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Der Welt-Detektiv Band 6

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Die Chroniken von Waldsee 6: Hatar Stygan – Der Dunkle Hass

Es ist schon etwas Zeit vonnöten, um in der Vielzahl veröffentlichter Fantasystorys diejenigen herauszufiltern, welche sich nicht an Vorlagen von Terry Pratchett, J. R. R. Tolkien oder Georg R. R. Martin orientieren, sondern sich dadurch auszeichnen, dass innovative Gedanken zu Papier gebracht werden und dem Leser ein handwerklich geschickt und spannend ungesetztes Werk offeriert wird. Zu diesen gehört, aus meiner bescheidenen Perspektive betrachtet, die Waldsee-Chroniken von Uschi Zietsch, von denen nun bereits 6 Bände vorliegen.

Die Autorin lässt nichts dem Zufall überlassen, alles ist klug durchdacht, Pro- und Antagonisten erhalten von ihr genügend Raum und Zeit, um sich zu entwickeln, sodass die Chroniken sowohl einzeln als auch im Zusammenhang betrachtet, zu keiner Zeit aufgesetzt oder übertrieben wirken.

Taucht in die Welt von Waldsee ein und begebt euch wieder auf eine phantastische Reise.

Das Buch

Uschi Zietsch
Die Chroniken von Waldsee 6
Hatar Stygan – Der Dunkle Hass

Fantasy, Hardcover, Fabylon-Verlag, Markt Rettenbach, Januar 2019, 364 Seiten, 22,50 €, ISBN 9783943570830, farbige Illustrationen, Lesebändchen, Schutzumschlag

Synopsis:
Eine geheimnisvolle finstere Macht breitet sich in dem sagenhaften goldenen Reich Ishgalad aus.

Niemand weiß, woher der Eroberer Hatar Stygan kommt. Manche flüstern, er sei ein grauenvolles Monster. Sein oberster Scherge Hagan Tar verwüstet in seinem Namen das schutzlose Land, raubt, foltert und mordet.

Unter vielen Opfern gelingt es, einen Hilferuf an den Zauberer Halrid Falkon zu senden. Zusammen mit seinem Drachen Fylang eilt er nach Ishgalad – doch er kommt zu spät.

Die Schutzsphäre von Waldsee zerbricht. Der Siebenstern erlischt. Hatar Stygan setzt alles daran, die Welt zu einer Bastion der Finsternis zu machen.

Halrid Falkon unterliegt im Kampf und verliert seine Macht. Seine düstere Vergangenheit holt ihn ein …

Das furiose Finale der großen Saga um die Chroniken von Waldsee!

Die Autorin

Uschi Zietsch wurde 1961 in München geboren. Sie ist verheiratet und lebt seit Jahren als Schriftstellerin und Verlegerin mit ihrem Mann und den Tieren auf einem kleinen Hof im bayerischen Allgäu. Außerdem gibt sie Schreibseminare.

Ihre erste Veröffentlichung war 1986 der Fantasy-Roman »Sternwolke und Eiszauber« im Heyne-Verlag. Darauf folgten bis heute kontinuierlich über zweihundert Veröffentlichungen in den Bereichen der Science-Fiction, Fantasy, Kinderbücher, TV-Serien und vielen mehr. Unter dem Künstlernamen »Susan Schwartz« schrieb und schreibt sie jahrelang als Teamautorin bei »Perry Rhodan« und anderen Heftserien mit. Für die exklusiv bei BS-Editionen (Bertelsmann) erschienenen sehr erfolgreichen und beliebten Urban-Fantasy-Serien »Elfenzeit« und »Schattenlord« zeichnete sie für das gesamte Konzept und die Exposés verantwortlich und schrieb die meisten Romane.

Uschi Zietsch erhielt diverse Literaturpreise.

Leseprobe

Prolog

Sturmbringer

Der Sturm zwang sie, umzukehren.

»Habt ihr schon jemals ein solches Unwetter erlebt?«, fragte die Frau ihre Begleiter. Sie waren magische Wesen und sollten nicht durch ein Naturereignis aufgehalten werden können.

