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Gruselkabinett Folge 144 – Der gewaltige Gott Pan

Marc Gruppe
Gruselkabinett Folge 144
Der gewaltige Gott Pan
Nach der gleichnamigen Erzählung von Arthur Machen

Schauer-Romantik, Hörspiel, Titania Medien, Hilden, 29. März 2019, Audio-CD, 77 Minuten, 8,95 Euro, ISBN 9783785759448, Illustration: Ertugrul Edirne, Layout: Doreen Edirne

www.titania-medien.de

[…] »Ich bin froh, dass Sie gekommen sind, Clarke; sehr froh. Ich war mir nicht sicher, ob Sie sich die Zeit nehmen können.«
»Ich konnte für ein paar Tage Vorkehrungen treffen. Die Dinge sind im Moment nicht sehr hektisch. Aber haben Sie keine Bedenken, Raymond? Ist es absolut sicher?«
Die beiden Männer schritten langsam auf die Terrasse vor Dr. Raymonds Haus. Die Sonne hing noch immer über der westlichen Bergkette, aber sie strahlte mit einem matten roten Licht, das keine Schatten wirft. Überall war die Luft ruhig; ein sanfter Lufthauch kam aus dem großen Wald am Hang darüber und mit ihm in Abständen der leise murmelnde Ruf der Wildtauben. Unten, in dem langen, schönen Tal, wand sich der Fluss zwischen den einsamen Hügeln hin und her. Als die Sonne allmählich sank und im Westen verschwand, begann ein schwacher Nebel, reinweiß, aus den Hügeln aufzusteigen. Dr. Raymond wandte sich mit Nachdruck an seinen Freund. […]

(Aus: Arthur Machen: The Great God Pan, Kapitel 1)

Außerhalb Londons 1864: Mr. Clarke willigt ein, als Zeuge einem gewagten Experiment seines Freundes Dr. Raymond beizuwohnen, welches eine leichte Gehirnoperation beinhaltet und der siebzehnjährigen Probandin Mary so Zugang zu geistigen Dimensionen eröffnen soll, in denen der gewaltige antike Gott Pan herrscht …

[…] Drei Tage später brachte Raymond Clarke an Marys Bett. Sie lag hellwach da, drehte den Kopf von einer Seite zur anderen und grinste leise.
»Ja«, sagte der Doktor, noch immer ziemlich kühl, »es ist sehr schade. Sie ist eine hoffnungslose Irre. Doch es konnte nicht anders sein. Schließlich hat sie den großen Gott Pan gesehen.« […]

(Aus: Arthur Machen: The Great God Pan, Kapitel 1)

Das Hörspiel Der gewaltige Gott Pan beginnt mit einem durchgeknallten Experiment in der Zeit spätviktorianischer Gehirnchirurgie an der jungen Frau Mary, die verrückt wird, nachdem sie einen kurzen Blick in das rein mit dem Verstand aufgefasste Universum geworfen hat, das jenseits unserer eigenen Welt existiert, wenn auch illusorisch, jedoch so real. Bald darauf wird es noch seltsamer.

Basierend auf Arthur Machens Vorlage schockiert Drehbuchautor Marc Gruppe seine Hörer weder mit schaurigen Beschreibungen blutiger Gewalt noch erschreckt er sie mit blutrünstigen Schreckgespenstern oder furchterregenden Monstern. Vielmehr entwickelt er eine dunkle Magie, indem er ein schleichendes Gefühl der Angst aufbaut, welche man durchaus als eine kumulierende Spannung bezeichnen kann, mit welcher das Hörspiel angereichert wird. Die Story entfaltet sich in einer Reihe von geschwätzigen Berichten, Tagebucheinträgen und Geschichten in Geschichten, eine Art russische Matroschka, die bis zum Rand mit durchsickernden, nebligen Gefahren, unerklärlichen Todesfällen und Wiederauferstehungen gefüllt ist.

Der Hörer wird häufig durch eine plötzliche Verschiebung von Zeit und Ort aus dem Gleichgewicht gebracht, Spekulationen über Helens Tod werden durch Gerüchte über ihre sexuellen Abenteuer in Südamerika verwischt, Jahre später taucht eine weitere mysteriöse Frau in London mit einer Vielzahl von Selbstmorden auf. Könnte diese todbringende Madame Beaumont die gleiche sein wie Helen Vaughan?

Das Hörspiel Der gewaltige Gott Pan schafft es, seinen Hörern unter die Haut zu gehen. Seine unerkannte Antiheldin, dunklen Andeutungen, bewusst herausgearbeitete strukturellen Lücken und Ausdrucksformen der Ehrfurcht vor dem unaussprechlichen Geheimnis unseres Universums sprechen direkt unsere Bedenken bezüglich der seltsamen Impulse an, die gelegentlich von unserer Identität ausgehen, die hochsubjektive Natur der Wahrnehmung und die Grenzen des menschlichen Wissens. Viel beängstigender als ein bloßes Monster ist die Vorstellung, dass wir nicht wirklich wissen, wer wir sind, warum wir leben und was unser Ziel ist. Die Story berührt ebenfalls unsere heutigen Befürchtungen hinsichtlich der Möglichkeiten medizinischer Veränderungen von Menschen. Sie verweilt nach dem Hören lange im Kopf, nicht weil sie Elemente von verruchten Frauen, vererbbaren Satanismus und verdammte Seelen enthält, sondern weil sie unseren eigenen Verdacht wieder weckt, dass die Wirklichkeit etwas ist, das wir nur schemenhaft wahrnehmen und nicht immer nachvollziehen können.

In den Dialogen zwischen Villiers und Clarke lässt sich an vielen Stellen heraushören, welche Ängste im spätviktorianischen Zeitalter in Bezug auf die bloße Erwähnung sexueller Handlungen zwischen Mann und Frau bestanden, jedoch nicht gegen die Dekadenz des Schöngeistes. So wird die Schönheit von Helen Vaughan nicht im Detail beschrieben, sondern es ist die Wirkung ihrer Schönheit, ihrer seelenverderbenden Wollust auf andere, die von Interesse ist.

Unstimmige Hintergrundgeräusche wie zum Beispiel das Krächzen einer Krähe (Anmerkung des Rezensenten: Im Originaltext der Novelle von Arthur Machen werden Wildtauben genannt) oder hallende Stimmen im Nebel, welche in der Natur gedämpft klingen, hätten vermieden werden können, schmälern jedoch aus meiner Sicht nicht das Gesamterscheinungsbild des vorliegenden Hörspiels, wirken jedoch beim Hören etwas aufgesetzt.

Fazit:
Das Ziel des Hörspiels Der gewaltige Gott Pan, die zeitlosen und verborgenen  Wirklichkeiten, die Dinge im Gegensatz zur Beschreibung flüchtiger Oberflächlichkeiten darzustellen sowie die trügerischen Masken, mit denen sich das menschliche Herz bedeckt und hinter denen es sich versteckt, herunterzureißen, hat Marc Gruppe mithilfe seines Skripts sehr gut umgesetzt. Das gesamte Team leistete ganze Arbeit, dass trotz Machens oft übertriebener und klobig wirkender Prosa ein Hörspiel produziert wurde, welches beim Hören unter die Haut geht.

Der gewaltige Gott Pan – ein Spiegelbild unserer ureigensten Abgründe.

(wb)