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Amerika – Abenteuer in der Neuen Welt – Folge 12

Jörg Kastner
Amerika – Abenteuer in der Neuen Welt
Band 12
Im Land der Bärenmenschen

Abenteuer, Heftroman, Bastei Verlag, Köln, 66 Seiten, 1,90 €, Neuauflage vom 27.11.2018

Kurzinhalt:
Das »Phantom der Rocky Mountains« – es existiert! Jacob Adler und die Mitglieder der Rettungsmannschaft treffen auf eine Sagengestalt, die höchst menschlich ist. Aber das »Phantom« ist schwer verletzt, und es sieht nicht aus, als würde der Mann die nächsten Stunden lebend überstehen.
Doch er ist die einzige Rettung für den Oregon-Treck. Erstes Schneetreiben setzt ein: Der Winter bricht an! Bald wird der Wagenzug eingeschneit sein und keinen Meter mehr vorankommen – das sichere Todesurteil für die Siedler!
Da berichtet das »Phantom« von einem sagenumwobenen Ort, wo heiße Quellen ewigen Sommer versprechen. Niemand außer ihm weiß, wo dieses »Land der Bärenmenschen« liegt. Phantasiert der Mann nicht längst im Fieberwahn?
Es ist an Jacob Adler, eine Entscheidung zu treffen …

Leseprobe

Kapitel 1

Ein unerwartetes Wiedersehen

Jacob Adler und Billy Calhoun standen auf einem schmalen Sims, der sich etwa dreißig Fuß über dem Boden an einem großen Felsblock entlangzog. Sie hatten wenig Halt und mussten sich eng an das raue Gestein pressen, um nicht abzustürzen. Aber das war im Augenblick nicht ihr größtes Problem. Die bedrohlichere Gefahr kam von oben.

Dort, auf der Felskuppe, etwa acht bis zehn Fuß über ihnen, beugte sich das unheimliche Wesen, das sie bis hierher verfolgt hatten, zu ihnen herunter und zielte mit seinem großen Bogen auf sie. Es hatte die Sehne weit zurückgezogen und gleich zwei Pfeile eingespannt.

Pfeile mit einem gelben, schlangenförmigen Muster und Adlerfedern am Schaftende.

Tödliche Pfeile.

Jacob dachte an seinen Army Colt und an Billys Colt Dragoon. Die Waffen steckten in ihren Holstern. Sie hatten ihre Hände zum Klettern gebraucht und auch nicht gewusst, dass sie dem ominösen Bogenschützen so nah waren. Die beiden Männer an der steilen Felswand konnten versuchen, ihre Waffen zu ziehen. Aber es war wegen ihres schlechten Halts ein umständliches Manöver. Das unheimliche Wesen – war es das sagenhafte Phantom der Rocky Mountains? – würde Zeit genug haben, sie mit seinen Pfeilen zu durchbohren.

Außerdem wollte Jacob ihm nichts antun. Er hatte den Bogenschützen nicht aus Feindseligkeit verfolgt, sondern aus Neugier. Der Fremde hatte den Siedlern zweimal Beistand geleistet.

Erst hatte er geholfen, den einäugigen Berglöwen zu erlegen, der Jacobs Freund Martin Bauer angefallen und schwer verletzt hatte. Dann hatten seine Pfeile Jed Harper und den bulligen Hoss durchbohrt, als die Killer Jacob und seine Begleiter erschießen wollten.

Jacob wollte herausfinden, was es mit diesem seltsamen Wesen auf sich hatte. Ob es ein Mensch war oder – was auch immer. Er wollte ergründen, weshalb der Bogenschütze den Siedlern half und sie dennoch mied.

Vielleicht konnte er sich sogar bei dem Bogenschützen revanchieren, ihm helfen, denn er musste verwundet sein. Jacob hatte unten am Felsen frisches Blut entdeckt. Hoss’ letzte Kugel hatte ihn wohl erwischt.

Jacob sah hinauf zu dem Bogenschützen. Auf den ersten Blick wirkte er wie ein aufrecht gehendes Tier. Dafür sorgte das umgehängte Bärenfell, dessen Kopfteil auf dem Schädel des Fremden saß. Es sah aus, als wären die aufgerichteten Bärenohren seine eigenen.