»Ja«, antwortete der Mann. »Einmal. Vor sehr, sehr langer Zeit. Meine Erinnerung daran wurde erst viel später geweckt.«

»Was war es für ein Tag?«

»Der meiner Geburt.«

Der Zauberer nickte bestätigend, als seine Frau ihn daraufhin verwundert ansah. »Das Stampfen des Goldenen Widders dröhnte durch die Sphären bis herab zur Welt, denn Ungeheuerliches war mit meiner Geburt geschehen, und das Ringen der Mächte drohte, die Insel Erytrien zu zerreißen. Doch der Sturm verging zuletzt. Ich war unerreichbar, meine Seele verborgen. Der Wind konnte sie nicht finden und fortreißen.«

Die Frau blickte zum Himmel hoch, über den turmhohe schwarze Wolkenwellen rasten und sich tosend an den Sphären brachen. Sie konzentrierte sich.

»Aber das bedeutet mehr … Es ist ein prophetischer Sturm, nicht wahr?«, flüsterte sie. »Er ist nicht von dieser Welt, nicht von diesen Sphären, und nicht von den Göttern verursacht.«

»Prophetisch? Nein. Das ist eine bereits bestehende Gefahr. Aber … kannst du spüren, was ihn verursacht?« Der Zauberer zeigte sich zutiefst besorgt.

»Ja … es drängt sich auf …« Die Allumfassende schloss halb die Augen. »Seht!«, rief sie und deutete nach oben. »Der Siebenstern flackert! Wie kann das …« Sie strauchelte und ihr Ehemann fing sie auf. Legte den Arm schützend um ihre schmalen Schultern.

»Also wird es geschehen«, sagte er leise. »Diesen Tag haben wir lange gefürchtet! Und so verzweifelt gehofft, er möge nie kommen …«

»Alles vergebens«, dröhnte die Stimme des Drachen. »Ich hatte euch gewarnt, aber keiner wollte auf mich hören!«

»Und was hätte es geändert, wenn wir auf dich gehört hätten?«, fauchte der Zauberer ihn an.

»Nichts, aber ich wollte es wenigstens gesagt haben.«

Die Schutzaura, die sie um sich gewoben hatten, begann an den Rändern zu zerfasern.

Das erschreckte sie alle drei gleichermaßen. Sie waren die Hüter der Welt und zusammen sollten sie unüberwindlich sein. So war es zumindest bis jetzt gewesen.

»Wir können nicht weiter«, stellte die Frau fest. »Seht, alles versiegt!« Windfinger griffen durch erste Risse und zausten ihr Haar. Ein spielerischer Vorbote der nahenden Zerstörung.

Der Zauberer bot seine Macht auf, doch er vermochte nicht, die Risse zu schließen. Bald würde sich die Aura vollends auflösen, und dann wären sie den Gewalten schutzlos ausgeliefert. Hier draußen in der Ebene, so nah an der Wüste, gab es keine Bäume, keine Felsen, keine Erdlöcher, um sich verbergen zu können, bis der mächtige Wind weitergezogen war.

»Das ist noch nie geschehen!«, stieß er erschüttert hervor. Er war das mächtigste Wesen der Welt – und scheiterte an einem Sturm?

Bedeutete dies nun das Ende? Sollte es wirklich vorbei sein? Nach all der langen Zeit? Ein einziger Windstoß und … Schluss?

»Wir werden einen Weg finden«, sprach seine Frau in seine Gedanken. »Wir sind nicht allein. Der Sturmbringer schon.«

»Sturmbringer …?«

»Welche Bezeichnung sollte er sonst haben?«

»Wohl wahr.«

Doch seinen wirklichen Namen kannten sie alle. Nur, wer wagte schon, ihn laut auszusprechen?

Der Tag war gekommen, genau wie der Zauberer gesagt hatte. So lange hatten sie seine Ankunft befürchtet. Selbst die Götter. Alles hatten sie unternommen, auf der Welt wie gleichermaßen in den Sphären, um Waldsee zu schützen, die Altehrwürdige, die Große.

Da! Der Siebenstern flackerte erneut. Als ob ein Schatten darüber zöge. Wie war das möglich? Nicht einmal Götter könnten ihn zum Erlöschen bringen!

Bis auf ihn.

»Er ist es, kein Zweifel«, sagte der Drache. »Niemand sonst kommt in Frage.«

»Und er ist sehr viel mächtiger als Nachtfeuer uns gesagt hat«, murmelte der Zauberer.

»Es ist seit der Entstehung des Siebensterns viel Zeit vergangen«, erinnerte die Allumfassende. »Sobald er das Erbe des Schmiedes anzutreten vermag, kann nur noch Erenatar uns beschützen.«

»Der Gott Lýtir ist tot, hier gestorben, durch die Hand des Fyrgars Aldavinur – deines Vaters! Erenatar war damals fern und ist heute fern. Wir werden Waldsee schützen!«, rief ihr Ehemann erbost.

