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Der Wolfmensch Dritter Teil – Kapitel 4

Elie Berthet
Der Wolfmensch
oder: Die Bestie des Gévaudan
Aus dem Französischen von A. Kretzschmar
Hartleben’s Verlags-Exedition. Pest, Wien und Leipzig, 1858.

Dritter Teil

Das Kapitel

Das Zimmer des Abtes von Frontenac war ein düsteres Gemach, mit Kastanienholz getäfelt und mit Schnitzwerk und Gemälden geziert, welche Gegenstände aus dem Leben der Heiligen darstellten. Die tiefen mit gemaltem Glas versehenen Fenster warfen seltsame Färbungen auf die fünf oder sechs alten kahlhäuptigen Mönche, welche den Geheimrat des Klosters bildeten.

Diese Mönche saßen in hölzernen Sesseln um ihren Abt herum, einen ehrwürdigen Greis, dessen Geisteskräfte durch seine körperliche Gebrechlichkeit mit jedem Tag mehr geschwächt wurden. Halb in einem großen Sessel liegend hatte das Haupt der Bruderschaft sich Beine und Füße mit Decken umwickeln lassen. Aus Respekt vor dem vornehmen Besuch aber, der auf so unerwartete Weise in Frontenac angekommen war, hatte er sich schnell sein Priestergewand über seine Krankenkleider werfen lassen. Eine goldene Mitra hatte seine gewöhnliche, weit weniger majestätische Kopfbedeckung ersetzt und er hatte befohlen, daß man seinen Krummstab an die Armlehne seines Sessels binde.

So von den Insignien seiner Würde umgeben, bemühte er sich, eine kalte, ernste Miene anzunehmen, die aber seine innere Unruhe und seine physischen Leiden nicht ganz zu verhehlen vermochte.

Ihm gegenüber, auf einem Sitz, der höher war als der seine, saß wie auf einem Thron der mit einer königlichen Mission an die Abtei von Frontenac beauftragte Bischof. Die schwächliche Gestalt und bleiche Gesichtsfarbe des Monseigneur de Cambis bildeten einen auffallenden Gegensatz zu den furchtbaren Vollmachten, mit welchen er, wie man sagte, bekleidet war. Man hatte ihm ein samtenes Kissen unter die Füße legen müssen, weil diese sonst nicht die Diele berührt haben würden. Sein hageres Gesicht schien mit einer eigentümlichen Beweglichkeit begabt zu sein. Sein Blick war lebhaft und durchbohrend, seine Stimme scharf und kurz, seine Aussprache rasch und gewandt.

Er trug die violette Soutane. Sein nur noch mit wenigen Haaren versehenes Haupt war mit einem einfachen violetten Käppchen bedeckt.

Trotz seines schwächlichen Aussehens aber hatte er etwas Stolzes, was imponierte.

Auf einem Tisch von Eichenholz, welcher so stand, dass er ihn bequem mit der Hand erreichen konnte, lagen Papiere und Pergamente, von welchen mehrere mit großen, wachsernen und bleiernen Siegeln versehen waren.

Als der Prior eintrat, sprach der Bischof zum Kapitel mit gedämpfter Stimme, aber mit außerordentlicher Heftigkeit.

Die Väter und der Abt hörten ihn mit bescheidenem Schweigen, gesenkten Häuptern und die Hände in den weiten Ärmeln ihrer Gewänder verbergend an und schienen ebenso vielen Statuen zu gleichen.

Beim Anblick des Pater Bonaventura aber, der Weisheit und Kraft des Klosters, gewannen die Statuen wieder Leben. Alle richteten sich auf und schienen freier zu atmen. Ein Blitz der Hoffnung erleuchtete die strengen Züge.

Der Abt besonders schien von einer ungeheuren Last befreit zu werden. Er hob die Hände zum Himmel empor und sagte mit Lebhaftigkeit zum Bischof: »Verzeiht, Monseigneur! Hier kommt endlich unser würdiger Pater Prior, welcher alle Fragen Ew. Eminenz besser beantworten können wird, als wir.« Sich zu Bonaventura wendend setzte er hinzu: »Ach, lieber Bruder, in welche Verlegenheiten habt Ihr mich gebracht! Gott stehe mir bei! Die Kraft verlässt mich!«

Er fuhr mit dem Taschentuch über seine von kaltem Schweiß benetzte Stirn.

Der Bischof von Aleppo hatte geschwiegen und betrachtete mit neugierig forschendem Blick den Prior von Frontenac.

Dieser geriet durchaus nicht in Aufregung, als er diesen auf sich gehefteten forschenden Blick fühlte. Er benetzte ruhig seine Finger in dem neben der Tür angebrachten Weihkessel, machte das Zeichen des Kreuzes, verneigte sich tief vor dem Abt und kniete dann demütig auf das Kissen zu den Füßen des Bischofs nieder.

»Ew. Eminenz«, sagte er, »geruhe mir Ihren Segen zu erteilen.«

Es lag hierin nichts, was nicht mit dem damals in der kirchlichen Hierarchie gebräuchlich gewesenen Zeremonien übereingestimmt hätte. Dennoch aber beugte sich der Bischof lebhaft zurück.

