrscht, der sich unter die Kleidung schummelte und in jede Kitze der Behausungen zwängte, doch gab es dort auch Schatten und Wasser und Grünpflanzen. Das Wasser zog Vögel und Molche an, sogar Fische verirrten sich des Öfteren aus den verborgenen Zuflüssen zu ihnen in die felsenüberdachte Enklave.

Zu Hause. Ein Begriff, dessen Bedeutung sich am Vortag – dem Tag der Schuld – in Luft aufgelöst hatte.

Wendys Schritte knirschten gleichmäßig. Sie ließ sich von dem dünnen Geräusch und dem krümeligen Gefühl unter den Ledersohlen einlullen. Anfangs stellte sie sich noch vor, ihre Füße wären Zähne, die mürbes Gebäck zer­malmten. Später dachte sie nichts anderes mehr als: Links, rechts, links, rechts. Blick auf den Boden heften, gelegentlich aufsehen, einen Fuß vor den anderen setzen.

Links, rechts, links, rechts.

Die Hitze nahm beständig zu. Wendy verfolgte, wie ihr Scharten sich mit der Zeit wandelte. Nach dem Eidechsenfrühstück hatte er noch zwei Schritt Länge gehabt, mittler­weile war er zu einem bescheidenen Flecken vor ihren Füßen zusammengeschmolzen und Wendy wusste, dass es nicht mehr lang dauern würde, bis die Hitze ein schier un­erträgliches Ausmaß erreichte.

Die Sonne brannte auf ihr kurzes, braunes Haar und ih­ren ungeschützten Nacken. Doch Wendy nahm den Schmerz kaum wahr. Das Feuer, das in ihrem Herzen tobte, war ungleich schlimmer.

Ihr Mund schien mit trockenem Pelz ausgekleidet zu sein, die Zunge klebte wie ein dicker Fremdkörper am Gau­men. Dennoch zog sie den Wasserschlauch nur selten her­vor, den sie vor ihrem Aufbruch von zu Hause geklaut hatte. Sie musste sparen. Denn auch, wenn sie nichts anderes ver­dient gehabt hätte, als hier draußen in der Hitze qualvoll zu verrecken, musste sie weiterkommen. Einfach deshalb, weil sie vielleicht noch etwas wiedergutmachen konnte. Wenn sie Glück hatte.

Nochmals sah sie auf. Und endlich waren sie näherge­kommen: die hohen Gebäude jener Siedlung, die sie von weitem durch die »Zauberblick«-Brille gesehen hatte. Das da war der Ort, an dem sie ihren Fehler wiedergutmachen würde.

Wendy kramte die Brille aus dem Rucksack und setzte sie auf. Zunächst war alles verschwommen, doch mit den Knöpfchen rechts und links der Augengläser stellte sie das Bild scharf. Zum ersten Mal erschienen die Häuser nicht mehr nur nah, sondern zum Greifen nah. So gut hatte sie sie noch nie erkennen können. Was sie sah, versetzte ihr einen Schock.

»Das ist sie also, die Siedlung deiner Hoffnung, in der du die Kinder vermutest, Wendy?«, flüsterte diese neue, hämische Stimme hinter ihrer Stirn, von der sie seit gestern verfolgt wurde. Seit sie sich mit jener schrecklichen Schuld beladen hatte. »Sieh genau hin. Da vorn sind nur ein paar Ruinen, nichts und niemand sonst, keine Menschenseele.«

»Das kann nicht sein …«, murmelte Wendy. Die Angst drückte gegen ihren Magen. »Sie sind doch in diese Rich­tung geflogen!«

»Na und?«, erhob sich das hämische Flüstern erneut. »Dann sind sie eben in diese Richtung geflogen, aber das war’s auch schon. Du hast dich geirrt. Gib es endlich zu: Du kannst es nicht wiedergutmachen. Geh zurück in dein gemütliches Zuhause und lass dich von Mutter und Vater trösten, weil du deinen Bruder und seinen besten Freund verloren hast, als du auf sie aufpassen solltest. Geh zurück und erklär ihnen, dass du ihr jüngstes Kind auf dem Gewissen hast, weil du mal wieder nicht gehört hast. Weil du deine Eltern mal wieder nicht ernst­ genommen hast!«

Wendy blieb stehen und stützte sich mit den Händen auf die Knie. Die Angst drückte nun stärker, bis in ihre Kehle hinauf, vermischte sich mit dem Brennen in ihrem Nacken. Da war auch ein dumpfes Pochen in ihrem Kopf. Sie fühlte sich überhitzt. Ihr war schwindelig, übel. Ein plötzlicher Krampf presste ihren Magen wie in einer Faust zusammen. Das Frühstück schoss aus ihrem Mund und klatschte vor ihre Füße. Ein dünner, hellbrauner Streifen im gelben Sand – geradezu anklagend glänzte er in der Mittagssonne. Wen­dy konnte fast hören, was er ihr zu sagen hatte: »Du brauchst mich wohl nicht. Hast genug Nahrung und Flüs­sigkeit in dir, hm?«

»Verdammter Dreck«, murmelte sic, und ein Tropfen Er­brochenes baumelte ihr von der Unterlippe. Wendy igno­rierte ihn.

