Felsenherz der Trapper – Teil 01.4
Felsenherz, der Trapper
Selbst Erlebtes aus den Indianergebieten erzählt von Kapitän William Käbler
Erstveröffentlichung im Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1922
Überarbeiteter Text
Band 1
Die Felsenfarm
Viertes Kapitel
Das Ende der Felsenfarm
Am Morgen nach dem beruhigenden Kundschafteritt des alten Birth, der die Gemüter der Ansiedler sehr beruhigt hatte, wollte Harry am anderen Ufer des Mazapil einen Hirsch schießen, dessen Standplatz er bereits genau kannte.
Helene begleitete ihn bis zur Furt nördlich der Farm. Sie machte keinen Hehl daraus, dass sie die Nähe der Mescalero und der Comanchen noch immer ängstigte.
»Ich hatte so schlechte Träume, Harry«, sagte sie trübe. »Kehre recht bald zurück. Auf Birth ist so wenig Verlass. Mutter hat zwar das Rumfässchen jetzt versteckt. Aber Birth scheint sich heimlich schon ein paar Flaschen gefüllt zu haben. Ich traf ihn vorhin im Stall. Er verbarg schnell etwas unter dem Heu.«
Sie hatten die Furt erreicht. Helene gab dem Jugendgespielen die Hand. Beider Blicke ruhten lange und zärtlich ineinander. Plötzlich beugte sich Harry zu ihr herab, küsste Helene auf die Lippen und sagte glücklich: »So, nun sind wir ein Brautpaar, Helene! Habe keine Sorge, in drei Stunden bin ich wieder bei dir! Leb’ wohl!«
Sein brauner Schuh patschte in das seichte Wasser. In der Mitte des Flusses drehte Harry sich noch einmal um und schwenkte seinen großen Schlapphut. Helene winkte mit der Hand. Ihr war so seltsam schwer ums Herz. Langsam trat sie den Rückweg an.
Seine Gedanken waren erst noch bei Helene, beschäftigten sich dann aber bald ausschließlich mit dem jungen Comanchenhäuptling.
Harry sprengte im Galopp am jenseitigen Ufer über einen Streifen Prärie und gelangte bald in ein sumpfiges Gebiet, das von Gebüschgruppen durchzogen war und in dem es stets Wild zu jagen gab.
Im Gegensatz zu Helene fühlte er sich heute so heiter und glücklich wie nie zuvor in seinem Leben. Seine großen, graublauen Augen leuchteten vor Jagdeifer und jugendlichem Frohsinn. Die Zipfel seines rotseidenen Halstuchs, das er eher als Schmuck trug, flatterten lustig hinter ihm her. Sein hirschlederner Jagdanzug, unter dessen Jacke das gestreifte Baumwollhemd hervorlugte, schützte ihn vor den bereits recht lästigen Sonnenstrahlen.
Es war merkwürdig, dass er den Schwarzen Panther nicht vergessen konnte und dass sich in ihm ein Gefühl der Zuneigung für den schlanken, kraftvollen Comanchen immer stärker einstellte. Vergebens grübelte er darüber nach, wie dieses Gefühl für den Häuptling, den er doch eher als Feind denn als Freund betrachten musste, entstanden sein könnte. Wenn er sich die Szene, in der sie sich mit stoßbereiten Messern ins Auge geschaut hatten, nochmals vergegenwärtigte, dann merkte er mit aller Deutlichkeit, dass selbst in diesem kritischen Augenblick kaum wahre Feindseligkeit in seiner Brust gegen Chokariga aufgelodert war.
All das war so seltsam. Und nicht minder seltsam war es gewesen, dass der Comanche mit solcher Aufmerksamkeit auf den deutschen Hilferuf Helenes achtgegeben hatte.
Harry hatte das Gefühl, dass der junge Häuptling und er selbst durch eine unsichtbare Verbindung miteinander verbunden waren. Er freute sich auf ein Wiedersehen mit Chokariga und war fest überzeugt, dass jener den deutschen Farmern das Verbleiben auf der Halbinsel des Mazapil ohne weiteres gestatten würde.
