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Oberhessisches Sagenbuch Teil 24

Oberhessisches Sagenbuch
Aus dem Volksmund gesammelt von Theodor Bindewald
Verlag von Heyder und Zimmer, Frankfurt a. M., 1873

Der Liebchesborn bei Odenhausen

Auf der Rabenau zwischen Kesselbach und Odenhausen springt ein weithin bekannter und berühmter Born, der Liebchesborn. Aus seinem feinen süßen Wasser langt die Born-Eller allemal den Weibsleuten die Kinder, die sich in der Tiefe bei einer wunderschönen weißen Jungfrau befinden, die darin wohnen soll. Jedermann aus der Umgegend wusste sonst etwas Besonderes zu erzählen, was an dem Platz vor Zeiten geschehen war. Doch wer fragt heutzutage viel nach solchen Sachen? Aber eine Geschichte, die ich in meinen Bubenjahren viel gehört habe, ist mir nicht in Vergessenheit gekommen. Die lautet so: Einstmals hütete ein Schäfer mit seinem Mädchen am Liebchesborn. Als es Abend geworden war, wollte dieser, wie sie immer taten, die Herde durch die Kesselbacher Erlen in den Pferch treiben. Da sah es auf einmal auf dem Boden einen großen Haufen rotglühender großer Kohlen vor sich liegen. Verwundert betrachtete es einen Augenblick deren herrliches Gefunkel, dann scharrte es gedankenlos mit der Schäferschippe darin herum. Endlich, weil es doch fortmusste, steckte es, um den Platz nicht zu vergessen, die Schippe in die Erde nebenan. Dann lief es eilends fort, um seinem Vater die eigentümliche Begebenheit anzuzeigen.

Dieser, der im Feld seine Arbeit verrichtet hatte, vernahm kaum die hastigen Worte des Mädchens, als er merkte, was der Mär sein mochte, alles stehen und liegen ließ und, so schnell er konnte, zu der Feuerstätte hinrannte. Aber zu seinem unbeschreiblichen Schrecken war nichts mehr zu sehen. Im Gras zerstreut aber lagen statt der weggestrichenen Kohlen einige schwere, funkelnde Goldstücke.

Als er die sah, konnte er sich erst recht nicht zufriedengeben. Da er nun inne wurde, dass durch die geschwätzige Torheit des unbedachtsamen Mädchens der ungeheure Schatz, der so schön geblüht hatte, unrettbar für ihn verloren sei, ergriff ihn, als einen über die Maßen zornigen Man, solch eine starke Ärgernis, dass ihm die ganze Welt verleidet war und er trotz der flehentlichen Bitte seines Mädchens ein Seil aus dem Sack zog, um seinem Leben durch Erhängen ein hurtiges Ende zu machen. Indem er nun auf den Baum stieg und die Schlinge fest um den Hals anzog, sprach er gewohnheitsmäßig, wie zu allem, was er vornahm, auch zu solch teuflisch bösem Werk: »Gott walt’s!« Da platzte, trotz seines gewaltmäßigen Reißens, das Seil auseinander und er stürzte kopfüber zu Boden.

Als er von dem jähen Fall sich eben aufrichten wollte, sah er hinter sich ein kleines, uraltes, runzliges Graumännchen stehen.

Das sprach zu dem erschrockenen Mann: »Das war dein Glück, dass du so sagtest, sonst wollte ich dir schon das Seil fest gemacht haben, dass es dir zum Tode gehalten hätte. Jetzt aber lass ab von Sünde und werde ein besserer Mensch.«

Doch er in seinem Grimm sprach: »Lass mir meine Ruhe, dein Geschwätz ist für nichts, und hänge ich mich heute nicht, so hänge ich mich morgen!« Damit ging er hinweg.

Anderen Tages, als er in der Schüppelbach weidete, kam ihm sein böses Vorhaben wieder in den Sinn. Er suchte sich abermals einen Baum aus und war eben im Begriff, sich das Seil um den Hals zu werfen, als er auf dem Weg von Appenborn her einen kohlkesselschwarzen Mann daher kommen sah. Halt, dachte er, das ist kein Schornsteinfeger, das ist der luftige Teufel, der dich Sünder am letzten Ende holen will.

Vor Angst entfiel ihm das Seil. Weil er sich nicht anders zu helfen wusste, kniete er auf den Boden hin und fing an einen der heiligen Bußpsalmen laut und mit aller Inbrunst zu beten.

Mitten in diesem Gebet wurde er gewahr, dass die glänzende Gestalt der weißen Jungfrau aus dem Liebchesborn vor ihm stand.

Die sagte gar holdselig zu ihm: »Törichter Mensch, jetzt bist du auf dem Weg zum wahren Heil. Bleibe ja darauf. Tue Buße, versöhne dich mit Gott und der Kirche, sei liebreich gegen deine Hausgenossen und barmherzig gegen die Armem, und du wirst dann bald mehr von mir erfahren.«

Der erschütterte Schäfer versprach alles, und die Jungfrau verschwand. Einige Zeit danach, als er sich schon viel gegen sonst gebessert hatte, arbeitete er vor Sonnenaufgang an einem Ackerrain und stieß dabei auf einen harten Gegenstand. Emsig hackte er weiter und brachte zuletzt mühsam ein schweres eisernes Gefäß aus der Tiefe herauf. Als er es nach vielen vergeblichen Versuchen endlich öffnete, waren zu seiner Überraschung lauter große alte Kronentaler darin, ein paar tausend Stück, ein ganzer Reichtum!

Mit großer Freude, aber doch auch großer Vorsicht, trug er mit seinem Mädchen den wunderbaren Fund nach Hause. Des Nachts aber lag er wieder auf dem Feld in seiner engen Schäferhütte. Da erschien ihm kurz vor Mitternacht noch einmal die weiße Jungfrau.

Die sprach mit freudigem Mund zu ihm: »Ich sah, dass noch ein guter Funke in dir war. Darum habe ich dir diesen Reichtum, der mir doch nichts nützt, zugewendet. Aber vergiss nicht, ihn weise zu gebrauchen zu Gottes Ehre und deines Nebenmenschen Nutzen, dann wird dein Glück auf Erden standhalten für Kind und Kindeskind. Ich scheide jetzt von dannen, denn meine Zeit ist um. Ich bin nunmehr vom Fluch erlöst«.

Damit war sie hinweg. Er schaute sich die Augen nach ihr aus, aber sah sie nie wieder. Die Worte der Jungfrau aber schlug er nicht in den Wind. Was er gelobt hatte, das hielt er. Er wurde ein rechtschaffener Mann, dem es wohl ging auf allen Lebenswegen bis zu seinem sanften und späten Tod.