»Wartet einen Augenblick, Vater Prior«, sagte er kurz, »wir werden bald sehen, ob ich darf. Erhebt Euch und nehmt Platz. Ihr habt uns lange warten lassen.«

Bonaventura erhob sich, verneigte sich abermals und nahm dann den neben dem Abt stehenden leeren Sessel ein. Es trat ein Augenblick drohenden Stillschweigens ein.

»Pater Bonaventura, Prior der Abtei von Frontenac«, hob der Bischof von Aleppo wieder an, indem er auf die auf dem Tisch liegenden Schriften zeigte, »ich habe dem Kapitel schon die Vollmachten mitgeteilt, kraft deren ich mich sowohl in geistlicher als in weltlicher Beziehung nach gewissen Ereignissen erkundigen soll, die schon längere Zeit geschehen sind und auf die Erbschaft des verstorbenen Grafen von Varinas Bezug haben. Diese Vollmachten verleihen mir unbeschränkte Autorität in Bezug auf Erörterung der Tatsachen, um welche es sich handelt. Wollt Ihr vielleicht ebenfalls einen Blick auf diese Dokumente werfen?«

Der Prior verließ seinen Platz nicht, sondern antwortete in bescheidenem Ton, dass es ihm durchaus nicht einfiele, Monseigneurs Autorität in Abrede zu stellen. Er würde sich vielmehr für seinen Teil ohne Murren allen Entscheidungen Seiner Eminenz unterwerfen.

Diese Antwort besänftigte den Prälaten ein wenig. »Gut«, entgegnete er. »Ihr, Pater Prior, habt ganz besonders ein Interesse daran, dass man in dieser Angelegenheit die Gerechtigkeitspflege streng aufrechterhalte. Ich darf Euch von jetzt an nicht mehr verhehlen, dass Ihr auf die ernsthafteste Weise angeklagt seid, auf eine Weise welche nicht bloß Euren geheiligten Charakter als Priester, sondern auch Euren Ruf als ehrlicher Mann gefährdet. Man versichert hier allerdings, dass Ihr an dem ungeheuerlichen Verbrechen, dessen Ihr angeklagt werdet, unschuldig seid, und dass ein Wort aus Eurem Mund hinreichen werde, Euch zu rechtfertigen. Möge es Euch gefallen, dieses Wort auszusprechen. Ich werde Euch, so viel wie es bei mir steht, die Mittel zum Beweis Eurer Unschuld erleichtern. Wenn dieser Beweis aber Euch nicht gelingen sollte, so macht Euch darauf gefasst, in mir einen unerbittlichen Richter zu finden.«

Bonaventura verneigte sich abermals. Der gute alte Abt, welcher wieder Mut gefasst hatte, wagte einen Versuch zugunsten seines unverbrüchlichen und schon so lange liebgewonnenen Ratgebers zu machen.

»Monseigneur, « sagte er sanft, »unser vielgeliebter Bruder Prior ist, wie ich Euch wiederhole, unter uns ein Musterbild von Weisheit und Frömmigkeit. Alle unsere hier anwesenden Väter sind Bürgen für seine Unschuld.«

»Das ist wahr, Monseigneur, das ist sehr wahr«, sagten die anderen Mönche ehrerbietig.

»Ruhig, lieben Brüder«, entgegnete der Bischof kurz.

»Der Geist der klösterlichen Solidarität reißt Euch zu sehr hin. Vielleicht sollte ich deshalb ernste Vorwürfe an die ganze Bruderschaft richten. Wenn ein Einziger ein Verbrechen begangen hat, haben dann nicht auch alle anderen Nutzen davon gezogen? Doch es ist Zeit, diese allgemeinen Bemerkungen ruhen zu lassen. Hört mich daher an und wisst, warum ich hierher gesandt wurde, mit der Macht, zu binden und zu lösen, zu belohnen und zu strafen.«

Gleichzeitig begann er den Gegenstand seiner Mission ausführlich auseinanderzusetzen. Da die Tatsachen, um welche es sich handelte, dem Leser bereits bekannt sind, so werden wir uns darauf beschränken, in wenigen Worten zu sagen, auf welche Weise sich das Ungewitter zusammengezogen hatte, welches nun mit einem Mal sich über die Abtei Frontenac und ihren Prior entlud.

Wir wissen, wie die Schrift, welche Fargeot anfänglich an den Pater Bonaventura hatte verkaufen wollen, in die Hände des Barons von Laroche-Boisseau gelangt war. Im Besitz dieses Papieres hatte der Baron versucht, sich seiner zu bedienen, um die Mönche zu bewegen, ihm die Domäne Varinas herauszugeben, deren direkter Erbe er seit dem Tod des letzten Mitgliedes dieser Familie war. Durch den geschickten Rat des älteren Legris unterstützt, setzte er daher eine Eingabe an den König auf, in welcher die gegen die Abtei und ihren Prior geltend zu machenden Tatsachen aufgezählt waren. Diese mit den dazu gehörigen Unterlagen begleitete Eingabe wurde ohne Verzug nach Versailles gesendet.

Laroche-Boisseau hatte trotz der Verachtung, in welche er in seiner Provinz gekommen, bei Hofe immer noch Freunde. Sein Titel als Baron des Gévaudan und Wolfsjägermeister verliehen ihm Ansehen bei gewissen einflussreichen Personen, welche seine Sache mit Eifer in die Hand genommen hatten. Seine Eingabe war daher dem König überreicht und dem Kanzler von Frankreich auf ganz besondere Weise empfohlen worden.