Plötzlich wurde seine Aufmerksamkeit durch eine Hirschkuh abgelenkt, die dicht vor ihm mit einem Hirschkälbchen flüchtig vorüberschritt.
Eine halbe Stunde später hatte er seinen Braunen in einem Gebüsch zurückgelassen und umschlich ein Dickicht, in dem sich der Hirsch, auf den er es abgesehen hatte, tagsüber niederzutun pflegte. Er fand auch eine frische Fährte, die in die Dickung hineinführte. Da der Wind günstig stand und ihn dem Wild nicht verraten konnte, versuchte er, den Hirsch anzuschleichen.
Er hatte Glück. Bald sah er über einem Vorhang aus wildem Hopfen das mächtige Geweih des ruhenden Tieres. Da er seinen Schuss sicher ansetzen konnte, rechnete er aus, wo sich der Kopf des Hirsches befinden musste, zielte und drückte ab.
Nach dem Schuss tat der Hirsch nur noch einen einzigen Satz und brach dann zusammen.
Harry weidete das Wild schnell aus. Sein Brauner würde ihn schon bis zur Farm tragen, samt dem prächtigen Geweih.
Er richtete sich auf, wischte das blutige Jagdmesser mit einem Büschel Gras ab – und fühlte plötzlich, wie ihm eine Lassoschlinge über den Kopf flog und sofort mit einem harten Ruck nach hinten zugezogen wurde. Das Messer entfiel seiner Hand. Er taumelte nach hinten.
Ein neuer Ruck, und er schlug lang hin. Vergeblich suchte er, die Schlinge mit den Händen zu lockern. Ihm begannen die Sinne zu schwinden. Er fühlte, wie man ihm eine stinkende Pferdedecke über den Kopf warf, wie er an Armen und Beinen gepackt wurde und wie man ihm Lederriemen um die Gelenke schnürte.
Dann verlor er für kurze Zeit die Besinnung.
Als er wieder zu sich kam, war er allein. Er war an eine junge Eiche gefesselt, die in einer felsigen Schlucht in dem harten Boden gerade einer breiten Felsspalte gegenüber Wurzeln geschlagen hatte. Die Decke hatte man ihm abgenommen. Die Sonne schien in die düstere Schlucht hinein und er konnte alles ringsum genau erkennen.
Harrys Augen schauten jetzt voller wachsender Unruhe zur Felsspalte hinüber, vor der eine Menge Knochen, teilweise noch mit Hautfetzen, sowie Tierschädel lagen.
Blitzartig wurde ihm die grausame Heimtücke derjenigen klar, die ihn überfallen und hierhergebracht hatten. Er wusste nicht, wer ihn mit dem Lasso so überraschend niedergerissen hatte.
Die Spalte dort war zweifellos der Eingang zur Höhle eines Bären, vielleicht sogar eines Grizzlys!
Birth hatte erwähnt, dass ein grauer Bär jenseits des Flusses hauste.
Wer aber konnte ihm diesen entsetzlichen Tod zugedacht haben, fragte Harry sich immer wieder. Vielleicht der Mescalero Wikuna? Ja, nur dieser kam hier in Betracht. Der Schwarze Panther hätte für ihn niemals eine so grausame Todesart ersonnen!
Harry wusste nur zu gut, dass der Grizzly den Menschen auch dann angreift, wenn er nicht gereizt wird.
Die Todesangst trieb dem armen Gefesselten schnell den Schweiß auf die Stirn. Mit aller Kraft zerrte er an den Lederriemen. Er spürte, wie ihm das Blut über die Hände lief und die Riemen sich immer tiefer in die Haut schnitten.
Er musste freikommen – um jeden Preis! Um jeden Preis!
Helenes Bild huschte durch sein Hirn. Er dachte an ihre Tränen, die sie um ihn vergießen würde, wenn er nicht heimkehrte.
