Der Welt-Detektiv – Band 13 – 1. Kapitel
Der Welt-Detektiv Nr. 13
Die unsichtbare Geheimpost
Verlagshaus für Volksliteratur und Kunst GmbH Berlin
1. Kapitel
Der rote Triangel
Miss Evelyne Condell war blass wie nie zuvor.
»Ich glaube, Sie haben Angst«, meinte George Buckin mit einem Lächeln. »Wie kann man nur so schrecklich furchtsam sein!«
Das junge Mädchen, das seit einem Vierteljahr als Sekretärin in Mr. Buckins Diensten stand, zitterte erregt.
»Sie sollten doch die Polizei verständigen!«, sagte sie. »Die Zeichen werden immer drohender und …«
»Die Zeichen stören mich gar nicht«, erwiderte Buckin und fuhr lachend fort: »Ein Scherz ist das alles, verlassen Sie sich darauf. Ich müsste meine guten Freunde doch nicht kennen! Angst wollen sie mir machen. Angst! Zittern wollen sie mich sehen!«
Miss Evelyne sah ihn zweifelnd an.
»Ich kann nicht glauben, was Sie sagen«, erwiderte sie dann. »Solche Scherze macht man nicht. Und dann sind da noch die Briefe, die Sie erhalten haben, Mr. Buckin.«
Der junge Gutsherr winkte ab.
»Alles Mummenschanz«, meinte er. »Nun seien Sie doch endlich vernünftig, Miss Condell. Was habe ich mit dem Triangel zu tun?«
»Der Triangel wendet sich an alle vermögenden Leute«, erwiderte das junge Mädchen unbeirrt. »Seit Monaten stehen die Zeitungen voll davon. Die Macht dieses Menschen muss unbeschreiblich groß sein.«
»Welcher Mensch?«
»Der, der sich Der rote Triangel nennt!«
Mr. Buckin seufzte komisch und hob die Arme.
»Der Kuckuck mag wissen, weshalb Sie so beharrlich bei Ihrer Meinung bleiben«, sagte er. »Aber verlassen Sie sich darauf: Auch wenn es sich bei den Drohungen nicht um einen Scherz meiner Freunde, sondern um eine ernst gemeinte Kampfansage jenes geheimnisvollen Verbrechers handelt, so habe ich dennoch keine Angst.«
»So hat auch Mr. Norman in London gesprochen«, konterte Evelyne erregt. »Auch er verlachte die Drohbriefe. Er lachte sogar noch, als man ihm eines Nachts das rote Dreieck an die Haustür malte. Man verlangte zwanzigtausend Pfund Sterling von ihm. Er sollte das Geld an einer bestimmten Stelle niederlegen. Er tat es nicht. Drei Tage später fand man ihn tot. Mit jener entsetzlichen, rätselhaften Wunde am Hals, die man auch schon bei anderen entdeckt hatte, die vor ihm Opfer des furchtbaren Verbrechers geworden waren.«
»Sie reden wie ein Buch, Miss Condell. Wer hat denn diese grausigen Geschichten erzählt?«
»Ich habe es in den Zeitungen gelesen.«
»Man sollte die Zeitungen verbieten und die Leute, die sie schreiben und drucken, einsperren!«, knurrte Buckin. »Im Übrigen können Sie sich darauf verlassen«, fuhr er fort, »dass mich keiner umbringt. Ich schieße recht gut und nehme es auch im Boxen mit einem halben Dutzend Dunkelmänner auf, wenn es absolut sein muss.«
Die Sekretärin seufzte.
»Sie wollen sich also wirklich nicht mit der Polizei in Verbindung setzen, Mr. Buckin? Wirklich nicht?«
»Ich denke nicht daran.«
»Und die zehntausend Pfund Sterling, die Der rote Triangel in seinem letzten Brief von Ihnen forderte, wollen Sie auch nicht zahlen?«
»Keine Idee!«
»Dann spielen Sie mit dem Tod«, rief Miss Evelyne außer sich vor Erregung. Der Triangel schont keinen Menschen, der sich nicht seinem Willen fügt!«
In diesem Augenblick wurde heftig an die Tür des Arbeitszimmers gepocht.
»Herein!«, rief Buckin.
Der Kammerdiener erschien.
»Hawkins, der Forstaufseher, ist gerade gekommen«, meldete er mit schreckensvoller Miene. »Er hat … Er will …«
Da drängte der Aufseher auch schon zur Tür herein.
»Mr. Buckin!«, rief er, während das Entsetzen in seinen Augen leuchtete. »Mr. Buckin! Ich komme von der Landstraße … von dort, wo sich die Fahrstraße nach hier abzweigt. Dort ist ein Wegweiser. Aber die Schrift ist verschwunden. An ihrer Stelle sieht man jetzt ein blutrotes Dreieck.«
Die Sekretärin schrie auf.
Buckin presste die Lippen zusammen.