Aber unter dem Fell erkannte der junge Deutsche die Gestalt eines Menschen. Eines alten Menschen, dessen Gesicht zum großen Teil von einem grauen Bart überwuchert war. Die Augen in dem Gesicht flackerten, und Jacob las in ihnen Angst. Angst vor Jacob und Billy.

»Wir wollen Ihnen nichts tun!«, rief Jacob nach oben. »Wir sind Ihre Freunde. Sie haben uns geholfen, und wir wollen Ihnen helfen.«

Er wusste nicht, ob ihn der Fremde verstand. Sicher, das Phantom der Rocky Mountains war offenbar ein Mensch. Aber das musste nicht heißen, dass er die Sprache der Weißen verstand. Bogen und Pfeile deuteten daraufhin, dass sie es mit einem Indianer zu tun hatten. Wenn sich der Halbindianer Billy Calhoun auch nicht erklären konnte, zu welchem Stamm er gehören mochte.

Jacob konnte nicht viel von der Haut des Fremden sehen. Nur die Hände und den oberen Teil des Gesichts. Die Haut wirkte dunkel, wie die eines Indianers.

Reglos wie eine in den Stein gehauene Statue hatte der Bogenschütze bisher dort oben auf dem Felsen gestanden, wo er, wie aus dem Boden gewachsen, plötzlich aufgetaucht war. Aber jetzt begannen seine Hände zu zittern. Sie lösten sich von der Sehne, und die Pfeile schwirrten davon, auf Jacob und Billy zu.

Die gefiederten Geschosse verfehlten ihr Ziel um ein gutes Stück und schlugen wirkungslos unten auf den felsigen Boden. Jacob und Billy hörten das Splittern des Holzes, als ein Pfeil beim Aufprall zerbarst.

Auch über ihnen gab es einen Aufprall. Der Bogenschütze war gestürzt. Eine Schwäche, wahrscheinlich aufgrund seiner Verwundung, hatte ihn übermannt.

Jacob war sich ziemlich sicher, dass er sie nicht hatte töten wollen, als er die Pfeile von der Sehne schnellen ließ. Nur aus Angst hatte er auf sie angelegt. Dann hatte ihn die Kraft verlassen, die Sehne länger gespannt zu halten.

»Hilf mir hinauf, Billy«, sagte Jacob, der seine linke Hand in einem Felsloch festgekrallt hatte und sich nach oben zog.

Das Halbblut stützte ihn ab und keuchte: »Seien Sie vorsichtig, Mr. Adler! Vielleicht spielt er nur den toten Mann.«

»Das glaube ich nicht. Er hätte uns längst töten können. Ich denke, er braucht unsere Hilfe.«

Hastig und dennoch vorsichtig suchte Jacob nach Vorsprüngen und Vertiefungen im Fels, die ihm beim Klettern Halt boten. Hastig, weil der Bogenschütze vielleicht dringend auf Hilfe angewiesen war. Vorsichtig, weil Jacob nach all den gefährlichen Abenteuern, die er bei seiner Reise quer durch den amerikanischen Kontinent bereits überstanden hatte, nicht wegen eines simplen Fehltritts in die Tiefe stürzen wollte. Endlich konnte er sich oben aufs Plateau ziehen und Billy helfen, ebenfalls heraufzukommen.

Der Bogenschütze lag lang ausgestreckt mit dem Gesicht am Boden vor ihnen. Den großen Bogen hielt er noch in der Hand. Die meisten Pfeile waren aus seinem auf den Rücken geschnallten Fellköcher gerutscht und lagen verstreut um ihn herum.

Jacob kniete sich hin, beugte sich über den Reglosen und drehte ihn vorsichtig herum. Die rechte Hand des Siedlers wurde feucht. An ihr klebte Blut. Hoss’ Kugel war in die die rechte Seite des Bogenschützen gefahren und darin stecken geblieben.

Es war eine ziemlich üble Wunde. Jacob wunderte sich, dass es der alte Mann damit überhaupt so weit geschafft hatte. Trotz seines Alters musste er sehr zäh sein.

Zäh wie ein Indianer? Nein, es war ein Weißer. Das verrieten die Gesichtsform und die tiefblauen Augen. Die Sonne hatte die Haut des Alten so tief gebräunt, dass sie der Haut eines Indianers glich.

