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Deutsche Märchen und Sagen 42

Johann Wilhelm Wolf
Deutsche Märchen und Sagen
Leipzig, F. A. Brockhaus, 1845

42. Muttertränen

Des Thomas Cantipratensis Großmutter hatte einen Sohn, den Erstling ihrer Ehe, der war schön und liebenswürdig in jeder Hinsicht, aber er lebte nicht lange. Nach ihm gebar sie einen anderen, der wohl im Waffenwerk sich auszeichnete, aber daneben ein eitler Vogel und ein großer Verschwender war. Die arme Mutter konnte ihn nicht sehen, ohne an ihren guten Erstgeborenen zu denken und dabei vergoss sie jedes Mal reiche Tränen. Einmal nun hatte sie ihn auch wieder beweint, als ihr die folgende Erscheinung wurde. Sie sah eine Straße, worauf mehre Jünglinge in höchstem Jubel einherschritten. Alsbald gedachte sie ihres Sohnes und schaute zu, ob sie ihn nicht unter jenen fände, aber vergebens. Das fiel ihr schwer aufs Herz und sie weinte bitterlich darüber, doch nicht lange, denn sie erblickte bald nachher ihren Verlorenen, der mit langsamen Schritten auf der Straße einher schlich.

Da rief die gute Frau in großer Betrübnis: »Ach, Sohn! Warum gehst du denn so allein und nicht mit jenen anderen? Was hält dich zurück und hemmt deinen Schritt?«

Da wies der Geschiedene auf sein Kleid, welches schwer von Nässe war, und sprach: »Siehe, Mutter, das sind die Tränen, welche du unnütz um meinetwillen vergießest und deren Gewicht mich so sehr drückt, dass ich jenen unmöglich folgen kann. Lass diese denn und opfere sie vielmehr Gott auf, dann werde ich von diesem Hindernis frei werden.«

Das tat die Frau auch und weinte nicht fürder ob des Toten.