Die Umstände waren für ein Gesuch dieser Art sehr günstig. Der Philosophismus machte fortwährend Fortschritte. Voltaire war eine Macht, die Werke Rousseaus erschütterten schon die alte Welt. Der Herzog von Choiseul, damals Minister, gab viel auf die öffentliche Meinung, welcher er nur erst kürzlich den Jesuitenorden geopfert hatte.

Die in der Eingabe gegen die reiche Abtei Frontenac erhobenen Anklagen schienen die ernsteste Aufmerksamkeit zu verdienen. Man wollte sich ein Ansehen der Unparteilichkeit geben, indem man sich streng gegen die Geistlichkeit wie gegen ihre Feinde zeigte. Nun lag in der Überredung des Grafen von Varinas, ganz besonders aber in dem geheimnisvollen Tod seines Kindes und in der Überlassung seines großen Vermögens an die Bruderschaft viel, was die öffentliche Entrüstung erregen musste. Es kam daher viel darauf an, so schnell wie möglich Gerechtigkeit zu üben, dabei aber auch ein Aufsehen zu vermeiden, welches schlimme Folgen gehabt haben würde.

In dieser Absicht hatte die königliche Regierung beschlossen, heimlich einen mit Vollmachten versehenen Kommissar nach Frontenac zu schicken, um diese schlimme Angelegenheit zu untersuchen und sie ohne Geräusch zu schlichten.

Man hatte zu dieser schwierigen Mission den Herrn von Cambis gewählt, einen leidenschaftlichen und heftigen Mann, dessen Rechtlichkeit aber über allen Zweifel erhaben war.

Der Bischof hatte sich durch seinen Eifer und seine unermüdliche Tätigkeit seiner hohen Mission würdig gezeigt. Er war von Paris aufgebrochen, noch ehe eine Nachricht nach Frontenac hatte gelangen können. Er war Tag und Nacht gereist, ohne weiter haltzumachen, als um seine Vollmachten beim Bischof von Mende vorzuzeigen. Er fiel daher wie ein Donnerschlag auf die Abtei und zwar mit einer umso furchtbareren Autorität, als diese im Dunkeln und ohne Kontrolle geübt werden sollte.

Der Prälat zählte, indem er die mitgebrachten Papiere zur Hand nahm und unter welchen sich die Erklärung der Frau Fargeots ebenso befand, wie die Eingabe des Barons, ausführlich die Beschuldigungen auf, welche gegen die Väter von Frontenac erhoben wurden. Er erinnerte an den früher von Laroche-Boisseau Vater und Sohn als nächsten Verwandten und gesetzlichen Erben des Grafen von Varinas anhängig gemachten Prozess und behauptete, dass die Entscheidung der Richter über die Gültigkeit des Testamentes des verstorbenen Grafen ganz anders ausgefallen wäre, wenn man damals schon die seltsamen Mitteilungen gekannt hätte, welche später zutage gekommen sehen.

»Aber«, fuhr er fort, »diese Erbschaftsangelegenheit ist es nicht zunächst, worauf ich Eure Aufmerksamkeit lenken will, hochwürdige Brüder. Wenn die Bruderschaft aus gewinnsüchtigen Absichten einen kranken Edelmann, dessen Geist geschwächt war, überredet, wenn sie in seiner offenkundigen, von den Baronen von Laroche-Boisseau beinahe eingestandenen Ketzerei eine Entschuldigung zu finden geglaubt hat, um sich eine Erbschaft vermachen zu lassen, so ist das ohne Zweifel ein großes Unrecht, aber es ist wieder gut zu machen. Ich bin ermächtigt, eine Restitution zugunsten des gegenwärtigen Barons von Laroche-Boisseau zu verlangen und ich werde nicht ermangeln, dies zu tun, denn die Gerechtigkeit erstreckt sich über die Ketzer ebenso gut, wie über die Orthodoxen. Was aber das Herz zerreißt, was gleichzeitig Abscheu und Entrüstung erregt, ist, dass ein Priester dieses Hauses mit Grund in Verdacht der Mitschuld an der Ermordung eines armen Knaben steht. Diese furchtbare Anklage muss den Vortritt vor allen anderen haben und sie ist es, meine Brüder, auf welche ich Euch vor allen Dingen beschwöre, zu antworten. Redet ohne Furcht. Nichts von dem, was hier gesprochen wird, soll draußen verlauten und unbedingte Geheimhaltung wird Eure Geständnisse bedecken, aber die Wahrheit muss vollständig zu Tage kommen.«

Der königliche Kommissar schwieg ermüdet durch diese lange Anrede. Zu seinem großen Erstaunen gaben die Zuhörer mehr Traurigkeit als Schrecken zu erkennen. Der Abt selbst zeigte sich trotz seiner Körperleiden nicht niedergeschlagen und sagte, indem er sich mit edler Gebärde aufrichtete: »Im Namen Gottes, der heiligen Jungfrau und aller Heiligen protestiere ich gegen die schlimmen Absichten, die Ärgernisse und die Verbrechen, deren man die Brüderschaft von Frontenac und ganz besonders unseren teuren, verehrten Bruder Prior anklagt. Diese Anklagen sind falsch und verleumderisch und der hochwürdige Prälat, der mich hört, wird einst bedauern, sich zum Echo derselben gemacht zu haben.«

Herr von Cambis runzelte die Stirn.