Die Augen des Mannes waren geschlossen. Aber er lebte noch, atmete schwach. Fasziniert starrte Jacob in das verwitterte Gesicht. Es erinnerte ihn an etwas, aber er vermochte nicht zu sagen, an was. Als hätte er den Mann schon einmal gesehen. Doch das hielt er für ausgeschlossen.

»Da hast du dein geheimnisvolles Phantom, Billy. Es geht ihm ziemlich dreckig. Kannst du etwas für ihn tun?«

Der junge Scout untersuchte vorsichtig die Wunde. Der Respekt, mit dem er den Alten behandelte, zeigte Jacob, dass in dem Halbblut noch immer eine große Scheu vor dem >Phantom der Rocky Mountains< steckte.

»Die Kugel steckt zu tief drin«, stellte Billy fest. »Nur ein Arzt könnte sie vielleicht herausholen. Wir können das Phan…« – das Halbblut stockte und verbesserte sich – »den Mann nur verbinden und hoffen, dass die Blutung zu stillen ist. In meinen Satteltaschen habe ich ein paar Kräuter, mit denen das vielleicht gelingt.«

Jacob riss ein paar Stoffstreifen von seinem Hemd ab, mit denen sie den Alten verbanden. Es war eine Notlösung. Unten im Geistercanyon, wo ihre Packtiere mit dem Verbandszeug standen, würden sie einen neuen Verband anlegen. Und Billy konnte dann seine Kräuter zum Einsatz bringen.

Sie hatten zum ersten Mal Zeit, sich das Phantom und seine Ausrüstung genauer anzusehen.

Seine einfache Kleidung aus Fellen und Tierhäuten entstammte, wie Billy feststellte, indianischer Fertigung. Wenn das Halbblut auch nicht sagen konnte, von welchem Stamm.

Die Verzierung mit Stachelschweinborsten war sehr einfach gehalten und ließ keine weitergehenden Schlüsse zu. Auch die Halskette aus den Zähnen eines Bären war nach Billys Aussage bei vielen Indianerstämmen verbreitet.

Die Füße steckten in extrem dicken Mokassins aus Hirschleder, die stiefelartig bis zum Unterschenkel reichten. Die Dicke diente wahrscheinlich dem Schutz vor den scharfen Felsen hier im Gebirge. Deshalb also hatte das Phantom, wie Jacob den Mann in Gedanken noch immer nannte, diesen unförmigen Fußabdruck an der Stelle hinterlassen, von wo aus er auf den einäugigen Berglöwen geschossen hatte.

An einem um die Hüfte des Mannes geschlungenen Ledergürtel hingen sein Messer, sein Beil und ein großer Lederbeutel mit getrocknetem Fleisch. Messer und Beil waren gewiss nicht indianischen Ursprungs. Es handelte sich um ein handliches Beil, wie es auch die Siedler in den Werkzeugkästen ihrer Wagen mit sich führten, und um ein Bowiemesser, dessen Griffschalen aus Elfenbein mit Kupfernieten beschlagen haben.

Jacob und Billy standen vor einem Rätsel bei dieser seltsamen Mischung aus einem Weißen und einem Indianer. So wie Jacob vor einem weiteren Rätsel stand, weil ihm das Gesicht des Mannes bekannt vorkam und doch, so sehr er auch grübelte, unbekannt blieb. Dabei hatte er das Gefühl, es erst vor ganz kurzer Zeit gesehen zu haben.

Der junge Deutsche feuerte seinen Revolver zweimal kurz hintereinander ab. Das Zeichen für den zweiten Suchtrupp, dass er und Billy fündig geworden waren. Es dauerte keine zehn Minuten, da erreichten Custis Hunter, Melvin Freeman und Sam Kelley den großen Felsblock.

»Was macht ihr da oben?«, rief Sam zu ihnen herauf.

»Hier oben bei uns liegt das Phantom«, verkündete Jacob zum Erstaunen seiner drei Gefährten.