Und er dachte an die Gefahr, die der Farm ohne Zweifel drohte.
Da, in der Felsspalte, erschien der hellgraue Kopf eines riesigen Grizzlys.
Harry wurde einen Moment schwarz vor Augen. Dann spürte er einen neuen, kraftvollen Ruck an den Armfesseln. Sie gaben nach, und sein rechter Arm war frei.
Der Bär hatte die Spalte bereits verlassen und trottete nun auf sein Opfer zu.
Harry Felsen beobachtete den Grizzly. Langsam hob er den freien Arm und zog die billige Vorstecknadel aus dem Knoten des rotseidenen Halstuches, das Helene ihm in El Paso geschenkt hatte – eine Krawattennadel mit einer Koralle.
Da richtete der Bär sich vor ihm auf und ließ ein gurgelndes Brummen hören, das wie ein wütendes Röcheln klang.
Und er kam näher. Seine tückischen Augen umspielten die menschliche Beute.
Noch zwei Schritte war er entfernt, seine Vorderpranken streckten sich hoch, um das Opfer in einer tödlichen Umarmung zu zerdrücken. Harry Felsens Herzschlag stockte. Jetzt kam es darauf an, dass er seine Ruhe bewahrte und seine Hand nicht zitterte.
Und diese Hand, die nur mit einer Nadel bewaffnet war, flog nun vorwärts.
Harry stach zweimal zu und traf die Augen der Bestie mit der schier harmlosen Waffe.
Dann folgte ein Fausthieb, wie nur Harry ihn austeilen konnte, direkt auf die Nase des Grizzlys.
Das geblendete Untier taumelte zurück, heulte auf und wischte sich mit den Vorderpfoten über die blutenden Augen.
Harry suchte die Knoten der Riemen, fand sie und öffnete sie. Er war frei!
Wie automatisch hob er die Nadel auf, die er vorhin hatte fallen lassen, und steckte sie wieder in das Halstuch zurück.
Der Grizzly hatte sich niedergelegt und wischte immer noch mit den Pfoten über seine blutüberströmte Schnauze.
Der junge Farmer fühlte jetzt fast Mitleid mit dem des Augenlichts beraubten Tier. Er wollte es nicht seinem Schicksal überlassen. Dort drüben lag ein wohl zwei Zentner schwerer Stein. Harry wuchtete ihn hoch, schlich im Bogen hinter den Grizzly, zielte kurz und schmetterte den Felsblock dem geblendeten Bären auf den Schädel.
Wie vom Blitz getroffen sank die Bestie zusammen. Nach ein paar krampfhaften Zuckungen hatte der Grizzly ausgelitten.
Harry stürmte schon davon. Und tatsächlich – sein Brauner stand noch in demselben Gebüsch, das Harry allerdings erst nach einer halben Stunde wiedergefunden hatte.
Er schwang sich in den Sattel. Im Galopp ging es durch das Sumpfgebiet hindurch und über die Prärie hinweg.
Die im Sonnenlicht gleißenden Gewässer des Mazapil tauchten auf.
Plötzlich zog Harry so scharf an den Zügeln, dass sein Pferd auf die Hinterhand rutschte.
Die Augen des jungen Deutschen stierten nach links.
Dort drüben lag die Halbinsel, von der dunkle Rauchwolken aufstiegen, die sich bereits in der Luft zu grauen Dunstschleiern angesammelt hatten.
Ein wilder Schrei entrang sich Harrys Brust.
Der Braune jagte weiter der Furt zu, weiter am Ufer entlang, unter den Eichen dahin, bis an die Felsterrasse, auf der die beiden Blockhäuser in hellen Flammen standen.
Harry hastete den Engpass empor.
Dort lag Helene, tot! In ihrem Kopf steckte noch ein Tomahawk. Ihr Gesicht war über und über mit Blut bedeckt.
Harry sank in die Knie und griff nach der schon erkalteten Hand seiner Geliebten.
Kein Pulsschlag mehr. Das Leben war längst entflohen.