»Sehr gut, hochwürdigster Abt«, entgegnete er, »aber ich kann mich nicht länger mit einfachen Ableugnungen begnügen. Ich führe Tatsachen an, und durch Tatsachen muss man mir antworten. Bruder Prior Bonaventura«, fuhr er zu diesem gewendet fort, »Ihr habt den schwersten Anteil an der Verantwortlichkeit, welche auf der Abtei lastet. Was habt Ihr zu Eurer Rechtfertigung zu sagen?«

Bonaventura erhob sich mit bescheidener Gebärde. »Monseigneur«, antwortete er unter tiefem Schweigen, »ehe man solche Anklagen gegen ein so altes und berühmtes Haus erhebt, ein Haus, welches so viele eifrige Verteidiger der Religion, so viel Bekenner des Glaubens gebildet, und welches noch heute so viele durch Wissenschaft, Tugend und Frömmigkeit ausgezeichnete Männer zählt, wäre es vielleicht gerecht und dem Geist der Kirche gemäß gewesen, die Aussagen unserer Verleumder erst näher ins Auge zu fassen. Wer sind nun aber nach den Anklageschriften selbst, von welchen Ihr uns soeben Kenntnis gegeben habt, die Personen, welche diese schweren Verleumdungen gegen uns auszusprechen wagen? Ich kann, ohne gegen die Mäßigung zu verstoßen, sie auf folgende Weise charakterisieren: Die Amme des jungen Vicomte, eine schwache, furchtsame Frau, die vielleicht in der Strafbarkeit anderer eine Entschuldigung für ihre eigene Nachlässigkeit suchte; dann der Forsthüter Fargeot, ihr Ehemann, ein Trunkenbold, der mir selbst gegen eine Summe Geldes das Hauptbeweisstück dieser Anklage überlassen wollte und dessen Erbieten ich mit Verachtung zurückgewiesen habe; dann endlich der Baron von Laroche-Boisseau, ein Abtrünniger, ein Wüstling, der, nachdem er sein Geld durch ein wüstes Leben verschwendet, sich für die Niederlage, die er schon bei einem versuchten Streitigmachen der Erbschaft seines Onkels erlitten hatte, hat rächen wollen. Was Jeannot, den ehemaligen Knecht, anbelangt, dessen Aussage in Bezug auf das, was mich betrifft, sehr viel Bedeutung haben könnte, so ist dieser schon seit mehreren Jahren mit jener Monomanie behaftet, welche man die Lykanthropie nennt, und seine Behauptung verdient daher keinen Glauben.«

»Sehr gut«, sagte der Prälat, den Kopf emporwerfend, »ich verstehe Euer Verteidigungssystem. Ihr wollt den hohen Ruf von Weisheit und Frömmigkeit, dessen Ihr Euch erfreut, der Unwürdigkeit Eurer Feinde gegenüberstellen. Aber Leute, die an und für sich wenig achtungswert sind, können dennoch die Wahrheit gesagt haben. Ich erkläre noch einmal, einfache Ableugnungen reichen nicht hin, um ein ganzes Aktenstück von materiellen Beweisen zu vernichten. Was den blödsinnigen Jeannot betrifft, so versichert der ehemalige Oberforsthüter von Mercoire unter der Garantie des Barons von Laroche-Boisseau, dass dieser Mann trotz seiner gegenwärtigen Krankheit lichte Augenblicke hat. Demzufolge haben Herr von Laroche-Boisseau und Fargeot sich auch die Aufgabe gestellt, diesen Unglücklichen aufzusuchen und sich anheischig gemacht, binnen einigen Tagen …«

»Ich kann ihnen einen ermüdenden und vielleicht gefährlichen Schritt ersparen«, entgegnete der Prior mit Ruhe.

»Eure Eminenz hat mich nicht verstanden. Ich habe durchaus nicht die Absicht, gewisse Aussagen in Abrede zu stellen, und um Euch dies zu beweisen, gestehe ich, dass Jeannot die Wahrheit gesagt hat. Alle hier anwesenden Brüder wissen, dass ich in der Tat am Abend des Verschwindens des kleinen Vicomte mich in der Nähe des Schlosses Varinas befand, und zwar mit einer unbekannten Person.«

Monseigneur de Cambis sprang beinahe von seinem Sitz empor.

»Ihr gesteht es!«, rief er. »Wie, unwürdiger Priester, Ihr wagt zu bekennen …«

»Erlaubt, Monseigneur, wir verstehen uns noch nicht. Ja, ich befand mich zur Zeit der Katastrophe in Varinas, aber ich weise mit aller Kraft meiner Unschuld das Verbrechen zurück, welches man mir vorwirft, wenn nämlich wirklich ein Verbrechen vorliegt.«

»Aber wie erklärt Ihr dann die Sache?«

»Ich erkläre sie nicht, Monseigneur. Ein feierlicher Schwur, den ich geleistet und den alle hier anwesenden Brüder ebenso ausgesprochen haben wie ich, verbietet uns zu sagen, was ich damals in Varinas machte, und dieser Schwur wird uns noch ungefähr zwei Monate lang nötigen, über diesen Punkt das unbedingte Schweigen zu beobachten.«