»Halten wir uns nicht mit wilden Spekulationen auf, bald weht es uns davon. Lasst uns zurück zum Freien Haus gehen und dort beratschlagen, was wir unternehmen werden«, schlug der Drache vor und wölbte seine Schwingen schützend über seine Gefährten.

 

*

 

Anderswo und Mondwechsel zuvor.

In dem Moment, als die Farbe des Himmels sich zum ersten Mal änderte, erklang die Stimme in seinem Kopf, und es war nicht seine eigene. Keine der sonstigen vielen inneren Stimmen, die seine besten Ratgeber waren, sondern eine ganz fremde. Von außen. Er brauchte eine Weile, bis er das begriff, und kämpfte zuerst dagegen an, weil er dieses ungebetene Eindringen als äußerst unhöflich empfand. Schließlich aber durchfuhr ihn die Erkenntnis, dass diese Stimme gar nicht der Feind war.

Nun, zumindest nicht der seine.

Also hörte er zu. Lauschte der Stimme zusehends aufmerksamer, je länger sie sprach, und ein Funke entzündete sich tief in seiner schwarzen Seele, je mehr sich ihm offenbarte, und ein wildes, grausames Lächeln verzerrte seine Züge zu jener grauenvollen Fratze, die Albträume gebiert und Ungeschützte in den Wahnsinn treibt.

Worauf er so lange gewartet und gehofft hatte – endlich war es soweit.

»Mein ist die Rache«, flüsterte Hatar Stygan, und ein unheilvolles dunkles Feuer loderte aus seinem glühenden Auge.

 

Kapitel 1

Trinkt dies, meine Brüder und Schwestern

An jenem Tag, der den Untergang einläutete, begleitete Tesfayé zum letzten Mal seinen Meister Yesh zum Wilden Troll in Iskundar. Eine lieb gewordene Gewohnheit, die er sehr vermissen würde. In seiner Annahme sollte er sich nicht täuschen, doch ging er unwissentlich von falschen Voraussetzungen aus.

Tesfayé war zu Beginn der zweiten Stufe seiner Ausbildung nicht sonderlich erbaut darüber gewesen, als man ihn dem Großmagister Yesh als Adepten zuteilte. Die Gerüchteküche über den Gelehrten brodelte im Collegium unermüdlich. Der alte Zausel galt als sinnenfroher Mensch, was nicht von allen Collegas innerhalb der Schule gutgeheißen wurde. Als Großmagister hatte man schließlich ehrwürdig zu sein. »Alles gut und recht«, pflegte Yesh, wenn er deswegen kritisiert wurde, zu sagen. »Und jetzt füllt meinen Krug Wein nach.« Viele, vor allem Jungmagister, machten sich hinter seinem Rücken über Yesh lustig, sobald es nur eine Gelegenheit dazu gab. Er sei zu klein geraten, altersvertrottelt, käme immer zu spät, und außerdem hätten alle seine Adepten nach Abschluss nie ein gutes Angebot bekommen, weil Yeshs Ruf ihnen vorauslief.

Aber dann … hatte Tesfayé einen überaus reizenden, manchmal durchaus schussligen Herrn in seinen guten Neunzigern kennengelernt. Er hatte nach dem ersten Unmut ohnehin bei sich gedacht, dass es seinen Grund haben musste, wenn das Collegium den hutzligen, leicht gebückt dahintrippelnden kleinen Gelehrten immer noch beschäftigte. Gewiss war er der Älteste und sein Wissen umfassend.

»Wie sieht’s aus, mein Junge?«, hatte Yesh seinen neuen Adepten an dessen erstem Morgen begrüßt. »Was hältst du von einem guten Frühstück, um sich kennenzulernen? Die Schule zahlt!«

Selbstverständlich hatte die Schule nicht gezahlt, weil Meister Yesh gar kein Geld dabei gehabt hatte, und anschreiben war nicht möglich: »Bevor ich wieder einen Kredit gebe«, hatte der Wirt verkündet, »will ich erst mal die Außenstände sehen.« Und entrollte eine ziemlich lange Liste, darunter nicht nur eine ordentliche Zeche, sondern auch Spielschulden des verschmitzt grinsenden Gelehrten. Seine Anmerkung dazu: »Mit Frauen hab ich’s nicht mehr so.«

Diese Liste war Tesfayé denn doch zu lang, also hatte er flink die aktuelle Zeche bezahlt.