Taumelnd erhob er sich. Seine Züge waren verzerrt, seine Augen weit aufgerissen. Wie ein Irrer schwankte er dem brennenden Wohnhaus zu. Da lagen der alte Felsen und seine Frau, beide skalpiert, vor dem Stallgebäude. Arnold Felsen hatte eine furchtbare Halswunde, auch er war hingemordet und skalpiert worden.
Harry fühlte, wie ihn mit einem Mal eine unnatürliche Ruhe überkam. Es war, als sei in seinem Inneren etwas zersprungen – vielleicht sein jugendfrohes Herz. Er suchte weiter. Hinter dem Steil fand er auch den alten Birth, dem ein indianischer Pfeil in der Brust steckte. Auch er war skalpiert worden.
Harry bückte sich.
Da, der Puls des alten Farmers schlug noch ganz schwach.
Und der Sterbende öffnete noch einmal die Augen.
»Birth«, rief Harry, »Birth, wer waren die, die hier …«
Der Alte lallte mit kaum noch verständlicher Stimme: »Weiß nicht. War betrunken. Ein – ein roter Ba…«
Und mitten im Wort versagten ihm die Kräfte. Er schloss die Augen wieder, reckte sich, seufzte noch einmal und war dann tot.
Die Glut der brennenden Blockhäuser zwang Harry, die Felsterrasse zu verlassen. Krachend stürzten die Dächer ein, die Balkenwände brachen auseinander und begruben das Ehepaar Felsen, Arnold und den alten Trapper. Das Feuer loderte weiter, angefacht vom scharfen Ostwind, der über den Fluss strich.
Mit Helenes Leiche im Arm erreichte Harry, außer Atem, sein Pferd, stieg in den Sattel und hielt die tote Geliebte im Arm. Auf gut Glück ritt er in die Prärie hinaus.
Er wunderte sich über sich selbst, dass er nun gar keinen Schmerz mehr über den Verlust all seiner Lieben empfand. Sein Herz war erkaltet – für immer.
Und so ritt er weiter und weiter, bis der Braune ganz von selbst in einem buschreichen Tal im Norden der zerstörten Farm Halt machte.
Harry bettete die tote Braut in das saftige Gras. Dann überwand er sich, zog den Tomahawk aus dem gespaltenen Schädel und sein Blick fraß sich förmlich fest an dem geschnitzten Stiel des Schlachtbeils. Da, da war das Bild eines Panthers eingeritzt, das mit schwarzer Farbe ausgetauscht worden war!
»Der Comanche! Der Schwarze Panther!«, flüsterte Harry. »Also doch die Comanchen!«
Mit dem Beil grub er Helene ein Grab, füllte die Grube mit grünen Zweigen aus, legte die Tote hinein und kniete nieder.
»Helene!«, sagte er feierlich, als spräche er zu einer Lebenden. »Hier an deinem Grab schwöre ich, dass ich alle, die an diesem Blutbad teilgenommen haben, bis auf den letzten Mann auslöschen will! Und sollte mein Rachedurst je nachlassen, dann will ich hierher zurückkehren und an deiner Ruhestätte neue Kraft schöpfen, um mein Werk zu vollenden. Mein Herz soll fortan hart und erbarmungslos wie ein Felsen sein, so wie du hießest, meine Helene!«
Er erhob sich, bedeckte die Tote mit neuen Zweigen und Blumen, füllte das Grab mit Erde, setzte die ausgestochenen Rasenstücke wieder ein und legte obenauf einen großen, flachen Stein, der ungefähr die Form eines Herzens hatte.
Bis Sonnenuntergang saß er am Grab der Geliebten in dumpfem Brüten.
Alles – alles hatte dieser Tag ihm geraubt! Er stand nun allein da in der Welt.
Aber er hatte einen Lebensweg: die Rache! Er kannte das Gesetz der Wildnis, in der es keinen Richter gibt, der Untaten bestraft. Und das Gesetz des Wilden Westens lautet: Auge um Auge, Zahn um Zahn!
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