Der Prälat schien sehr überrascht zu sein. »Ein Schwur? Und der das ganze Kapitel bindet?«, hob er mit ungläubigem Lächeln wieder an. »Dies ist eine seltsame Entschuldigung und Ihr werdet mir erlauben, hochwürdige Brüder, sie kaum zulässig zu finden.«

»Und dennoch«, sagte der Abt, »hat unser würdiger Prior niemals gelogen.«

» Auf alle Fälle kann ich Euch kraft der geistlichen Vollmacht, mit der ich bekleidet bin, Eures Schwures entbinden.«

»Mit Eurer Erlaubnis, Monseigneur, nur der Heilige Vater kann einen Schwur annullieren und Ihr seid nicht mit einem Breve von Sr. Heiligkeit versehen.«

»Wohlan, ich werde an den römischen Hof schreiben, um dieses Breve zu erlangen, und dann werdet Ihr keinen Vorwand mehr haben, noch länger zu schweigen.«

»Das ist wahr, Monseigneur, aber Rom ist weit von hier und die Bulle Sr. Heiligkeit könnte nicht wohl eher als in zwei Monaten in Frontenac eintreffen. Nun aber wird sich in zwei Monaten ohnehin nichts dem Bekanntwerden unseres Geheimnisses entgegenstellen.«

» Wie, meine Brüder, ich sollte also ganz ruhig zwei Monate warten, bis es Euch beliebt, Euch zu rechtfertigen? Aber es gibt noch ein anderes Mittel, um Euch zum Sprechen zu bewegen. Ich bin Priester wie Ihr, und ebenso wie Ihr habe ich Seelen in meiner Obhut. Deshalb fordere ich Euch auf, mir unter dem Siegel der Beichte die Ereignisse zu offenbaren, von welchen Ihr Kenntnis habt.«

Dieser Vorschlag machte einen gewissen Eindruck auf die Mitglieder des Kapitels. Sie wendeten die Augen zum Prior, welcher allein kein Zögern oder Schwanken verriet und in festem Ton sagte: »Auch dieser Fall ist vorgesehen worden, meine hochwürdigen Bruder. Erinnert Euch der genauen Bedingungen, welche uns aufgelegt worden sind. Was mich betrifft, so weigere ich mich, selbst unter dem Siegel der Beichte ein Geheimnis zu verraten, welches mir bei meiner Ehre als ehrlicher Mann, bei meinem Glauben als Diener des Altars anvertraut worden ist.«

»Und wir ebenfalls! Und wir ebenfalls!«, wiederholten die anderen Mönche.

Dieser hartnäckige Widerstand, dieses unbedingte Vertrauen auf den Prior steigerten die Unzufriedenheit des Herrn von Cambis aufs Höchste. Er erhob sich. Trotz seiner kleinen Gestalt lag auf seinem Gesicht ein solcher Ausdruck von Verachtung, Entrüstung und Drohung, dass alle Anwesenden davor erzitterten.

»Kein Zweifel mehr«, hob er mit verhaltenem Zorn an, »es ist dies eine Verabredung, um die Befehle der geistlichen und weltlichen Autorität zu umgehen. Es ist eine offene Empörung gegen alles, was auf Erden und im Himmel heilig ist. Es ist eine List, um der verdienten Züchtigung zu entrinnen! Wenn ich Euch, meine Brüder, die Frist bewillige, welche Ihr verlangt, wer weiß, welche Machinationen Ihr noch erfinden würdet, um meine Gerechtigkeit zu täuschen! Ihr unterliegt einem schlimmen Einfluss, und dieser Einfluss ist der eines kecken und schlauen Mönches, welcher hier den Herrn spielt. Aber ich werde seinen Stolz herabzustimmen wissen! Also, meine hochwürdigen Brüder, jetzt ist noch Zeit. Wollt Ihr meine Fragen beantworten? Wollt Ihr Euch endlich den Versuchungen dieses Geistes des Bösen entziehen, welcher Euch zur Empörung auffordert?«

Die Mönche saßen bestürzt und zitternd da, aber sie schwiegen.

»Monseigneur«, sagte der alte Abt in schmerzlichem Ton, »das, was Ihr für Empörung und Widerspenstigkeit haltet, ist weiter nichts als das Bewusstsein einer großen Pflicht. Noch einmal sage ich: An dem Tag, wo die Wahrheit Euch bekannt werden wird, werdet Ihr Eure Strenge und Übereilung bitter bereuen.«

»Es ist genug, hochwürdiger Vater! Ich werde dafür dem obersten Richter Rede stehen.«

