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Der Welt-Detektiv Band 6

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Aus dem Wigwam – Der Totenvogel

Karl Knortz
Aus dem Wigwam
Uralte und neue Märchen und Sagen der nordamerikanischen Indianer
Otto Spamer Verlag. Leipzig. 1880

Der Totenvogel

uf dem linken Ufer des Mississippi, zwei Meilen unterhalb Little Crow’s Village, liegt die sogenannte rote Felsenprärie, die von den Indianern göttlich verehrt und häufig mit Tabak, Waffen, Esswaren usw. versorgt wird. Dicht bei jenem Dorf liegen zwei kleine Inseln, von denen eine die Jungferninsel getauft ist, weil die Rothäute dort früher jährlich ihr Jungfernfest abgehalten haben sollen. Wenn sich Japanerinnen gegen die Keuschheit vergehen, so bestrafen sie sich auch selbst dafür und geben sich zuweilen den Tod, indem sie sich von einem hohen Felsen hinunterstürzen oder an einem ganz dünnen Baum aufhängen. Einen dünnen Baum wählen sie nämlich deshalb, weil sie glauben, sie müssten denselben bei der Seelenreise ins Jenseits beständig nachschleppen. Von dieser Insel erzählt man sich folgende Geschichte:

In der Umgegend lebte ein mächtiger Häuptling von geachteter Linie. Er führte den schwersten Bogen und besaß solche Kraft in seinen Armen, dass er seinen Pfeil durch den dicksten Büffel schießen konnte. Er hatte auch eine wunderschöne Tochter, Wowanosch, sie war 16 Jahre alt und besaß alle erforderlichen Eigenschaften, welche das Ideal einer wahren Japanerin ausmachen. Sie hatte sich auch schon verliebt, und zwar in einen ganz jungen Krieger, der sich aber noch keiner außergewöhnlichen Heldentaten rühmen konnte.

Deshalb war der Alte natürlich böse und sprach zu ihm: »Höre, mein Sohn, du stammst aus dem ganz gemeinen Volk, hast keine Ahnen, auf die du stolz sein kannst, und vor deinem Wigwam flattern noch keine Skalpe! Bedenke, wie viele Häuptlinge würden sich glücklich schätzen, wenn sie mich Schwiegervater nennen und meine Freunde sein könnten! Darum nimm den Rat auf deinen Wunsch als Antwort: Gehe hin und erwerbe dir erst einen geachteten Namen und sprich dann wieder bei mir vor!«

Der junge Krieger ging hin und rief alle seine Bekannten zu einem Krieg gegen einen feindlich gesinnten Stamm zusammen. Sie kamen auch alle, bewaffneten sich vorschriftsmäßig, zündeten dann ein großes Feuer an und führten mit Begleitung ermutigender Gesänge ihre Kriegstänze auf. Darauf zogen sie ganz vergnügt ab und ließen nur Freudiges von sich hören. Aber unser Held fiel im Gefecht. Als Wowanosch diese Botschaft überbracht wurde, erblassten ihre Wangen und ihre lustigen Lieder verstummten. Ihr einziges Vergnügen bestand nur noch darin, dass sie sich täglich unter einen abgelegenen Baum setzte und die Lüfte mit ihrem Trauergesang erfüllte. Zuletzt erschien ihr jedes Mal ein wunderschöner Vogel, der ihre Gesänge beantwortete. Sie hielt ihn für die Seele ihres Geliebten und war von nun an von jenem Baum nicht mehr hinwegzubringen. Zuletzt verschwand sie gänzlich. Nach langem Suchen fand man sie auf der erwähnten Insel an einem dünnen Bäumchen hängen.

Den Vogel sah man auch nicht mehr. er hatte die Seele des Mädchens nach Ponema begleitet.