»Euch privilegierte Schnösel hab ich sowieso gefressen«, brummelte der Wirt, nachdem er überrascht die Münzen in Empfang genommen hatte.

Tesfayé erkannte, dass der Mann es nicht gewohnt war, so viel Geld auf einmal zu erhalten, und nahm es ihm nicht übel, denn er war tatsächlich privilegiert. Mit dem Erbe seiner Eltern hatte er sich das Magie-Collegium finanziert, und da er sehr bescheiden lebte, war durchaus einmal ein solch gutes Frühstück drin. Einschließlich Lehrmeister.

Vor allem, weil es genau der richtige Moment und Ort gewesen war, um seinen Meister kennenzulernen und ihn seitdem rückhaltlos zu schätzen. Ja, bereits nach kurzer Zeit zu lieben wie einen Großvater.

Der Gelehrte Yesh war im alltäglichen Leben kaum zu gebrauchen und benötigte Fürsorge, was ihn umso liebenswürdiger machte. Aber im Fach der Magie – egal, welcher Themenbereich – war er ein unbestrittener Meister. Da machte ihm keiner etwas vor, und schon nach kurzer Zeit war Tesfayé stolz und dankbar, sein Adept sein zu dürfen. Er begriff nun den Hohn der anderen – es war nichts weiter als Neid, und zwar jener von der ganz giftgrünen Sorte, die man treffender als Missgunst bezeichnet. Der Weisenrat, Vorstand des Collegiums, sah in dem neuen Anwärter wohl etwas Besonderes, denn Meister Yesh hatte immer nur einen Adepten im Gegensatz zu den anderen Magistern. Nicht der Ausschuss, sondern im Gegenteil die besonders Begabten, die nicht dem alltäglichen Schema entsprachen, wurden zu ihm geschickt.

Selbstverständlich sprach Tesfayé seinen Meister nie darauf an, der hätte nur mit ungehaltenem Schnauben geantwortet und ihm ein paar schmerzhafte Kopfnüsse mit seinem gichtknotigen Ringfingergelenk verpasst. Und dann gefragt, wovon sein Adept da überhaupt spräche. Anschließend hätte er ihm ein paar unangenehme Aufgaben aufgetragen, wie etwa Putzdienst (und in dem völlig verstaubten, rettungslos überfüllten Raum war das wirklich kein Spaß), oder das Auswendiglernen der 83 Krankheitsflüche aus dem sicar librium samt ekelerregender Begleiterscheinungen, die man auf nüchternen Magen nur deshalb zu ertragen vermochte, weil man nichts von sich geben konnte.

 

*

 

An diesem verhängnisvollen Tag war Tesfayé im vierten Jahr und hatte soeben seine Abschlussarbeit abgegeben. Mit seinem Meister war er so vertraut und verschworen, dass sie inzwischen beide als »verschrobenes Paar« galten. Was Tesfayés Chancen bei den jungen Damen Iskundars nicht gerade erhöhte, denn der Ruf eilt einem immer voraus, und das bis in Kreise, bei denen es man nie für möglich halten würde. Doch das kümmerte ihn nicht. Seine Ausbildung und vor allem der Abschluss waren ihm wichtiger. Und, wie sich herausstellte, anderen und bedeutenden Leuten ebenso, denn er hatte noch vor Veröffentlichung der Note einige Angebote erhalten.

So viel zu den Gerüchten vor seinem Antritt, dass keiner von Yeshs Adepten es jemals zu etwas gebracht hätte. Die Absolventen, und dazu gehörte bald auch Tesfayé, waren lediglich abgereist, ohne darüber zu sprechen, welche formidablen Angebote sie erhalten hatten. In sämtlichen Anschreiben an Tesfayé hatte der ausdrückliche Hinweis der absoluten Diskretion gestanden.

Er konnte es sich aussuchen, welches Angebot er annahm, obwohl seine Note noch nicht feststand und er daher offiziell nicht einmal als »bestanden« galt. Alle gingen kurzerhand davon aus, dass sein Diplom nurmehr eine »Formalie« wäre. Was nicht von der Hand zu weisen war, an und für sich ging es nur darum, ob er mit »explizitem Lob« oder mit »exzellentem Lob« bewertet wurde. Nicht nur die spannende Anstellung an sich – auch die jeweilige Entlohnung machte ihn schwindlig und erschwerte die Entscheidung, denn jedes Angebot klang gleichermaßen gut.