»Wohlan, da das ganze Kloster gesündigt hat, so wird auch das ganze Kloster die Strafe und Buße teilen. Ich bleibe hier, bis es mir gelungen sein wird, Eure widersinnige Hartnäckigkeit zu zähmen. Ich werde eine Eurer Zellen bewohnen und die Kost und Verpflegung des letzten Eurer Laienbrüder wird mir genügen. Ich übernehme von diesem Augenblick an die Regierung dieses Klosters, welches ich der mir erteilten Vollmacht gemäß mit dem Interdikt belege. Alle Funktionen sind suspendiert. Es gibt jetzt hier weder Abt noch Prior noch Würdenträger irgendwelcher Art, sondern nur unwürdige Mönche, die sich im Zustand der Rebellion gegen ihren Gott und gegen ihren König befinden. Die Glocken der Abtei werden nicht mehr läuten. Die Lampe des Heiligtums wird ausgelöscht werden. Man wird in der entweihten Kirche nicht mehr das Hochamt begehen. Man wird jeden Tag fasten. Die Kost wird bloß aus Brot und in Wasser gekochten Gemüse bestehen. Die Bruderschaft darf sich nicht mehr versammeln und niemand ohne ausdrückliche Erlaubnis die Schwelle des Klosters überschreiten. Dreimal täglich werden die Professe und die Novizen die Bußpsalmen beten. Dieser Zustand der Dinge wird so lange dauern, als man mir nicht auf meine Fragen hinsichtlich der Erbschaft des Grafen von Varinas und der Ermordung des Knaben geantwortet hat. Wer diese Vorschriften übertritt, wird mit der Exkommunikation belegt, mag er sein, wer er wolle.«

Von allen Seiten brach man in Tränen und Schluchzen aus. Bonaventura warf sich in größter Aufregung dem Bischof zu Füßen.

»O Monseigneur, Monseigneur!«, rief er, »ich beschwöre Euch, begegnet nicht mit dieser Strenge einem heiligen Haus, wo das Gesetz Gottes und das der Menschen niemals aufgehört hat, respektiert zu werden. Wenn es einen Schuldigen gäbe, so wäre ich dieser, ich allein, der ich mit den weltlichen Interessen dieser Abtei beauftragt bin.«

»Ihr gesteht es also abermals? Wohl an, habt den Mut, Eure Ungerechtigkeiten vollständig zu gestehen und meine Gerechtigkeit wird Eure ohne Zweifel mehr irregeleiteten als strafbaren Brüder verschonen, um auf Euch allein zu fallen.«

»Aber gehorchen wäre eine Lästerung. Es gibt teure und heilige Interessen, welche mir kostbarer sind als das Leben. Ich schwöre es Euch, Monseigneur, ich schwöre es bei meinem ewigen Seelenheil!«

»Ihr wagt von Eurem Seelenheil zu sprechen, widerspenstiger Levit! Wenn ich nur meinem gerechten Zorn Gehör gäbe, so würde ich Euch augenblicklich Eurer Priesterwürde entkleiden und Euch dem Arm der weltlichen Gerechtigkeit überantworten. Wenn aber auch die Furcht vor öffentlichem Ärgernis mich abhält, zu diesem äußersten Mittel zu schreiten, so glaubt deswegen doch nicht, dass ich Euch eine weniger harte Züchtigung vorbehalte. An dem Tag, wo Euer Verbrechen definitiv bewiesen sein wird, wird man Euch in einen Kerker werfen, wo Ihr das Licht des Himmels niemals wiedersehen werdet. Mittlerweile zieht Euch in Eure Zelle zurück. Ihr werdet darin bei Wasser und Brot verharren. Ihr werdet mit niemanden verkehren und die Schlüssel werden mir allein übergeben werden. Jeder, der ohne meine ausdrückliche Erlaubnis mit Euch spricht, wird sofort exkommuniziert.«

Dieser entsetzliche Urteilsspruch wurde mit verdoppeltem Schluchzen aufgenommen.

Bonaventura aber, welcher so tiefen Schmerz empfunden hatte, als es sich um eine der ganzen Bruderschaft aufgelegte Züchtigung handelte, zeigte sich erfüllt von Resignation, als es sich nur noch um ihn selbst handelte.

»Monseigneur«, sagte er indem er die Arme über der Brust kreuzte, »wir gehorchen vielleicht beide unserer Pflicht. Gott verzeihe Euch und erleuchte Euch! Ich unterwerfe mich ohne Murren der Buße, welche es Euch beliebt hat, mir aufzulegen.«

»Und wir ebenfalls, Monseigneur«, wiederholten die Mitglieder des Kapitels einer nach dem anderen mit Demut.

Der königliche Kommissar schien endlich doch einen Zweifel an der Strafbarkeit dieser armen Mönche zu fassen. Er war ein strenger Richter, aber seine Frömmigkeit war aufrichtig und tief. Er ging mit nachdenklicher Miene zwei- oder dreimal im Zimmer auf und ab, dann kniete er schweigend vor einem elfenbeinernen Kruzifix nieder, welches die eine Seite der Wand schmückte.

Nachdem er einige Minuten lang gebetet hatte, erhob er sich wieder und sagte zu den Mönchen, welche wieder ihre schweigende gesammelte Haltung angenommen hatten: »Entschuldigt mich, meine Brüder. Ich habe durch Übermaß von Eifer und menschlicher Anmaßung gesündigt. Ich habe in dieser Sache nicht die Geduld und Mäßigung gezeigt, welche Ihr von einem Richter erwarten musstet. Meine Brüder, ich will die Wirkung meiner Drohungen von diesem Augenblick an gerechnet eine Stunde lang suspendieren. Vielleicht wird Gott in dieser Zwischenzeit Euch Reue und Vertrauen einflößen. Wenn aber Eure Herzen verstockt bleiben sollten, dann würdet Ihr die Folgen Eurer Hartnäckigkeit nur Euch selbst zuzuschreiben haben. Beratet Euch daher mit Ruhe. Ich will in einer benachbarten Zelle das Resultat Eurer Beratungen erwarten und nach Ablauf der Stunde wiederkommen, um Eure Antwort zu hören. Frieden sei mit Euch, meine hochwürdigen Brüder!«

Er entfernte sich mit gemessenem Schritt und überließ es den Mönchen, sich ihre Befürchtungen und ihre Pläne mitzuteilen.