»Ein Dreieck?«, wiederholte er. »Von blutroter Farbe?« Er starrte vor sich hin.
Dann hob er den Kopf.
»Es ist gut. Hawkins. Veranlassen Sie, dass man das Dreieck wieder übermalt.«
Hawkins wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Verzeihen Sie. Mr. Buckin«, sagte er. »Aber … Haben Sie vielleicht … Haben Sie vielleicht einen Drohbrief bekommen?«
»Ich? Wie kommen Sie darauf?«
»Weil ich vor einigen Wochen in der Zeitung gelesen habe, dass es einen Verbrecher gibt, der seinen Opfern Drohbriefe schreibt, in denen er Geld verlangt. Wenn er das Geld nicht bekommt, malt er ein furchtbares Zeichen an das Haus seines Opfers, um zu zeigen, dass er es ernst meint.«
Der junge Gutsherr wehrte nervös ab.
»Möglich«, sagte er. »Dass es so einen Menschen gibt, aber ich habe keinen Drohbrief bekommen. Mit dem Dreieck da am Wegweiser hat sich wohl jemand einen dummen Scherz erlaubt. Gehen Sie nur, Hawkins. Es wäre wirklich töricht, wenn Sie sich unnötige Gedanken machten.«
Hawkins schienen diese Worte wirklich zu beruhigen. Kaum hatte sich die Tür hinter ihm geschlossen, trat Miss Evelyne Condell erregt vor ihren Chef.
»So weit ist es also schon! Der furchtbare Mensch hält sich schon in der Nähe auf! Wenn Sie unter diesen Umständen immer noch nicht die Polizei verständigen wollen, werde ich das tun!«, erklärte sie in höchster Erregung.
Buckin sah seine Sekretärin erstaunt an. Anscheinend hatte er sie noch nie so erregt gesehen. Gerade dieser Umstand ließ ihn nun doch nachdenklich werden.
Er verschränkte die Arme auf dem Rücken und durchmaß einige Male mit langen Schritten den Raum. Schließlich blieb er stehen.
»Gut«, sagte er. »Sie sollen Ihren Willen haben. Das heißt, mit einer kleinen Abweichung. Wir werden nicht die Polizei, sondern jemand anderes über die merkwürdigen Vorkommnisse informieren. Einen Mann, der sich besser mit solchen Geschichten auskennt. Wissen Sie schon, wen ich meine?«
Die Sekretärin schüttelte den Kopf.
»Dann will ich es Ihnen sagen! Der Mann heißt Sherlock Holmes!«
Evelyne Condell schien von diesem Vorschlag wenig begeistert zu sein. »Vielleicht hält sich Mr. Holmes gar nicht in London auf«, meinte sie. »Oder er hat anderweitig zu tun. Und selbst wenn er Ihnen Hilfe zusagt, könnte er frühestens morgen Vormittag hier sein. Ich würde es für weit richtiger halten, einstweilen die Gendarmerie in Ostly zu benachrichtigen.«
Buckin wehrte ab.
»Wenn man Sie so reden hört«, konstatierte er, »kann man wirklich Angst bekommen. Sie scheinen ernsthaft anzunehmen, dass mich der werte Mister Triangel heute Nacht besucht, um mir den Garaus zu machen. Nein, meine Liebe, so eilig wird er es ja doch nicht haben. Und was seinen Besuch anbelangt, erinnern Sie sich ja wohl noch an das, was ich Ihnen vorhin über meine Schieß- und Boxkünste mitteilte. Es bleibt dabei. Wir werden Sherlock Holmes verständigen und ihn um sein sofortiges Kommen bitten, obwohl ich nach wie vor der Meinung bin, dass man sich mit mir nur einen Scherz erlaubt. Dort liegt das Londoner Telefonbuch. Sie werden darin die Rufnummer des Weltdetektivs finden. Melden Sie das Gespräch an, und wenn es kommt, rufen Sie mich.« Damit verließ er das Zimmer.
Eine Stunde später war die Verbindung hergestellt. Sherlock Holmes war selbst am Apparat. Nur wenige Minuten später war die Unterredung beendet, dann legte Mr. Buck den Hörer wieder zurück.
»Alles klar«, sagte er. »Mr. Holmes kommt. Er nimmt den Nachtzug bis Petersfield und fährt dann mit der Kleinbahn weiter. Nach einem zweistündigen Aufenthalt erreicht er Ostly morgen Vormittag um acht Uhr. Dort wird ihn unser Wagen erwarten. Um neun Uhr kann er morgen also hier sein. Sind Sie nun zufrieden, Miss Gondell?«
»Zufrieden nicht, Mr. Buckin«, erwiderte Evelyne, »denn wer weiß, was bis morgen Vormittag alles geschehen kann.«
»Was sind Sie doch für ein furchtsames Mädel!«, spöttelte Buckin.
Dann wurde nicht mehr von dem dunklen Geheimnis gesprochen, das schwer und drückend über Buckins Besitzung lastete.
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