»Es liegt bei euch?«, wiederholte der schwarze Schmied ungläubig. »Schläft es etwa?«

»Nein«, erwiderte Jacob und klärte die drei Männer über die Umstände auf. »Nach hinten flacht der Felsblock nicht so steil ab. Billy und ich können den Mann da hinuntertragen. Sucht einen Weg um den Felsen herum und erwartet uns da. Aus euren Jacken könnt ihr schon mal eine provisorische Trage basteln, auf der wir den Verletzten nach unten in den Canyon bringen können.«

»Aber nicht durch den Kamin, durch den wir aufs Plateau geklettert sind«, meinte Sam. »Das hält er bestimmt nicht aus.«

»Stimmt. Aber es muss einen einfacheren Weg in den Canyon geben. Harper und seine Leute sind gewiss nicht durch den Kamin heraufgekommen. Sie kannten ihn gar nicht, sonst hätten sie mit dieser Möglichkeit gerechnet und uns nicht so einfach in den Rücken von Hoss und Skinny kommen lassen.«

Jacobs Vermutung bestätigte sich. Der Weg hinunter in den Geistercanyon war steil und gefährlich. Aber unter Anwendung größter Vorsicht bewältigten ihn die fünf Männer und der Verletzte auf der behelfsmäßigen Trage.

Auf halber Strecke wurde der Weg gangbarer. Dort fanden sie die Pferde der Killer, drei Reit- und zwei Packtiere. Jacob beschloss, sie mitzunehmen. Die drei Toten, die oben am Rand des Plateaus lagen, konnten die Pferde nicht mehr gebrauchen.

Endlich kamen sie zu ihren Gefährten, die inzwischen die bei der Schießerei in alle Richtungen gelaufenen Pferde und Maultiere wieder zusammengetrieben hatten. Zu Jacobs großer Erleichterung hatten die Siedler keine Verluste zu beklagen, nur zwei Leichtverletzte aufgrund von Streifschüssen.

Sie breiteten den alten Mann auf einer Decke aus und befreiten seinen hageren, knochigen Oberkörper vorsichtig von der Kleidung, um ihm einen besseren Verband anzulegen. Billy holte derweil die blutstillenden Kräuter aus seiner Satteltasche.

Jacob dachte über die vielfältigen Kenntnisse des jungen Halbbluts nach, als er plötzlich stutzte. Das Phantom trug um den Hals eine feingliedrige Kette, an der unter seiner Kleidung ein silbernes Medaillon hing. Ein in allen Einzelheiten identisches Medaillon hatte er erst am vergangenen Tag gesehen. Jetzt wusste er, weshalb ihm das Gesicht des Alten so bekannt vorgekommen war.

Nachdem sie dem Verletzten die Kräuter aufgetragen und den neuen Verband angelegt hatten, öffnete Jacob das Medaillon. Wie er erwartet hatte, enthielt es zwei winzige Fotografien.

Das eine Bild zeigte vier Kinder, drei heranwachsende Mädchen und einen kleinen Jungen.

Auf dem anderen Bild sah man zwei Erwachsene, einen hageren Mann und eine rundliche Frau, die vor ihm auf einem Stuhl saß. Das Gesicht des Mannes ähnelte sehr stark dem des vermeintlichen Phantoms. Man hätte sie für identisch halten können, hätte der Mann auf der Fotografie nicht etwa zwanzig Jahre jünger ausgesehen. Und Jacob wusste genau, dass die Fotografie erst ungefähr fünf Jahre alt war.

Und dennoch – konnte das sein?

Jetzt war Jacobs Ansporn, den Verletzten lebend zum Treck zu bringen, noch um einiges größer. Je länger er über die Sache nachdachte, desto mehr wurde sein Verdacht zur Gewissheit.

Für die Siedler, die von der Lawine begraben worden waren, konnten sie nichts mehr tun. Der Geistercanyon bildete ihr natürliches Grab und verdiente seinen unheimlichen Namen nun umso mehr. Es hätte zu viel Zeit gekostet, alle auszugraben, um ihnen ein christliches Begräbnis zu verschaffen.

Zeit war das, was die Siedler nicht hatten. Die Sonne hatte sich innerhalb der letzten Stunde hinter einer dicken Dunstschicht versteckt. Es war ganz plötzlich kalt geworden. Der Schneegeruch, den Jacob schon in der Nacht so deutlich verspürt hatte, lag jetzt noch um einiges stärker in der Luft. Der Treck der Siedler über die Rocky Mountains war ein Rennen gegen die Zeit – gegen den Winter, der den Wagenzug mit seinen Schneemassen einzuschließen drohte.

Quelle:

  • Jörg Kastner: Amerika – Abenteuer in der Neuen Welt. Band 12. Bastei Verlag. Köln. 27.11.2018