Die Wehklagen dauerten nach seinem Weggang fort, aber kein Zweifel, keine Ungewissheit gab sich über den zu befolgenden Entschluss kund. Die Mitglieder des Kapitels waren einstimmig der Ansicht, dass es besser sei, Demütigungen und Strenge über sich ergehen zu lassen, als ein ihrem Gewissen anvertrautes Geheimnis zu verraten. Bonaventura bestärkte sie durch einige gut gewählte Worte in diesem Vorsatz.

»Meine lieben Brüder«, sagte er zu ihnen mit bewegter Stimme, »es wäre uns leicht, das ganze Gerüst von Verleumdungen, welches man gegen uns aufbaut, über den Haufen zu werfen, aber dies könnten wir nicht tun, ohne achtungswerte Bedenklichkeiten zu verletzen. Nehmen wir daher mit Resignation die Prüfung hin, welche der Himmel uns sendet. Wir werden um so stärker und reiner daraus hervorgehen. Hüten wir uns indessen die Hand zu tadeln, welche uns schlägt. Selbst die treuesten Diener Gottes sind Irrtümern unterworfen! An dem Tag – und dieser Tag ist nicht mehr fern – wo unsere Unschuld an den Tag kommen wird, werden wir uns in unserer ganzen Kraft und Würde wieder erheben.«

Alle Mönche umarmten einander. Dann schien Bonaventura sich anzuschicken, das Kapitel zu verlassen.

»Aber Bruder Prior«, rief der alte Abt unruhig, »wollt Ihr uns denn schon wieder verlassen? Monseigneur de Cambis wird bald zurückkommen und ich fühle mich zu schwach, die Wucht seines Zornes zu ertragen.«

»Ich werde nur einen Augenblick lang abwesend sein«, entgegnete Bonaventura. »Ich will die kurze Frist, die man uns gestattet, benutzen, um einen Plan auszuführen, dessen Aufschub später auf große Schwierigkeiten stoßen könnte.«

Er sagte dem Superior leise, um was es sich handelte.

»Gut, gut, lieber Prior; Ihr habt immer recht«, antwortete der Abt. »Geht denn und kommt so schnell wie möglich wieder, um uns die Unterstützung Eurer Klugheit und Eures Mutes zu leihen.«

Der Prior verneigte sich und ging.

Er durchschritt rasch die schweigenden Korridore, die Kreuzgänge, die Höfe und lenkte seine Schritte zum Pavillon der Gäste.

Alles war ruhig auf seinem Weg. Das Kloster hatte noch sein gewohntes Ansehen: Kein Zeichen verriet noch die Vollstreckung des vom Bischof über die unglückliche Abtei ausgesprochenen Urteils. Die Tore standen offen, jeder konnte frei ein- und ausgehen. Bonaventura glaubte bloß zu bemerken, dass die Väter und Brüder, welche an ihm vorübergingen, indem sie den gewöhnlichen Gruß an ihn richteten, eine traurige, niedergeschlagene Miene zeigten, als ob sie die grausame Veränderung, welche im Anzug war, geahnt hätten.

Leonce packte in seinem kleinen Zimmer eben vollends die Waffen und andere Sachen ein, die er mitzunehmen gedachte.

Beim Anblick des Priors eilte er diesem entgegen und sagte in unruhigem Ton: »Wie, mein Onkel, kommt Ihr vielleicht, um mir Gegenbefehl zu bringen?«

»Im Gegenteil, mein Sohn«, sagte Bonaventura, »nachdem ich mir alles reichlich überlegt habe, will ich deinen Wünschen nicht länger hinderlich sein. Wie du selbst sagtest: Die Zeit vergeht und du könntest die günstige Gelegenheit verfehlen, dein Unternehmen durchzuführen. Ich beurlaube dich daher. Empfange mein Lebewohl. Du wirst diesen Augenblick noch aufbrechen.«

»Noch diesen Augenblick, mein Onkel?«, rief Leonce mit Erstaunen.

»Warum nicht? Du wirst diesen Abend mit deinen Leuten in Mende übernachten und dich morgen möglichst früh zu den Gebirgen bes Mézenc auf den Weg machen. Auf diese Weise gewinnst du einen Tag und darauf kann bei einer solchen Sache alles ankommen. Meine Freunde, « fuhr er zu Denis und Gervais gewendet fort, welche die Mantelsäcke zuschnallten, »ladet sofort diese Sachen auf die Pferde und auf das Saumtier, welche meinem Neffen gehören. Geht und seht zu, dass in zehn Minuten alles bereit sei.«

Der Piqueur und Gervais gehorchten.

Als sie sich entfernt hatten, fragte Leonce lebhaft: »Mein guter Onkel, was geht denn vor? Euer schneller Entschluss, diese Eile, mich aufbrechen zu sehen, während Ihr noch diesen Morgen so großen Widerwillen gegen diese Reise zu empfinden schienet, bringen mich auf allerhand Gedanken. Übrigens seid Ihr auch bleich, Eure Wangen zeigen die Spuren von Tränen. Was ist Euch begegnet?«

»Mein Sohn, du hast doch wohl selbst nicht erwartet, dass unsere Trennung ohne lebhaftes Bedauern von meiner Seite erfolgen könnte. Doch lassen wir das, mein lieber Leonce, und höre meine Ratschläge, ohne Zweifel die letzten, welche du auf lange Zeit hinaus von mir erhalten wirst.«

Er erteilte seinem Neffen in wenig Worten weise Instruktionen, welchen der junge Mann nachzukommen versprach.