Das erfreute Tesfayé, machte ihn zugleich aber auch traurig. Die lehrreiche Zeit mit Yesh ging endgültig zu Ende. Er hatte schon vorsichtig angefragt, ob er denn nicht als Assistent des mittlerweile sehr gebrechlichen alten Mannes bleiben dürfe. Aber sowohl der Dekan als auch der Gelehrte selbst hatten rundheraus und empört abgelehnt. Das habe es noch nie gegeben und jetzt fange man gar nicht erst damit an!

Nun also, wie es begonnen hatte, sollte es enden. Sie saßen im Wilden Troll, diesmal nicht zum Frühstück, sondern zum kleinen Nachmittagsmahl. Yesh, der in den vergangenen vier Jahren noch mehr zusammengeschrumpelt war, aß inzwischen wie ein Spatz. Seinen Wein allerdings genoss er nach wie vor, der nähme, sagte er, ja auch nicht viel Platz weg im Magen, sondern »liefe so durch«.

»Mein lieber Junge«, sagte er, während er den Pokal hob. Seine Nasenspitze leuchtete in fröhlichem Rot, seine von dichten langen Brauen beschatteten blauen Äuglein blitzten. »Lass dir gesagt sein, du warst mein letzter Adept.«

»Dann lasst mich doch bei Euch bleiben und ich trete Eure Nachfolge an!«, entfuhr es Tesfayé spontan.

»Das wäre eine äußerst dumme Entscheidung von dir«, stellte der Gelehrte fest. »Das Salarium ist mehr als gering. Keine Anerkennung. Keine Familie. Und mich, der ich stets älter und nörgeliger werde. Und nein, meine Position wirst du nicht beerben. Alles ist im Umschwung. Solche wie mich gibt es nicht mehr. Ganz abgesehen davon, dass dir eine glänzende Karriere bevorsteht.«

»Mir?« Tesfayé war verblüfft.

»Denkst du denn, diese Angebote sind ein Scherz? Das ist erst der Anfang.« Yesh beugte sich vor. »Ich habe dich nicht ohne Grund als meinen letzten Schüler erwählt. Die Welt ist im Wandel. Und du wirst deinen Anteil dazu beitragen, dass sie das übersteht.«

»Ich? Wie sollte ich das tun, Meister?«

»Oh, es liegt nicht an deinem besonderen Talent, bilde dir darauf nichts ein. Alle meine Schüler waren so. Aber du bist gerade in dieser Zeit zu mir gekommen, als der einzige Hoffnungsträger unter all den schwachen Leuchten deines Jahrgangs. Im Gegensatz zu ihnen warst du schon damals hoffnungslos langweilig.«

»Oh! Aber …«

»Sie haben die Nächte durchgefeiert, verbotenen Zauber betrieben, um Frau oder Mann flachzulegen, sie haben Streiche gespielt. Du aber hattest deine Nase immer in den Büchern, Tag und Nacht, warst fleißig und anständig und gehorsam. Sag selbst, wer außer dir war noch so?«

Tesfayé schwieg gekränkt.

»Hab ich recht?«

»Ja, sicher.«

»Es liegt also an dir. Du bist die absolute Ausnahme dieses Jahrgangs. Ganz ehrlich, ich beneide dich nicht darum.«

Tesfayé schwieg weiter. Der Alte legte versöhnlich eine Hand auf seinen Arm. »Nun, nun, sieh einem alten Mann seine Grillen nach. So gut solltest du mich kennen.«

»Ich komme gleich wieder«, sagte Tesfayé und stand auf, um auszutreten.

 

*

 

Während er den Raum verließ, verließ Tesfayé zugleich die Wut. Yesh hatte doch völlig recht, er war ein Langweiler. Er hatte keine Freunde, keine Familie, immer nur an das Studium gedacht. Das war sein ganzer Ehrgeiz gewesen. Und daran war nichts Falsches, fand er. Alles der Reihe nach. Mit dem Diplom in der Tasche und der guten Anstellung würde er bald eine fröhliche Frau finden und eine Familie gründen.

Der Lärm in der großen Schankstube wurde von der sich hinter ihm schließenden Tür ausgesperrt. Tesfayé bog in den schmalen Gang nach rechts ab, zum Hinterhaus, in dem die Abtritte angelegt waren. Er begegnete dort niemandem, was ihn ein wenig verwunderte, denn die Gaststube war gut besucht und es wurde ordentlich verzehrt und gezecht. Es war ihm jedoch nur allzu recht und er beeilte sich, damit er nicht gestört wurde.