Sie dachte an das Buch … das wundervolle Buch beim alten Ranek, das sie mehrmals verschlungen hatte, nachdem er ihr verbotenerweise das Lesen beigebracht hatte. »Peter Pan«. Das Buch war zerlesen und von den Jahren gezeich­net. Es stammte noch aus der »Alten Zivilisation«. Eine Zeit lang hatte sie fest geglaubt, die Geschichte in dem Buch wäre wahr. Sie hatte mit Peter gesprochen, tagein, tagaus, und er hatte ihr mit seinem Rat zur Seite gestanden. Er war es auch gewesen, der ihr erklärte, man müsste nicht erwach­sen werden, denn das würde einem die Kraft aus den Glie­dern ziehen, und man könnte dann nicht mehr fliegen. Lange hatte sie ihm geglaubt. Doch die Zeit hatte sie einge­holt, sie war neunzehn geworden, und die Siedlungsältesten hatten ihr einen Bund-Mann in Aussicht gestellt, den sic furchtbar ernst und langweilig fand.

Jetzt erst bemerkte sie, wie sehr ihr das »die Kraft aus den Gliedern gezogen« hatte. Wie wenig sie nur noch sie selbst gewesen war in der letzten Zeit. Kein Wunder, dass sie die Gefahr falsch eingeschätzt hatte.

Du hattest recht, Peter. Sag mir, was ich machen soll. Was würdest du tun?

Und endlich, endlich vernahm sie wieder seine Stimme.

»Das weißt du doch, Wendy. Als Hook mir meine Jungs ge­klaut hat, habe ich da etwa aufgegeben? Damals sagte ich: Diesmal gilt es, Hook oder ich! Ich habe sie mir zurückgeholt. Jetzt geh du nach Nimmerland und hol dir deine zurück.«

Wendy nickte. Sie wischte sich das Erbrochene vom Mund, spuckte den sauren Geschmack aus und ging weiter. Setzte einen Fuß vor den anderen.

Links, rechts, links, rechts …

Sie würde nicht stehen bleiben. Niemals.

»Auf nach Nimmerland«, flüsterte sie.

Die Autoren

Thomas Lohwasser und Vanessa Kaiser wurden Mitte der Siebziger Jahre in Marburg an der Lahn geboren. 2006 ver­einigten sie ihre Talente und erzählen seither als Duo Ge­schichten. Sie wurden bislang mit mehreren Preisen ausgezeichnet (u.a. dem Deutschen Phantastik Preis). Au­ßerdem sind sie Herausgeber zweier Kurzgeschichtensammlungen und wirken seit 2015/2016 in der Jury der Storyolympiade mit. Im Oktober 2016 erschien ihr erster Roman »Herbstlande« (in Zusammenarbeit mit Fabienne Siegmund und Stephanie Kempin im Verlag Torsten Low).

Weitere Infos unter: www.lohwasser-kaiser.de

 

Thomas Karg lebt im Herzen Niederbayerns. Seine Werke beschäftigen sich mit den dunklen Seiten der menschlichen Seele und des Lebens. Er erzählt düstere Geschichten in al­len Schattierungen und Formen – von subtil bis blutig, von realistisch bis phantastisch.

Seine erste eigene Kurzgeschichtensammlung »Fest der Geier und andere verstörende Geschichten« wurde 2017 veröffentlicht und erreichte Platz 2 beim Vincent Preis.

Zudem finden sich mehrere Beiträge von ihm in ver­schiedenen Anthologien.

 

2018 beschlossen die drei Autoren, gemeinsame Projekte zu starten. 2019 erschien in der Sammlung Ghost Stories of Flesh and Blood im Papierverzierer Verlag die erste gemeinsame Kurzgeschichte des Trios.

Nimmerland, Band 1 der Romanreihe Die Erben Abaddons, ist ihr erster gemeinsamer Roman, dem noch viele weitere folgen werden.

Veröffentlichung der Leseprobe mit freundlicher Genehmigung des Verlages