Dann fuhr er mit innerer Bewegung fort: »Und nun, mein Sohn, noch eine Empfehlung, die wichtiger ist, wie du glauben wirst. Schon oft habe ich dich gegen gewisse Verleumdungen zu waffnen gesucht, welche mächtige Feinde gegen die Väter von Frontenac, namentlich gegen mich selbst, auszustreuen bemüht sind. Verschließe, ich beschwöre dich, diesen verabscheuungswürdigen Lügen stets dein Ohr. Und wenn auch die ganze Welt sich gegen uns erheben sollte, so lass mich hoffen, dass du uns in deinem Herzen die Gesinnungen der Achtung und Dankbarkeit treulich bewahren werdest.«

»Könnt Ihr daran zweifeln, mein Onkel?«, unterbrach ihn Leonce mit Wärme. » Wenn jemand die Keckheit hätte, in meiner Gegenwart zu behaupten …«

»Versuche nicht diese niedrigen Verleumdungen zu bekämpfen, mein Sohn. Sie werden bald von selbst zu Boden fallen. Es genügt mir zu wissen, dass du ihnen keinen Glauben beimessen wirst. Es könnte sein, dass du auf deinen abenteuerlichen Zügen mit dem Baron von Laroche-Boisseau zusammenträfest. Für diesen Fall verlange ich von meinem jungen Verwandten, von meinem geliebten Schüler das feierliche Versprechen, dass er sich unter keinem Vorwand mit dem Baron in einen Zwist einlassen will. Wirst du mir dieses Versprechen geben?«

»Ich sehe nicht ein, mein Onkel, warum ich schonend gegen diesen unwürdigen Mann verfahren soll, der Fräulein von Barjac so schwer beleidigt und auch Euch selbst beschimpft hat.«

»Fräulein von Barjac hat sich selbst gerächt und ich, ich bin Christ und weiß zu verzeihen. Ich habe wichtige Gründe, mein Sohn, dieses Versprechen von dir zu verlangen. Lieber Leonce, wirst du dich weigern, mir es zu geben?«

Leonce gab das verlangte Versprechen, aber mit sichtbarem Widerstreben. Dann umarmten der Onkel und der Neffe einander herzlich. Beiden standen die Tränen in den Augen.

»Wohlan, es ist Zeit!«, hob der Mönch mutig wieder an. »Ich werde dein Lebewohl denen von unseren Brüdern überbringen, deren Zögling und Freund du ganz besonders bist. Sie werden diese unvermutete Abreise entschuldigen. Aber es bleiben uns kaum noch einige Minuten …«

»Während er dies sagte, zog er seinen Neffen zum Hof fort.

»Aber, mein Onkel«, sagte Leonce, »sollte denn meine Abreise aus dieser Abtei, die für mich das Vaterhaus gewesen ist, den Anschein einer verstohlenen Entfernung, gleichsam einer Flucht haben?«

»Das werde ich dir später erklären, aber man erwartet mich – komm, komm!«

An der Türe des Klosters fanden sie Denis und Gervais, welche sich dazugehalten hatten. Die beiden Handpferde waren schon gesattelt, der Maulesel war mit Gepäck beladen und der Piqueur hielt den Spürhund und den Bullenbeißer an der Leine, während die beiden Tiere leise knurrten, sich so nahe nebeneinander zu sehen.

Bonaventura empfahl seinen Neffen auf das Eindringlichste den beiden Dienern und versprach ihnen die freigebigste Belohnung, wenn sie ihn gesund und wohlbehalten wieder zurückbrächten.

Die wackeren Leute erneuerten ihr Versprechen, ihren jungen Herrn mit ihrem eigenen Leben zu verteidigen.

Dann brachen sie gleich auf, denn Leonce, der besser beritten war, konnte nicht verfehlen, sie bald einzuholen.

Als Onkel und Neffe allein waren, umarmten sie sich nochmals und Leonce schwang sich in den Sattel.

»Gott segne dich, mein Sohn«, sagte der Prior, »er beschütze dich vor Gefahren und lasse dein Unternehmen gelingen. Besonders führe er dich bald wieder in den Kreis deiner Freunde zurück!«

Der Jüngling ritt langsam fort, nicht ohne sich noch vielmals umzuschauen. Der Mönch kehrte weinend in die Abtei zurück, indem er murmelte: »Mein Schicksal möge sich erfüllen. Nun ist wenigstens ein großer Kummer vermieden. Es wäre mir zu peinlich gewesen, diesen edlen Jüngling zum Zeugen meiner Demütigung zu haben. Übrigens hätte er durch einen unklugen Schritt alles gefährden können. Ach, er wird niemals erfahren, wie teuer mir seine Erhebung zu stehen gekommen ist.«

Er eilte zum Zimmer des Abtes, wo er nur wenige Minuten vor Ablauf der von dem Bischof festgesetzten Stunde ankam.