Auf dem Rückweg warf Tesfayé durch ein geöffnetes kleines Gangfenster einen Blick nach draußen. Ein schöner Tag, wie die meisten in Ishgalad, dem verzauberten Reich. Gerüche vielfältiger Gewürze und Blüten wehten herein, angereichert mit gedämpften Geräuschen vom Markt. Er hatte die Bilder dazu vor Augen – Stände voller Fruchtdolden in Violett und Türkis, prächtige Blumenranken, feinste Seidenstoffe in den Farben des Lichten und Dunklen Regenbogens, zarte Haarbänder, geklöppelte Spitzenwaren, feine Holzschnitzereien, harmonische Musikinstrumente … und dazu erlesene Spezialitäten, Kleinvieh, Vögel …

Da geriet Tesfayé unerwartet ins Schwärmen, was an seiner seltsamen Stimmung liegen mochte. Schließlich war heute ein ganz besonderer Tag. Es war ja nicht so, dass er keinen Sinn für Schönheiten und Genüsse hatte, doch war ihm bis heute das Studium wichtiger als alles andere. Seit dem tragischen frühen Tod seiner Eltern, damals zählte er gerade mal vierzehn Frühlinge, war er mangels weiterer Verwandter auf sich gestellt gewesen. Weil er Ehrgeiz besaß und nicht schon so früh im Leben scheitern wollte, hatte er umgehend Prioritäten gesetzt. Das war eben seine Art: Nicht alles auf einmal und im Überfluss, aus Angst vor dem Scheitern.

Doch wie sah es heute aus? Vielleicht sollte der angehende Magister den restlichen Tag frei nehmen und einfach nur herumschlendern? Sich betören lassen von Gerüchen, Musik und Gelächter, von den Anpreisungen der Händler? Es gab nichts mehr zu lernen, nichts mehr zu tun, sein Studium war beendet und der Abschied nahte. Nicht einmal sein Pflichtbewusstsein könnte ihn jetzt noch daran hindern, spontan zu sein, die Nase aus den Büchern und Schriftrollen zu nehmen und ins Leben dort draußen einzutauchen. Eine Kleinigkeit aus einer Garküche am Markt zu sich zu nehmen und anschließend etwas Süßes – oh, dafür hatte er wirklich eine Schwäche. Die Zuckerbäcker Iskundars waren die berühmtesten des gesamten Reiches, ihre Kreationen unerreicht.

Ich habe es mir verdient, jawohl, das habe ich. Und Meister Yesh hat selbst gesagt, dass es Zeit wird, ans Leben zu denken. Er wünscht meine Betreuung nicht, also kann ich auch gleich …

Aber nein, so sehr wollte er den alten Mann nicht vor den Kopf stoßen. Schon tat es ihm wieder leid. Vielleicht wollte er sogar mit auf den Markt gehen? Oder … er ahnte es bereits und machte den Vorschlag, dass Tesfayé einen ausgedehnten Spaziergang ohne Verpflichtungen und mit freiem Kopf unternähme, während Yesh sein Nachmittagsnickerchen hielt.

Eine gute Idee! Hinfort mit dem Langweiler, dem Bücherlindling, der Pergamentlaus. So frei wie heute würde er nie wieder sein, in diesem Zwischenstadium des Abschlusses und des Neuanfangs in einer festen Anstellung und auf der Suche nach einer guten Frau zwecks Familiengründung.

Da würden seine Mitstudenten aber staunen, wenn sie das wüssten! Kein Auslachen mehr und Sich-lustig-machen, keine Häme, kein Spott. Kein Neid … oder doch, der vielleicht schon. Nämlich, weil er der Beste des Jahrgangs sein würde, mit Auszeichnung, und schon in ein paar Tagen aufbrach. Wohin, das würden sie natürlich nicht erfahren, doch er konnte immerhin geheimnisvoll tun und Andeutungen machen, dass man ihm nicht weniger als vier Stellen angeboten habe. Würden sie ihm das glauben? Aber ja: Tesfayé war reichlich ungeschickt im Lügen, selbst schon im Schwindeln. Zu harmlos für diese Welt, hatte sogar Meister Yesh hin und wieder kopfschüttelnd bemerkt.

Heute zeige ich es ihnen allen!

Heiter, fast schwindlig von seinem Enthusiasmus und der neu entdeckten Spontanität, öffnete Tesfayé die Tür zur Gaststube – und verharrte abrupt.

Veröffentlichung der Leseprobe mit freundlicher Genehmigung des Verlages